Zu viel

In Zeiten von Stress kann es helfen, sich in eskapistischer Manier in andere Welten oder Realitäten zu flüchten und die Gegenwart einfach ein paar Minuten zu ignorieren. Und wenn noch eine Deadline dazu kommt, ist es besonders verführerisch, Immobilienanzeigen in Atlanta oder Boston zu studieren, weil die Küchen oder begehbaren Schränke da so staunenswert sind. Und man sich der Illusion hingeben kann: wenn ich erst so einen Schrank mit Schuhregalen hätte, hätte ich viel weniger Druck im Leben.

Doch wie skurril ist es, wenn die bejammerte Gegenwart nicht aus Krieg, Flucht oder echter Existenzsangst besteht, sondern aus viel Klavierüben, Eintauchen ins Berlin der 1830er Jahre, Kostümrecherchen und morgendlichen Emily Dickinson-Gedichten? Zum Beispiel der Montag vor zwei Wochen: ich fing um 7 Uhr an, für neunzig Minuten zu üben, leise auf dem E-Piano wegen der Nachbarn, und ab halb zehn noch mal auf dem echten Klavier. Dann fuhr ich nach Erding zum Unterricht, der nahtlos in die erste Gesamtprobe unseres Fanny Hensel-Theaterstücks überging. Ich holte die letzten Requisiten aus dem Fundus, suchte passende Schuhe für die Mädchen, versuchte, mit Sicherheitsnadeln und ein paar schnellen Stichen die wunderhübschen Kleider, die wir für Fanny und Clara Schumann bestellt haben, passend zu machen, und sprach mit der Technik das Licht ab. Während der Probe ersetzte ich die abwesenden Klavierspielerinnen und tanzte in der Tanzszene Walzer mit meiner genialen Kollegin (ohne sie wäre ich aufgeschmissen). So einen abwechslungsreichen Tag anstrengend zu finden, ist Klagen auf allerhöchstem Niveau. Ich denke, viele Menschen, die einen wirklich monotonen Job haben verglichen mit meiner verrückten Sammlung an Betätigungen würden sich danach sehnen, sich in so netten Welten aufhalten zu dürfen wie ich. Aber ich bin so überfüttert an Schönheit und Besonderem, dass ich grösste Befriedigung dabei finde, die Badewanne spiegelblank zu putzen und alle Wasserspritzer vom Badspiegel zu entfernen, oder das letzte Laub aus dem Gartenteich zu fischen. Ich brauche Greifbares, Vorzeigbares in diesen Tagen, in denen ich mich so viel mit Unsichtbarem beschäftige, das dann auf Knopfdruck und vor Publikum perfekt auf der Welt erscheinen soll. Diese Wochen der Vorbereitung sind eigentlich das Stressige, und immer hat man die Angst im Nacken, dass es trotz allergrösster Sorgfalt dann im entscheidenden Moment nicht klappt. Ich hadere mal wieder damit, dass unsere Kunst wie Ballett öffentlich und einmalig entsteht. Wahrscheinlich haben Maler oder Bildhauer wieder ihre eigenen Probleme, warum sie gestresst sind, aber immerhin können sie ebenfalls hunderte Stunden lang an etwas arbeiten, es aber erst abliefern, wenn es – für den Moment – fertig ist.

In neun Tagen habe ich alle Termine hinter mir, aber ich kann schon jetzt sagen, dass diese drei Wochen die anstrengendste Zeit in meinem Leben waren, Abitur und Diplomprüfungen mit eingeschlossen. Die Prüfungen waren wirklich ein Klacks dagegen, weil man genügend freie Zeit hatte, sich vorzubereiten und alles in angenehme Häppchen zerlegt war. Natürlich sollte man spätestens dann die Schwimmflügelchen abgelegt haben, aber alles fand noch in einer Art geschütztem Raum statt. Jetzt bin ich so völlig im echten Leben angekommen, dass zu Recht erwartet wird, dass was Ordentliches abgeliefert wird. Nur dumm, wenn zu viele wichtige Termine aufeinandertreffen. Und man sich noch sechs Tage die Woche um seine Schüler kümmern muss (Das würde ich nächstes Mal anders machen, sollte ich je wieder eine solche Anhäufung von Ereignissen zulassen: ich kann nicht gleichzeitig unterrichten und Konzertpianistin sein. Ich hätte für zwei oder drei Wochen den Unterricht absagen sollen. Das fällt mir natürlich am Tag meines letzten Konzerts ein. Aber nächstes Mal…)

Zu dieser überfordernden Anhäufung von wichtigen und schönen Terminen kam es, weil unerwartet unser zwanzigjähriges Schuljubiläum mit grossem Brimborium gefeiert wurde und ich ausserdem nicht Nein sagen konnte zu einer Konzertanfrage. Es ist einfach zu verlockend, wenn man nach einem privaten Soloabend anlässlich eines runden Geburtstags gefragt wird. Das kommt viel zu selten vor, als dass ich hätte ablehnen können. Dass der Geburtstag genau in die heisse Phase der Proben für mein Stück über Fanny Hensel fallen würde, war etwas problematisch, aber wäre doch wohl zu bewältigen. Dachte ich im Herbst. Und sagte zu. Weil der Arbeitsaufwand enorm ist, organisierte ich mir noch zwei andere Auftrittsmöglichkeiten mit dem gleichen Programm. Der Jubilar wünschte sich Mendelssohns “Variations sérieuses”, die Krönung von Mendelssohns Solowerken für Klavier. Eine sehr seltene Bitte, die noch nie an mich herangetragen würde. Ich hatte die virtuosen Variationen zum Abitur gespielt und dachte, das würde sich doch wiederbeleben lassen. Überraschung: man ist keine zwanzig mehr… Die rein sportliche Anforderung der Sprünge und Arpeggien ist so kräftezehrend, dass ohne ordentliches Aufwärmen gar nichts mehr geht. Es macht demütig, derartig am eigenen Leib zu erkennen, wie anstrengend Klavierspielen sein kann. Es tut auch gut, sich wie eine eingerostete alte Fregatte zu fühlen und sich Strategien zu überlegen, ob und wie man dagegen wirken kann. Die vielen netten Übungen, die ich mir überlegt habe, kommen letztlich meinen Schülern zugute.

Heute spiele ich das Programm zum letzten Mal, in der Werkstatt meiner Klavierbauerin, auf einem feinen Steinway von 1986, der danach ausgeliefert wird. Ein Leckerbissen für mich, und ein verlässlicher Gefährte auf meiner verrückten Reise durch die Variationen, eine schöne Gruppe von “Liedern ohne Worte” von Fanny und Felix (nicht anstrengend) und Beethovens op. 31/3. Aber es ist bezeichnend, dass ich am Morgen des Konzerts nicht übe, sondern diesen Artikel schreibe. Immerhin gucke ich keine Immobilienanzeigen an.

Ein Hochzeitswalzer

Mitte Juli sind meine Schüler und ich fast verschmachtet, als wir am Kinderprojekt des Wasserburger Klaviersommers teilnehmen durften. Am Tag nach dem Samstag mit den 37 Grad im Schatten fand das Kinderkonzert als Matinee im Rathaussaal statt, nachdem am Vortag nachmittags und abends dort bereits Konzerte erklungen waren. Ich kam um Viertel vor neun als erste in den prachtvoll bemalten historischen Saal, in dem sich die Hitze nur so staute, und durfte laut Hausmeisterin kein einziges Fenster öffnen wegen der teuren Flügel. Die Kinder haben trotzdem ihr Bestes gegeben und mit viel Freude gespielt, aber uns allen war ziemlich heiss.

Eine der Teilnehmenden war eine elfjährige Schülerin von mir, mit der ich vierhändig einen ausgefallenen bulgarischen Tanz im 5/8 – Takt spielte und einen ganz traditionellen, süssen kleinen Walzer von einem Emil Söchting, 1858 geboren. Das Mädchen kam am Freitag zur nächsten Klavierstunde und wir stellten fest, dass wir beide am Tag darauf zur Hochzeit ihrer Tante eingeladen sind. Leni meinte: “Bring dein Badezeug mit, da ist ein Pool.” Ich sagte: “Bring deine Noten mit. Wenn die beiden tanzen wollen, spielen wir den Walzer für sie.”

Das Brautpaar war genau so spontan wie wir. Überhaupt war alles wunderbar entspannt und normal bei dieser Sommerhochzeit. Wir waren etwa 20 Leute, gefeiert wurde im Garten der Eltern. Anders als am Samstag davor war es direkt kühl für Juli, auf jeden Fall angenehm und so, dass man sich frisch und leicht fühlen konnte. Die Braut hatte den Tischschmuck selber gemacht aus rosa Rosen und Kamille. Sie trug ein normales weisses Sommerkleid, gegessen wurde an Biertischgarnituren mit weissen Tischdecken. Als einzige Extravaganz gab es ein grosses Himbeer-Herz vom Bäcker. Meine Zimtschnecken fügten sich nahtlos ein in die Idylle, die von Carl Larsson hätte gemalt sein können. Und dann unser Walzerchen! Er war ja selbst für das Brautpaar eine Überraschung, aber es schien ihnen richtig Spass zu machen. Nach dem ersten Durchlauf steckten sie den Kopf zur Türe rein und riefen: “Noch mal!”, und dann sah ich aus dem Augenwinkel, dass jetzt alle auf der Terrasse tanzten, Eltern, Geschwister, kleine Cousinen zusammen in feinen Kleidchen – und die 99jährige Oma der Braut mit ihrem Enkel. Während ihre Urenkelin Musik machte. Das hat mich so glücklich gemacht. Ich glaube, das wird einer der besten Tage des Jahres bleiben.

Ist das nicht ein tolles Argument für Klavierstunden?!

Veränderungen zum Besseren

Im musischen Gymnasium gibt es für jede Jahrgangsstufe eine Liste von sogenannten Pflichtstücken. Man muss sie nicht spielen, aber der Schwierigkeitsgrad der verwendeten Literatur muss sich daran orientieren. Das ist unser Lehrplan. Natürlich ist es am Unproblematischsten, wenn man drei, vier Mal im Jahr eins der zwölf Stücke durchnimmt – für das eigene Gewissen, um wirklich sicher zu gehen, dass die SchülerInnen diese Art Literatur auch kennen, und vor allem für die KollegInnen im Klassenunterricht, die im sogenannten Klassenvorspiel die SchülerInnen bewerten und möglicherweise nicht genau einschätzen können, ob die Alternativen, die wir Klavierlehrer aussuchen, vom Schwierigkeitsgrad her den offiziell geforderten entsprechen. Für die fünfte bis elfte Klasse sind wir in Bayern mit dem berühmten blauen Pflichtstückeheft gesegnet, das man kaufen kann und in dem unproblematisch alles spielbereit abgedruckt ist. Die Auswahl ist ansprechend und vielseitig. Ich verwende dieses Heft tatsächlich gerne, die Kinder akzeptieren die meisten Stücke, und ich weiss vor allem: wenn ich sie ihnen aufgebe, muss ich keinen bemitleiden. Es ist zumutbar, diese Stücke zu spielen.

In der Oberstufe wird es allerdings etwas spannender. Die Literaturliste ist wichtiger denn je, da es jetzt wirklich um etwas geht, wenn man sich für’s Additum entschieden hat. Mit jedem Vorspiel sammelt man Punkte für das Abitur. Die Kollegen bewerten spürbar strenger und nehmen die Auswahl der Stücke ernster. Leider gibt es kein praktisches Heft mehr, in dem man auf einen Streich alle Stücke durchblättern kann, sondern man muss in Bibliotheken oder online eine Vielzahl von Heften durchsuchen. Glücklicherweise gibt es für uns Instrumentallehrer auch hier die Möglichkeit, mit den Wahlstücken gezielt auf den Kenntnisstand und die Vorlieben der SchülerInnen einzugehen (jede praktische Klausur besteht aus einem Wahl- und einem Pflichtstück). Sehr oft ist es so, dass unsere SchülerInnen vom Niveau her über den Pflichtstücken stehen, vor allem die, die ein Musikstudium anstreben. Der Schwierigkeitsgrad ist also nicht das, was mir Kopfzerbrechen bereitet hat an der Liste, sondern die Auswahl der Stücke. Und natürlich die Tatsache, dass die Kollegen gelegentlich die eckigsten, unschönsten rauspicken und man dann sechs Wochen mit den Konsequenzen leben muss. Der arme Schüler. Und ich auch.

Die Liste, mit der wir bisher leben mussten, wurde spürbar erstellt von sicher verdienten und erfahrenen KlavierpädagogInnen, deren Ausbildung schon etwas länger her zu sein scheint. Bis 1900 finde ich sie sehr gut, vernünftig und alltagstauglich (mit einer Ausnahme: es ist leichter Wahnsinn, beide Sätze von Beethovens op. 90 zu verlangen. Wir sind noch nicht in der Hochschule! Einer reicht vollkommen, um einen wirklich auf Trab zu halten!) Doch das 20. Jahrhundert ist eine verdörrte, brachliegende Wüstenei, in der man sich gar nicht gerne aufhält. Es gäbe so unglaublich viel Schönes, Klangvolles und Spannendes zu entdecken, aber – für mich – nicht unbedingt bei Hindemith, Pepping, Bernd Alois Zimmermann oder Karl Höller. Ich habe nichts persönlich gegen die Herren, und im passenden Umfeld haben ihre Stücke absolut ihre Berechtigung. Aber warum diese trocken – akademischen und wenig pianistischen Pflichtaufgaben, wenn es auch rhythmisch und klanglich suchterzeugend schöne Stücke des 20. Jahrhunderts gibt? Glücklicherweise werden in der Liste auch Messiaen und Ligeti angeboten, und diese Stücke gehören tatsächlich zu den Favoriten meiner SchülerInnen. Doch wenn man das Pech hat, eine Hindemith – Sonatine aufgebrummt zu bekommen, kann man sich auf traurige Zeiten einstellen. Die Eltern des fleissig übenden Sprösslings mit eingeschlossen. Ich möchte sogar behaupten, dass sich manche Kompositionen negativ auf die Grundstückspreise am Wohnort des Schülers auswirken können. Wie oft habe ich zu Kollegen gesagt, ich wünschte, diese und jenes Stück wären nicht mehr auf der Liste! Und stattdessen lieber X oder Y!

Und plötzlich darf ich mit einer Gruppe anderer KlavierlehrerInnen den Rotstift anlegen. Und zwar ganz wörtlich, in einer Excel-Tabelle. Ich hätte theoretisch die strengen, blutleeren Herren um 1950, 1960 rot markieren können, und wären genug andere meiner Meinung, wären sie sozusagen gecancelt. So wenig ich Hindemith mag, dachte ich doch, ihm muss Gerechtigkeit widerfahren. Vielleicht ist meine Abneigung subjektiv und sein Nutzen für die Klavierwelt nur mir verborgen geblieben? Ich habe deswegen in Rot im vorgesehenen Kommentarfeld erläutert, warum ich in Zukunft ohne Tränen auf gewisse Werke verzichten könnte. Mal sehen, was die Mehrheit sagt. (Ist das nicht seltsam? Kaum darf man mal Rache üben und den Komponisten an den Kragen, unter denen man schon wirklich gelitten hat, überfällt einen Milde und doch eine Art Respekt. Auch wenn ich diese Stücke nie auswählen würde, möchte ich das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.)

Statt mal ordentlich durchzufegen und zu wüten, dachte ich, ich könnte die Liste mit so vielen ansprechenden und interessanten Neuvorschlägen durchsetzen, dass Pepping und Reger schon zahlenmässig in den Hintergrund rutschen. Wie gesagt, die ersten dreihundert Jahre sind schön ausgesucht und könnten eigentlich so bleiben. Ich habe lediglich zwei Couperins reingemogelt. Die Barockauswahl ist wunderbar und zufriedenstellend, aber ausschliesslich deutsch. So sehr ich Bach liebe, finde ich, dass es nicht schadet, gelegentlich über den Tellerrand zu blicken und vielleicht zu gucken, was die Nachbarn so getrieben haben. Gerade das französische Barock ist das reinste Schatzkästchen an völlig anderen Stücken. Sie sind delikater, lautmalerischer und empfindsamer als die wohltuende Ordnung und Strenge eines Bach. Jedes zu seiner Zeit, würde ich sagen, doch es tut gut, beide Stile zu kennen.

Die jüngsten Komponisten im 20. Jahrhundert waren Ligeti (*1923) und Friedrich Gulda, Jahrgang 1930. Zeit, auch hier für etwas frischen Wind zu sorgen! William Gillock ist zwar 1917 geboren und somit noch älter als die beiden Vorgenannten, aber vom Stil her ganz anders. Sein “Fountain in the Rain” ist ein bewährtes Lieblingsstück meiner SchülerInnen und eine klangschöne und spieltechnisch spannende Heranführung an den echten Impressionismus. Als tatsächlich aktuelles Stück fügte ich noch Avner Dorman’s “Prelude No.1” ein. Er ist 1975 geboren, was in den Augen unserer SchülerInnen greisenhaft ist, aber – immerhin. Das Stück findet man in der sehr guten “Schirmer Piano Collection 20th/21st Century”, die voll ist mit anderen spannenden Möglichkeiten. Leider sind die meisten Stücke der Sammlung nicht kurz und leicht genug, um in unseren Katalog zu passen, aber Wahlstücke gäbe es hier massenhaft. Für entsprechende Schüler wäre zum Beispiel John Adams “China Gates” ein unvergessliches Stück mit Elementen der Minimal Music, als Pflichtstück ist es leider zu lang.

“Tune for Toru” von Mark-Anthony Turnage (*1960) ist nur eine Seite lang, wäre aber für ambitionierte SchülerInnen der Ausgangspunkt für eine feine kleine Dreiergruppe des 20. Jahrhunderts: Messiaens “La colombe” aus seinen Préludes ist bereits im Lehrplan. Nachdem ich Turnages Epitaph für Toru Takemitsu gefunden hatte, war es nur ein winziger Schritt (aber viel Kopfzerbrechen wegen der Spielbarkeit) zu Takemitsus eigenem Epitaph für Messiaen, seinem 1992 geschriebenem zweitem “Rain Tree Sketch”, In Memoriam Olivier Messiaen. Dieses Stück ist zugegeben ziemlich ambitioniert für’s Gymnasium, aber machbar mit etwas Eigeninitiative. Es ist auf jeden Fall lohnenswert, und als ich an einem verregneten, ruhigen Tag alle drei Stücke hintereinander spielte, war ich nur glücklich, was für besondere Klangwelten ein Klavier so erschaffen kann.

Nachdem ich mit dem 20. Jahrhundert zufrieden war, ging ich zum nächsten Problembereich. Denn was an unserer Literaturliste definitiv anders werden muss, ist die Frauenquote. Im Moment liegt sie bei sagenhaften 0 Prozent. So wachsen unsere SchülerInnen auf! Im Jahr 2023!! Und das, obwohl geschätzt 75 Prozent meiner SchülerInnen Mädchen sind! Es ist katastrophal und gleichzeitig lachhaft. Ich hoffe, dass wir die letzte Generation sind, die auf solche Umstände hinweisen muss. Dass vielleicht unsere Enkel mal sagen: kannst du dir vorstellen, dass bis 2023 nur männliche Komponisten auf der bayerischen Literaturliste waren?

Und es geht mir nicht nur um eine mathematisch errechnete Quote zur befohlenen Gleichstellung, sondern darum, den SchülerInnen eine wahre Schatzkiste von wunderschönen Stücken anzubieten, die bisher kaum oder nie gehört wurden. Und für uns LehrerInnen ist es vielleicht noch wichtiger und schöner als für die Kinder. Wir hören buchstäblich seit Jahrzehnten den Kanon rauf und runter. Für die Schüler ist es sicher immer wieder aufregend, die Pathétique oder ein Chopin – Nocturne zum ersten Mal zu spielen. Doch es tut gut, abseits der ausgetretenen Pfade zu wandern, sich selbst vielleicht in Frage stellen, neue Fingersätze zu suchen. Das gibt einem auch wieder neue Energie und andere Ideen für die bewährten alten Schlachtrösser.

Obwohl ich mich seit meiner Diplomarbeit mit Komponistinnen beschäftige, waren es richtig aufregende Tage, Literatur von Frauen noch mal vor dem Hintergrund der Spielbarkeit und Angemessenheit für die gymnasiale Oberstufe durchzugehen. Das Schönste war, dass ich selber viel gespielt habe und mein Flügel wieder mit Noten übersät war wie zu besten Zeiten. Allein die optische Fülle an Möglichkeiten stimmte mich optimistisch, dass man die Welt Takt für Takt, Zeile für Zeile doch verändern kann. Und sei es nur, um SchülerInnen Türen zu unbekannten Möglichkeiten zu öffnen, die sie dann in ihrer eigenen Weise weiterverfolgen können.

Ich begann, natürlich, mit meinen Sammlungen der Werke von Clara Schumann und Fanny Hensel. Unsere geliebten Quotenfrauen haben schon länger ihren Platz in renommierten deutschen Verlagen, sind immerhin seit 1976 bzw. 1986 verlegt und leicht zu beschaffen. Das Problem bei beiden ist, dass sie sehr gute Pianistinnen waren und ihre Stücke schnell anspruchsvoll werden. Wenn man SchülerInnen mit kleineren Händen berücksichtigen will, schränkt sich die Auswahl noch mal ein – beide Damen müssen eine erstaunliche Spannweite oder zumindest Wendigkeit besessen haben. Ich liebe zum Beispiel das erste von Fanny Hensels “Römischen Klavierstücken” in As-Dur, weiss aber auch, welche Arpeggien problematisch werden könnten für Mädchen mit schmaleren Händen. Ich habe es trotzdem aufgenommen in die Liste, weil es ein herrliches Beispiel einer gesanglichen Melodie über sanften Klangwogen ist. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Oder hoffentlich eine KlavierlehrerIn, die ihn weist. Von Clara Schumann schlug ich das “Pièce fugitive” op.15/1 vor, das neben einer delikat verwobenen Polyphonie auch durch die Kürze von zwei Seiten eines der Kriterien für die Liste erfüllt. Und es ist so klangschön, dass man es in Dauerschleife hören will. Ebenfalls das nächste aus diesem Opus, “Un poco agitato”, sowie ein Andante con sentimento h-moll. Von Fanny Hensel habe ich noch die Mélodie op.4 Nr.2 aufgenommen sowie “O Traum der Jugend”, ein veritables Lied ohne Worte.

Ein echter Glücksfall war, dass ich zufällig auf die hervorragende dreibändige Sammlung “Women Composers” von Melanie Spanswick stiess. Sie ist 2022 im Schott – Verlag erschienen und nach dem System der britischen Schwierigkeitsgrade geordnet. Wer an Musik von Frauen für Schüler interessiert ist, sollte sich den Gefallen tun und alle drei Bände in die private Bibliothek aufnehmen. Das Unterrichtsleben wird schlagartig schöner und abwechslungsreicher! Und ich fand tatsächlich Komponistinnen, von denen ich noch nie gehört habe wie die Mozart – Zeitgenossin Maria Hester Park (1760 – 1813). Ihre Sonate op. 4 rutschte gleich in die Abiturliste als willkommene Alternative zu Haydn oder Mozart. Eine Komponistin der Klassik ist wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Und wenn sie schon mal so alt sind, haben unsere SchülerInnen normalerweise genug Mozart und Haydn gespielt, um eine Abwechslung zu schätzen zu wissen. Ebenfalls aus diesem Heft ist Teresa Carrenos (1853 – 1917) “Plainte” aus “Elegie” op.17. So ausdrucksvoll, klangschön und spielbar, dass man es selbst gleich in den Fundus an Zugabestücken aufnehmen will. Ebenfalls “Sous les étoiles” von Amy Beach (1867 – 1944). Wie Carreno war sie zu Lebzeiten sehr bekannt, etabliert und mit Ehren überhäuft und auch in grösseren Genres wie Oper und Symphonien zuhause. Der bekannte Vorwurf, dass Frauen nur kurze, kleine Stücke komponieren “können”, gilt nicht mehr, sobald die Komponistinnen einigermassen Hilfe bei der Kinderbetreuung oder allgemein eine gewisse Unabhängigkeit haben. Unsere Zeitgenossinnen Kaija Saariaho oder Olga Neuwirth entkräften dieses Argument nonchalant, indem sie eine Oper oder ein grossangelegtes symphonisches Werk nach dem anderen “raushauen”.

Die beiden Französinnen, die ich in die Sammlung aufnahm, brauchen keine Einführung: Cécile Chaminade (1857 – 1944) ist nicht nur für ihr Flötenkonzert bekannt, sondern hinterliess darüber hinaus ein Opus von beinahe 400 Werken. Sie konzertierte in grossem Umfang und gehörte zu den ersten Künstlern, die Aufnahmen auf den Vorläufern des Welte-Mignon-Klaviers eingespielt hatten. In ihrem “Pièce romantique” op.9/1 darf die linke Hand eine Melodie in der schönsten Mittellage des Klaviers gestalten. Ganz anders die Tonsprache von Lili Boulanger (1893 – 1918): ihr “D’un vieux Jardin” ist komplizierter zu lesen, aber lohnenswert als echtes impressionistisches Klanggemälde. Eine kleine Ironie des Schicksals am Rande: Lili erhielt 1913 den begehrten “Prix de Rome”, um den sich Maurice Ravel fünf Mal vergebens beworben hatte.

Mit Mai Fukasawa (*1977) erlegte ich sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: ihr “Between Dawn, Noon and Midnight” ist nicht nur ein wunderbar glitzerndes Werk des 21. Jahrhunderts, sondern ein weiteres Beispiel für überzeugendes weibliches Komponieren. Ich bin sicher, dass dieses Stück einer der Favoriten werden wird, nicht nur, weil es relativ leicht spielbar ist, sondern auch, weil die meditative, ebenfalls an Minimal Music erinnernde Stimmung unseren SchülerInnen in stressigen Klausurenphasen eine willkommene Entspannung bieten könnte.

Und noch eine Dame fand Aufnahme: Dora Pejacevic (1885 – 1923), über die ein informativer Artikel von Hans-Jürgen Schaal in PianoNews 2/23 erschienen ist. Auf sie treffen meine ganz persönlichen und völlig unwissenschaftlichen Auswahlkriterien, ob ein Klavierstück etwas taugt, in verblüffender Weise zu – verfolgt mich eine Melodie, wenn ich sie ein bisschen geübt habe? Schweben Fetzen davon durch meinen Kopf, wenn ich spazieren gehe? Sehnen sich meine Finger nach diesen unglaublich angenehm liegenden Arpeggien? Ich kann nur sagen, dass ich direkt süchtig nach ihren Stücken wurde, nachdem ich mir den 3. Band ihrer Klavierminiaturen gekauft hatte. Ihr “Blumenleben” op.19 war schon zu ihren Lebzeiten ihr beliebtestes Opus, und ich verstehe, warum. Es ist die wunderbarste jugendstilhafte Musik, die man sich vorstellen kann. Zum Beispiel die “Rose” aus diesem Opus – es klingt und fühlt sich an wie Richard Strauss, ist aber im Gegensatz zu seinen Klavierwerken auch für SchülerInnen spielbar. Das Stück war für mich die schönste Neuentdeckung in diesen Wochen, und ich werde es hoffentlich mit fähigen Leuten als Wahlstück durchnehmen. In den Katalog kam das machbarere “Veilchen”, auch, weil es nur eine Seite lang ist.

Cécile Chaminade, Klavieralbum 1, B-Note Musikverlag

Dora Pejacevic, Piano Miniatures Vol. 3

Klaviermusik von Komponistinnen, Edition Schott ED 7197

Melanie Spanswick, Women Composers, drei Bände, Schott ED 23422/23423/23475

Ein Stück Frieden

An einem seidig klaren, kühlen Frühlingstag zwischen Fasching und Ostern fuhr ich an einem Vormittag vor meinem Unterricht nach Walpertskirchen, einem kleinen Nest bei Erding. Obwohl wir uns mit jährlich sechs fünften Klassen nicht über Nachwuchsmangel beklagen können, bemühen wir uns immer, Werbung für unseren exotischen musischen Zweig zu machen. Manche Eltern wissen tatsächlich nicht, dass es ihn gibt, bei anderen bestehen falsche Vorstellungen, dass dieser Zweig nur für besonders begabte Kinder oder solche, die Musiker werden wollen, geeignet ist. Deshalb klären wir über die ohnehin schon bestehenden Schnuppernachmittage, Schulhausführungen und Tage der offenen Tür noch zusätzlich auf. Manchmal rege ich mich auf, wie zeitaufwendig und extrem personalisiert das ist, aber meistens freue ich mich über den Ausbruch aus der Routine und die Begegnung mit neuen Leuten. Es gibt so nette Lehrer im Landkreis, und so süsse Kinderchen. Wie die beiden Kleinen, die von ihrem Lehrer abgestellt wurden, zum mich am Haupteingang abzuholen: ein Junge, dem seine Aufgabe etwas peinlich war und der möglichst schnell die Treppe zum Klassenzimmer hochraste, und ein Mädel mit langen schwarzen Zöpfen und dunkelblauen Augen, das mich neugierig und offen musterte und mir in jeder Tür den Vortritt liess, als würde sie professionell Gäste durchs Schulhaus führen.

Walpertskirchen ist ein adrettes kleines Dorf im Speckgürtel des Flughafens und an der Bahnlinie nach München. Gepflegte, moderne Einfamilienhäuser mit ansehnlichen Gärten umgeben den historischen Ortskern. Die barocke Kirche und der Friedhof befinden sich neben der kleinen Grundschule. Als ich zwischen beiden bequem parkte, begann das Mittagsläuten vom Kirchturm. Alles ist nagelneu und sauber – bis hin zur ehemaligen Telefonzelle am Kirchplatz, die auch hier ein Bücherschrank ist und mich natürlich magisch anzog (auch hier drinnen: einwandfreie Ordnung und nur sehr neue, aktuelle und saubere Bücher. Keine Klassiker, keine sichtlich verwanzten abgegriffenen Bände aus Haushaltsauflösungen, sondern neue und höchstens ein Mal gelesene Romane von den Bestsellerlisten. Belanglose und nicht weiter verstörende Unterhaltung, passend zur heilen Welt des kleinen Dorfes. Ich fand gar nichts, weder für mich noch meine türkische Schülerin.)

Die kleine Grundschule ist genau so nett und gepflegt wie der ganze Ort, und das Klassenzimmer der (winzigen) vierten Klasse war gemütlich und niedlich. Und die Kinderchen einfach nur nett und aufgeschlossen. Ich sollte unsere Schule eine Viertelstunde lang vorstellen und blieb dreissig Minuten, weil die Kinder so aktiv waren und so viele Fragen hatten. Ich fand es ungewöhnlich, so eine selbstbewusste und wohlartikulierte Klasse vor mir zu haben und führe es wirklich auf ihren sympathischen jungen Lehrer zurück, der es seinen Schülern anscheinend erlaubt, sich zu entfalten. So viele hochgereckte Ärmchen! So viele Detailfragen! Und hundert Prozent richtige Antworten bei dem kurzen Noten- und Pausenwerte-Quiz, in dem wir uns unvermutet fanden! (Meine Lieblingsfrage: “Spielt Ihr im Gymnasium auch mit punktierten Noten?” Noch besser war eigentlich die ungläubige Reaktion, als ich es bejahte – dem Kindchen fielen wirklich fast die Augen raus und ich erinnerte mich eindrucksvoll daran, wie es war, als man die Welt neu entdeckte und jeder Tag unglaubliche Überraschungen enthielt. Punktierte Noten! Ja wo gibt’s denn so was!)

Praktisch wollte ich den Viertklässlern einen kurzen Überblick geben, welche Stücke man bei uns in der fünften oder sechsten Klasse spielt. Aber dann wollte sie natürlich höre, was man in der letzten Klasse spielt. Und ob ich “An die Freude” auch mal spielen kann. Und die Kleine Nachtmusik. Und “das aus Amelie”. Und und und… Übrigens duzten sie mich, was mich mal wieder an meiner Autorität zweifeln lässt. Aber alles in allem war es eine beglückende Erfahrung und eine nette kleine Musikstunde, die hoffentlich auch für die nett war, die nicht vorhaben, aufs Gymnasium zu gehen.

Als ich auf den leeren, ruhigen Schulhof trat, war ich froh, wieder einen Punkt auf meiner übervollen Liste streichen zu können. Aber es war mehr als das. Ich fühlte mich seltsam leicht und aufgeräumt und blieb an dem kleinen Weiher zwischen Kirche und Schule kurz stehen. Der Tag war grau und lichtlos. Vorher hatte es noch nach feuchter Meeresluft gerochen, inzwischen regnete es sanft. Ein wunderbarer weicher Vorfrühlingstag. Kein Mensch war unterwegs und ich liess mir Zeit, um den Regentropfen zuzuschauen, die die Oberfläche des grauen Teichs zart bewegten. In der gepflegten Grünfläche neben dem Wasser leuchteten weisse Büschel von Schneeglöckchen. Alles war so idyllisch, dass es kaum auszuhalten war. Und da ging es mir auf: ich fühlte mich nicht gut, weil ich einen Termin abgehakt hatte und ganz vielleicht einen neuen Fünftklässler für unsere Schule gewonnen hatte, sondern weil hier alles so wunderbar in Ordnung war. Meine Morgenlektüre in den letzten Tagen war ein weiterer dicker, fetter und leicht deprimierender Roman von Nino Haratischwili über die Aufstände in Tiflis Anfang der 90er Jahre und den Abchasien-Krieg. Aktuell hatte ich an diesem Morgen versucht, mit meinem “New Yorker”-Abo Schritt zu halten und einen ausführlichen Artikel über angebliches oder echtes Mitläufertum im Ukrainekrieg gelesen. Auch wenn ich versuche, sie auszublenden, spuken die Bilder von zerstörten, zerbombten Gebäuden in der Ukraine durch meinen Kopf, von zerrissenen Familien, Kindern, denen kaum was geblieben ist, ausgebrannten Autos, Strassen mit Kratern. Man hat sich schon so daran gewöhnt, dass man in einer bayerischen Idylle wie Walpertskirchen stutzig wird und sich fragt: was läuft hier falsch, warum fühlt es sich so komisch an? Man staunt, dass es noch Orte gibt, an denen alles in Ordnung ist. Es mag übertrieben klingen, aber so ging es mir. Ich war von Herzen dankbar, dass die Schule noch steht. Dass es Heizung und Wasser gibt. Die Kinderchen darin nett frisiert und angezogen sind und ziemlich sicher ein Frühstück hatten. Sie keine anderen Sorgen haben als den Übergang von der vierten zur fünften Klasse. Es war nur ein blitzartiges Aufleuchten, aber ich war dankbar, wie privilegiert wir leben. Was für ein Luxus, mitten am Werktag in einer ruhigen Atmosphäre Regentropfen beim Fallen in einen Teich zuzuschauen, in Frieden und Sicherheit. Selbstverständlich ist das nicht.

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