Eine kleine Privatbibliothek

Image: Instagram thelostlibrary

Seit einigen Jahren kommt ein türkisches Mädchen zu mir in den Klavierunterricht, auf die ich mich jede Woche freue. Sie ist der reinste Sonnenschein, immer gut gelaunt, witzig und clever. Sie liebt es, Klavier zu spielen und versäumt nur im Ausnahmefall eine Stunde. Doch selbst wenn es ihr nicht so viel Spass machen würde, würde die Mutter schon darauf achten, dass sie dranbleibt: die Mutter nennt den Unterricht immer “Klavierkurs” und ruft früher und zuverlässiger als meine deutschen Eltern an, wann es nach den Ferien weitergeht mit dem “Klavierkurs”. Als ich sie kürzlich beim Einkaufen traf, fragte ich sie, was wir Anfang März machen sollen, da der Geburtstag ihrer Tochter genau auf den Klavierstundentag fällt. Ob wir’s ausfallen lassen sollen? Ohne mit der Wimper zu zucken, entgegnete sie kategorisch: “Sie kommt.” Keine Diskussion, weder mit mir noch mit dem Kind. Ich war beeindruckt.

Wir plauderten noch ein bisschen, wie es der Familie nach dem Umzug in die grössere Wohnung geht und wie sich meine Schülerin auf der weiterführenden Schule macht. Die Mutter bat mich um Rat: das Mädchen spricht mühelos deutsch, redet tatsächlich wie ein Wasserfall, hat aber immer schlechte Noten in der Schule, weil es mit dem Schreiben hapert. Was man tun kann. Mir fiel sofort ein: Lesen. Konsequent lesen, jeden Tag ein bisschen. (Sofort gab es die Ansage an die anwesende Tochter: weniger Handy, dafür jeden Abend in einem Buch lesen. Ist das klar? Ich war wieder beeindruckt.)

Ich beschloss, meiner Schülerin zum Geburtstag keine Noten, sondern ein Buch zu schenken. Ich musste nicht lange überlegen: Kindern in der 5./6. Klasse schenke ich seit Jahrzehnten und aus Überzeugung “Wölfe ums Schloss” von Joan Aiken, eine wirklich spannende Geschichte um Freundschaft und das wichtige wir-gegen-die-Welt – Gefühl. Ich habe es selbst von meiner ältesten Freundin beziehungsweise ihren Eltern bekommen, als ich in dem Alter war und halte es immer noch für eines der schönsten Jugendbücher. Doch nachdem ich es bestellt hatte, überlegte ich: wie viele deutsche Bücher mochte es wohl zuhause bei meinem türkischen Mädchen geben? Wie viele Bücher überhaupt? In dem Moment kam ich an der roten Telephonzelle am Bahnhofsplatz vorbei, in die man ausrangierte Bücher stellen kann. Und hatte zum ersten Mal die Idee, dort nach Kinderbüchern zu schauen. Normalerweise stelle ich selber häufiger Bücher hinein, als dass ich welche mitnehme wegen der ächzenden Regale hier. Aber ich kann es selten verhindern, einen Blick reinzuwerfen, weil man immer wieder schöne Sachen findet (aktuell gerade die sichtlich ungelesenen Memoiren von Brigitte Fassbaender, die der Gatte nach mir gelesen hat, mit genau so viel Interesse und wachsender Sympathie. Wir haben sogar beschlossen, dass wir’s nicht zurückbringen in die Zelle, weil das Buch wirklich nett geschrieben ist und wir etliche Freunde haben, die sich auch dafür interessieren könnten.) Siehe da, es gab eine Menge Kinderbücher. Wahrscheinlich hatte ich sie immer ausgeblendet. Ich fand gleich an diesem ersten Tag eine schöne Auswahl an gut erhaltenen Bänden: die Schneider-Bücher mit Mädchengeschichten, die ich aus meiner eigenen Teenagerzeit kenne. Enid Blyton (mein Herz schlug schneller. Diese Bücher habe ich geliebt damals!). Zwei ganz aktuelle Geschichten von einer Bande, die durch Computerspiele Zeitreisen unternimmt. Ein älteres Buch mit einem typischen Sechzigerjahre-Cover: “Soll ich es Simone sagen?” von einer Mary Stolz, das sich als interessanter Fund erwies. Ich habe tatsächlich ziemlich lange hineingelesen, als an einem der letzten Februartage so richtig viel Schnee fiel und wir uns mit Kerzen und Decken noch mal im Wohnzimmer einigeln konnten. Die Autorin ist 1920 geboren, im Original heisst das Buch “The Noonday Friends”. Mich fesselte nicht nur der realistische, nüchterne Blick auf das beengte Familienleben in einer kleinen Wohnung, der sich abhebt von der üblichen heilen Welt in Kinderbüchern, sondern auch die Tatsache, dass die Geschichte in Manhattan spielt. Hedy und ihre Familie wohnen im Greenwich Village zu einer Zeit, in der die Gegend noch lange nicht chic und gentrifiziert war. Heute trifft man in der 14. Strasse wahrscheinlich eher Rockstars oder Schauspielgrössen, die sich ihren Cold Brew holen, als Schulkinder, die nur zwei Blusen besitzen oder Väter, die arbeitslose Schuhverkäufer sind. Falls ich es jemals nach New York schaffe, möchte ich viel Zeit für den südlichen Teil einplanen. Seit Weihnachten noch mehr: ich habe ein wunderhübsches Buch bekommen mit Fotos von Haustüren oder Fassaden, die ein ganz anderes und sehr altmodisches Bild von New York zeichnen. Sehr viele davon sind in genau dieser Gegend entstanden, dem ältesten Teil von New York. Aber nicht nur deshalb muss gepilgert werden – ich würde auch zu gerne die 11. Strasse West entlanglaufen, in der Theodore aus dem “Distelfink” dann lebt. (Man sieht, für mich sind das alles keine Romangestalten, sondern gute Bekannte, die ich gern in ihrem Umfeld besuchen möchte.) Und jetzt hatte ich noch einen Roman, der in dieser Ecke spielt! Bin mal gespannt, ob meine Schülerin was damit anfangen kann. Vielleicht identifiziert man sich schneller mit kleinen Heldinnen, die Knatsch mit ihrer Freundin und Kummer zuhause haben, als mit solchen, bei denen alles wunderbar ist?

Nach dem ersten erfolgreichen Besuch der Büchertauschzelle schaute ich eine Woche später an einem Samstag mittag wieder vorbei. Schon von Weitem sah ich einen Vater mit Teenagersohn, die zusammen eine von diesen überdimensionierten belastbaren Taschen aus dem Drogeriemarkt trugen, Motto: diese Tasche besteht aus 29 PET-Flaschen. Sie stellten stapelweise Bücher in die Telephonzelle – Jugendbücher, wie sich herausstellte. Sah ganz nach einer Faschingsferien – Entrümpelungsaktion aus. Der Bub war sichtlich aus den Büchern herausgewachsen, meine Schülerin war im besten Alter, um sie zu schätzen. Ich fischte Astrid Lindgren, “Den kleinen Hobbit” und den “Jungen im blauen Pyjama” heraus, alle in wunderbarem, höchstens ein Mal gelesenen Zustand. Was wir für eine Wohlstandsgesellschaft sind, geht einem am eindrucksvollsten auf, wenn man merkt, was wir leichten Herzens weggeben. Aber es ist gut, wenn die Dinge zirkulieren und sich ein anderer darüber freut. Auch wenn meine Tasche schwer war auf dem Heimweg am Inn, hüpfte mein Herz, weil ich so viele schöne Bücher gefunden hatte. Mehr, als wenn ich mir selbst irgendwelche neuen gekauft hätte.

Bis Anfang März kamen noch weitere moderne Jugendbücher und die beiden Klassiker “Onkel Toms Hütte” und “Huckleberry Finn” dazu, alles in erstaunlich gutem Zustand. Die Bücher hatten übergangsweise einen Ehrenplatz auf meiner Kommode, schön aufgestellt und täglich getätschelt, um die traurige Telefonzellenenergie und das Trauma des Ausgesetztwerdens zu vertreiben. Was für ein netter Anblick – ich wäre stolz gewesen als Kind! Ich besorgte noch eine hübsche gepunktete Tasche für meine Schülerin und verbarg nicht vor ihr, wo die Bücher herkommen, damit sie eventuell selbst in den Tauschschränken weitergucken kann. Nach der Klavierstunde an ihrem Geburtstag half ich ihr, die Tasche zum Auto zu tragen. Sie war fast genau so schwer wie ihr Schulrucksack, an dem sie sich schon abschleppte (ich wundere mich immer über das physische Gewicht der Bildungsmittel – und irgendwann ist alles unsichtbar in unserem Kopf!). Jetzt bin ich gespannt, was ihr am besten gefällt. Das Spektrum geht von altmodischen Jugendbüchern bis zur “Schule der magischen Tiere”. Mal gucken, was die Fünftklässler von heute anspricht.

Wie immer, ein Nachtrag, weil das erlebte Leben weitergeht und die Geschichte noch weiterspinnt: in der nächsten Klavierstunde zeigte mir meine Schülerin ein Foto von ihrem winzigen Zimmer. Direkt neben dem Bett, vor dem Fenster, steht ihr kleiner Schreibtisch, links davon ist ein Bücherregal. Und dort zeigt sie mir sichtlich stolz und glücklich die neue Heimat der Bücher. Und ich war glücklich, denn das Mädchen hat offensichtlich das “Zuhause ist’s am Schönsten” – Gen: karierte Tagesdecke, nettes Gardinchen, besondere Bilder über dem Schreibtisch, die auch noch erläutert wurden. Die Bücher passen wunderbar in diese Umgebung und es sieht so aus, als ob sie geschätzt werden.

Bild: Instagram thelostlibrary

“Aunt Jane began her day with music”

Nach unseren ersten abendlichen Theaterproben fuhr ich eine Schülerin immer nach Hause, weil sie nicht geholt werden konnte und es auf meinem Heimweg liegt. Während wir langsam über das holprige Pflaster der leeren, abendlich beleuchteten Erdinger Innenstadt fuhren, fragte ich sie die linke Hand eines Barockstücks ab, das ihr Schwierigkeiten bereitete. Beim ersten Mal war ihre Bestürzung direkt spürbar. Sie war mir ausgeliefert für die nächsten fünf Minuten – dass sie nicht laufen musste, sondern bequem bis vor die Haustür gefahren wurde, musste sie teuer bezahlen. Sie wusste nur den Anfangston und schwieg dann (so ist das oft mit der linken Hand). Ich munterte sie auf: “Komm, wir machen’s zusammen. Spiel das Stück auf deiner Mappe und sprich mit mit mir: c – c – h – g – c – g…” Schleppend, eine Mikrosekunde nachdem ich den Ton gesagt hatte, sprach sie mit. Noch bevor wir das zweite Stadttor passiert hatten, waren wir durch die ersten kniffeligen acht Takte gekommen und sie sagte: “Okay, jetzt versuch ich’s allein.” Sie suchte die Tasten auf ihrer Tasche und buchstabierte schon ganz ordentlich. Wenn man einmal Gefallen am mentalen Üben gefunden hat, öffnet sich ein spannendes Tor. Das Klavierspielen ist nicht nur auf die Momente beschränkt, an denen man vor einem physischen Klavier sitzt, sondern man kann seine Stücke jederzeit durchgehen: beim Spazieren, beim Busfahren, beim Schwimmen. Und das Gelernte festigt sich auf andere und bewusstere Weise, als wenn man sich nur auf sein motorisches Gedächtnis verlässt. Ich langweilte sie mit Geschichten aus meinem Studentenleben, in dem ich immer wieder ohne eigenes Klavier gewohnt habe und trotzdem die längsten Beethovensonaten auf Spaziergängen auswendig geübt habe. Danach wollte sie noch mal die linke Hand aufsagen, und es ging noch mal besser. Sie will immer noch mit mir mitfahren, übrigens. Und ich bringe sie gern nach Hause. Nicht nur, damit sich dieser Jeremiah Clarke festigt, sondern weil sie so ein fleissiges, engagiertes Mädchen ist, das zu allem, was sie sonst leistet, noch einen Part in unserem Stück übernommen hat. Als ich das erste Mal nach ihren Anweisungen gefahren war und sie sagte: “hier ist es”, hielten wir vor den wahrscheinlich einzigen Plattenbauten Erdings, um es mal überspitzt zu formulieren. Im winterlichen Laternenlicht sahen sie noch trostloser aus, und als sie mir vom anonymen, gesichtslosen Hauseingang mit dem langen Klingelschild noch mal zuwinkte, dachte ich: schau an, das Mädel. Spielt Klavier, liest “Herr der Ringe” und zeichnet wunderbar. Vielleicht, um sich in schönere und bessere Welten hineinzuträumen? Vielleicht ist die Motivation, sich mit “überflüssigen” künstlerischen Dingen zu beschäftigen, noch grösser, wenn der Alltag eher nüchtern ist und die Phantasie blüht bunter und lebendiger?

Auf der Heimfahrt habe ich mich an eine andere Gelegenheit des Übens im Kopf erinnert. Letzten Sommer war ich mit einer Freundin und ihren Kindern ein paar Tage im Urlaub, und ihre Tochter spielte mir beim Frühstück gern Tonleitern auf dem Boden vor. Und ich musste raten, ob sie auf schwarzen oder weissen Tasten spielt. Natürlich hatte sie ihren Spass daran, mich mit den ausgefalleneren Molltonleitern reinzulegen, und ich muss sagen: alle Achtung vor der russischen Klavierlehrerin, die Siebenjährigen überhaupt schon ganze Tonleitern beibringt, und dann auch noch alle Molltonarten. Dass die Kleine die Fingersätze ohne Klavier reproduzieren konnte, dass sie im Schlafanzug und brezenkauend überhaupt Lust drauf hatte, zeigt, dass die Tonleitern schon einen festen Platz in ihrem Alltag haben. Wenn man konsequent abgefragt wird, wird alles zur Routine. So sehr, dass sich das eigene Gedächtnis darauf freut, trainiert zu werden. Das ist ein seliger Zustand des Lernens, den man nur erreicht, wenn man die anfängliche Bequemlichkeit überwindet. Wie beim Sport auch – denn Klavierspielen ist auch was Sportliches: wenn man einen gewissen Punkt überschreitet, wird es mühelos und die Endorphine rieseln wie eine warme Dusche durch den ganzen Körper. Man schwebt und fühlt sich gut. Selbst in fis-moll melodisch.

Auch wenn es sich so anhört, als ob ich auf’s mentale Üben hinauswill: es geht mir in diesem Artikel um die Kraft und Wirkung von Wiederholungen. Dass die beiden Mädchen, von denen ich erzählt habe, besser am Klavier werden, liegt nicht daran, dass sie im Kopf üben, sondern, dass sie sich überhaupt zwischendurch mit der Materie beschäftigen. Ich bin überzeugt, dass jede kurzen fünf Minuten Wiederholung heilsam sind, ob am Klavier oder mit den Fingern in der Luft. Überhaupt, Wiederholungen von Gelerntem. Ich nerve meine Schüler im ersten Jahr Latein immer damit, dass sie mir am Anfang der Klavierstunde fünf neue Vokabeln sagen müssen. Wenn sie nach den ersten Schulwochen mit dieser Prozedur vertraut sind, fangen einige schon freiwillig in der Garderobe und auf dem Weg ans Klavier an, mir ihre neuen Wörter zu präsentieren. Damit das schon mal aus dem Weg geräumt ist und sie endlich das tun dürfen, wofür sie eigentlich gekommen sind. Für mich ist es auch spannend, meine Schüler und ihre Köpfe auf diese Art kennenzulernen (es gibt keine Überraschungen, übrigens – es scheint einen Bezug zwischen gutem Gedächtnis und schnellem Verständnis am Klavier zu geben). Und sie wissen, dass sie mit was wirklich Neuem ankommen müssen und legen sich auf dem Weg in die Klavierstunde neue Vokabeln zurecht (das ist die Art von Wiederholung, die ich so gut finde). Es dauert maximal eine Minute, bringt aber enorm viel.

Genau wie das regelmässige, am besten tägliche Üben. Inzwischen sind wir ja eine derartige Spassgesellschaft, dass es einem als Kinderarbeit angekreidet wird, wenn man vorschlägt, die Schüler sollten täglich üben. Weil ich die einschlägigen Reaktionen kenne und es langsam leid bin, zu diskutieren, sage ich meistens, dass fünf Tage die Woche geübt werden muss. Aber, wie man das von sich selbst kennt, ist eine Ausnahme erlaubt, kann man sich doch noch einen anderen Ausnahmetag gönnen. Und dann kommt die Schulaufgabe dazwischen, auf die man auch noch lernen muss, und die Klavierwoche war bisher ohnehin nicht glorreich – also, noch ein Tag weniger. So nimmt die bequeme Abwärtsspirale ihren Lauf, und wir treten auf der Stelle, bis es keiner von uns mehr aushält.

Wenn ich dagegen Schüler, die mühelos und stetige Fortschritte machen, frage, wie viel sie üben, sagen sie oft: zehn oder fünfzehn Minuten, aber jeden Tag. Auch am Sonntag. Manche üben morgens vor der Schule, weil sie dann wissen, dass es erledigt ist, andere haben eine feste Zeit gegen Abend. Zehn Minuten sind wahrlich nicht viel, aber die Masse und die Konstanz sind ausschlaggebend. Und das Kindchen soll ja nicht nur Klavierspielen lernen, sondern eine Arbeitshaltung: egal, wie riesig das Projekt, man schafft alles, wenn man es in kleine Häppchen einteilt und täglich daran weitermacht. Das Selbstbewusstsein, das man dabei erlangt, hilft einem überall im Leben.

Und dann gibt es die verrückten Typen, die selbst im Erwachsenenalter noch ihre Überoutine aufrecht erhalten. Das war der Versuch einer Überleitung zu einem wunderschönen Zitat über Jane Austen, das ich gefunden habe, bis jetzt aber noch nicht in mein Theaterstück reinpfriemeln konnte. Es soll nicht verloren gehen:

Aunt Jane began her day with music”, wrote her niece Caroline. “I suppose, that she might not trouble the rest of the family she chose her practising time before breakfast – when she could have the room to herself. She practised every morning.” (smithsonianmag.com)

Und sie schrieb jeden Morgen. Und unternahm jeden Tag lange Spaziergänge. Ich bin überzeugt, dass ihr diese selbstauferlegte klösterliche Routine gut getan hat. Alles drei sind Tätigkeiten, die leichter gehen, wenn man an das am vorigen Tag Produzierte anschliessen kann und der Fluss nicht zu lange unterbrochen wird. “Wer rastet, der rostet” ist nicht nur in der Hinsicht ein toller Spruch. Es tut nicht nur körperlich gut, an einer Sache dranzubleiben, sondern auch psychisch. Ich fühle mich besser, wenn ich nicht vor mich hinlebe, sondern mir selbst Ziele setze. Für den Tag, die Woche, den Monat, das Halbjahr. Ein bisschen Planen auf Papier, im Kalender, erdet mich und lässt Luftschlösser Wirklichkeit werden. Wahrscheinlich ist der grosse Unterschied zu unseren armen Schülern, dass wir Erwachsenen im Gefühl von Selbstbestimmtheit und Freiheit leben und deswegen auch motivierter sind, an solchen Plänen festzuhalten. Wenn ich mich frage, woher meine Arbeitseinstellung kommt, denke ich an meine allerersten Klavier – Hausaufgabenhefte und die Übepläne, die meine Lehrerin in ihrer schön geschwungenen Schrift für mich erstellt hat. In eleganter, dünner Schrift standen da die Wochentage, und ich krakelte, riesig und mit allen möglichen knalligen Filzstiften, meine “16 Minuten” oder “9 Minuten” dahinter. Das war der Grundstein für meine Überzeugung, dass aus wenig viel werden kann. Wenigstens das würde ich gern meinen Schülern mitgeben, falls es mit der Pianistenkarriere doch nichts wird.

Erding Fashion Week

An einem eisigen Mittwoch im Januar schrieb mir eine Freundin, ob ich abends die Gaultier – Schau auf der Pariser Modewoche anschauen würde. Ich war noch in der Schule, knipste zwei der wertvollen Stoffe, die grade unter meinen Fingern waren – eine weisse Manschette mit feinsten Perlenstickereien und salbeifarbene Seide mit Blütenapplikationen – und schickte ihr die Bilder mit der Bemerkung: “Kann nicht. Bin noch auf der Erdinger Fashion Week.”

Ende Januar war die Zeit für Mode. Nicht nur in den Metropolen der Welt, sondern auch bei uns im Gymnasium. Im Gegensatz zu den anderen Modeschauen hatten wir uns aus Zeit- und Budgetgründen doch gegen massgeschneiderte Einzelstücke für unser Jane – Austen – Projekt entschieden und über Weihnachten in diversen Secondhandläden und online nach passenden Kostümen gesucht. Anne sogar in England, was mindestens so ergiebig war wie ihr Besuch des Kostümverkaufs im Gärtnerplatztheater. Ich hatte Glück in München und fand auf einen Schlag drei Kostüme, bei denen mir sofort der jeweilige Schüler vor Augen stand. Im Laden zweifelte ich kurz, ob die Grössen passen würden, hing die Kleider ans Ende einer Stange, trat einen Schritt zurück und versuchte, mir die Schülerchen vorzustellen. Da sieht man jemand wöchentlich, kann aber nicht sagen, ob ihm ein Jackett wirklich passen würde. Aber ist es auf anderen Ebenen viel besser? Schätzen wir jeden wirklich so ein, wie es ihm gebührt, und ziehen alle Facetten und verborgenen Talente in Betracht, oder scheren wir nicht lieber all zu schnell alle über einen Kamm, weil das weniger Mühe und Aufwand bedeutet? Und überhaupt, was sind Etiketten und Schubladen anderes als ebenfalls zu bequeme Methoden, andere schnell einzuordnen? Die Etiketten in Secondhandläden kann man vergessen, wie ich feststellen durfte. Die wunderschönen Theaterkostüme haben überhaupt keine Grössenangabe. Und die Auskünfte von Teenagern sind so volatil wie ihr ganzes Leben, immer in Entwicklung und Erweiterung. Und teilweise liebenswert selbstbelügend: “Ich bin 1,52. Nein, 1,53!” Oder, entrüstet: “Aber ich hab schon Grösse 164!” Da hilft nur: Augenmass, sorgfältiges Abschätzen und dann irgendwann anprobieren.

Es war gut, dass wir diesen Teil des Theaterprojekts zügig nach den Ferien in Angriff genommen haben, weil wir – Überraschung! – genau wie in der Behandlung der Schüler individuell vorgehen und einiges ändern müssen. Glücklicherweise muss das meiste enger gemacht werden. Anders herum wäre es schwieriger. So müssen wir nur gucken, dass die Kinderchen nicht in den Kleidern versinken. Eine Kleine meinte hoffnungsvoll, dass sie bis März ja noch ein bisschen wachsen könnte, damit wir das Kleid nicht extra für sie ändern müssen.

Mein Unterrichtszimmer in Erding sieht gerade aus wie ein Kostümfundus und ich komme noch lieber als sonst in die Schule: die wertvollen Sachen hängen in Kleiderhüllen auf einem rollbaren Kleiderständer, die anderen auch mal so im Raum, wenn wir sie grade brauchen. Über den Stühlen warten Jacketts darauf, zum Leben erweckt zu werden, an der Pinnwand hängen statt Konzertankündigungen Zettel, wie wir die Kleider verteilen wollen. Ein Paravent wäre perfekt, damit die Kinder nicht immer die Übekammern als Umkleide benutzen müssen und ich brav übende Schüler kurz hinausbitten muss. Mein Herz hüpft jedes Mal, wenn ich mein Zimmer mit dem eigentlich schaurigen weissen Flügel betrete, und ich habe das Gefühl, dass es nicht nur den Mädchen auch gefällt. Wir erleben gerade das ultimative Prinzessinnenspielen, und es dient auch noch einem seriösen Zweck.

Die sorgfältig geschneiderten Theaterkostüme sind eine besondere Freude für mich. Ich hatte noch nie so etwas in den Händen. Die Modelle sind mit viel Detailliebe gearbeitet. Der Übergang von Stoffmustern an Nähten ist genau so exakt wie applizierte Dekorationen, die sich spiegeln sollen. Die Stoffe wirken wertvoll, obwohl sie es doch aus Preisgründen nicht sein können. Im Nacken, dort, wo normalerweise der Herstellername steht, ist ein feines Schildchen eingenäht “Staatstheater am Gärtnerplatz”. Knöpfe sind mit dem gleichen seidigen Stoff überzogen wie die Kleider, und die Spitze an Manschetten fällt genau weit genug über Handgelenke. Das sind Sachen, die man sonst nur aus der Ferne sehen darf, entweder auf der Bühne oder im Museum hinter Glas. Es bereitet mir echte Freude, die Stoffe anfassen zu dürfen und zu sehen, wie handwerklich solide die Kleider gearbeitet sind. Denn, auch wenn man es mir nicht ansieht, ich mag Kleider. Und Vielfalt. Meine reduzierte minimalistische Garderobe, in der alles zusammen passen muss, ist hauptsächlich aus der Überzeugung entstanden, dass ich mir im Alltag nicht zu viele Gedanken ums Anziehen machen will. Manchmal hüpft mein Herz aber schon sehr, wenn ich plötzlich im Unterrichtszimmer einen zusätzlichen ganzen Meter Kleiderstange habe. Selbst wenn es nicht meine Kleider sind. Aber die Fülle der Möglichkeiten fühlt sich nach Luxus, Ideenreichtum und Wohlstand an. Auf diese Weise kann ich meine Phantasien von einem begehbaren Kleiderschrank inklusive weissem Flügel wenigstens temporär ausleben.

Trotz unseres Engagements sind wir immer noch etwas im Zustand des Vervollständigens der Garderobe. Bei den Herren ist es nicht so einfach, wie ich gehofft hatte. Eine Umfrage unter verschiedenen Vätern und Grossvätern hat ergeben, dass keiner einen Frack, Gehrock oder sonstwie formelle Kleidung besitzt. Lederjacken oder T-Shirts mit Totenköpfen wurden mir hingegen bereitwillig angeboten. Auch nett, aber das heben wir uns für eine andere Inszenierung auf. Bei den Mädchen musste ich mit Erstaunen feststellen, dass einige keinen einzigen Rock besitzen und auch im Sommer keine Kleider anziehen. Deshalb habe ich angefangen, die Kreise etwas auszudehnen: ich fragte ungeniert Mütter, die einen romantischen Kleidungsstil haben, ob sie uns etwas leihen könnten. Diese Telefongespräche waren ergiebig und rasend interessant. Endlich mal erfreulichere Themen als Pubertäts- und Disziplinprobleme! Und ich hatte das Gefühl, wirklich an Expertinnen zu geraten. Kleidermässig kann ich gut Nachhilfe gebrauchen, und es gibt keine besseren Ratgeber als Frauen, deren Stil ich immer bewundert habe, wenn ich sie auf unseren Konzerten getroffen habe. Eine (immer elegante) Mutter von drei Mädchen ist besonders engagiert und erstaunlicherweise auch eine tolle Beraterin, was Schuhe betrifft. Die hatte ich zum Beispiel bisher komplett ausgeblendet. Sie findet, Jane Austen müsse “Stiefelchen” tragen. Und hat auch die passenden. Wie genial!

Alles auf Anfang

Das alte Jahr verabschiedete sich mit derartig plakativen Gesten, dass es mir schon beim ersten Vorkommnis zu deutlich war: eine Woche vor Weihnachten stürzte unser grosser Ahorn im Garten um. Es war nachts, nach dem Eisregen, der die Äste mit einer schweren durchsichtigen Eisschicht glasiert hatte, und dem darauf folgenden heftigen Schneefall. Das Gewicht war offensichtlich zu viel für den riesigen alten Baum, und so beendete er sein Erdendasein spektakulär: er brach in der Mitte entzwei, riss den Walnussbaum mit, dessen Wurzeln nach dem Sturz direkt aus dem Boden ragten, und blockierte den ganzen Fussweg neben unserem Grundstück. Die Krone unseres Baums lag beim Nachbarn im Garten. Es war ein echtes Bild der Verwüstung, wie nach einem Erdbeben. Und ich war ziemlich überrascht, als ich aufstand und der Garten im Halbdunkel irgendwie anders aussah. Ich hatte mehr Licht erwartet nach dem lauten rutschenden Geräusch in der Nacht – die Katze, die auf meinem Bauch schlief, zuckte auch hoch und spitzte die Ohren, als sich grössere Massen rauschend nach unten bewegten. Ich sagte ihr, es sei nur eine Dachlawine. Normal ist nach einem solchen Geräusch der Wintergarten wieder frei von Schnee und alles im Haus heller, doch diesmal war es irritierenderweise der Garten, der mehr Durchblick bot.

Am 23.12. liess sich mein Computer nicht mehr hochfahren und zeigte nur noch einen Ordner mit einem blinkenden Fragezeichen an. Es tat gut, dieses Fragezeichen anzuschauen – es ist ja nie verkehrt, in sich zu gehen und die verschiedenen Bereiche des Lebens abzuchecken. Eine Art angeordnete Jahresend – Reflexion. Was passt, was sendet Warnzeichen, was ist vielleicht genau so desaströs wie der gestorbene Baum? Nach etlichen Versuchen der Selbsterkenntnis fand ich dann doch, es wäre für uns beide, den Laptop und mich, genug an Fragezeichen. Ich war bereit, weiter zu gehen. Er ganz offensichtlich nicht. Ich schaute mir diverse Videos von hilfreichen kompetenten Herren an, die Lösungen für dieses Problem anboten. Ich ignorierte, dass es sich um eine Fehlermeldung katastrophaleren Ausmasses handelt. Das war sicher nur Schwarzmalerei! Ich würde das schon alleine schaffen!

Über Weihnachten verdrängte ich die Gedanken, wie viele Daten ich eventuell verloren hatte. Hatte ich 2022 überhaupt was gesichert? Meine kleine externe Festplatte ist eigentlich ein guter Freund. Aber Fotos? Ganz sicher nicht. Texte – hm. Eher auch nicht. Aber es müsste eine Form von privatem Backup geben, weil ich immerhin das Jane-Austen-Stück einer Kollegin geschickt hatte und andere Texte an andere Freundinnen. Mir wurde etwas schummerig, wenn ich daran dachte, wie schnell ich selber Mailanhänge lösche. Aber immerhin gäbe es theoretisch die Möglichkeit, dass manche Sachen auf diese Weise überlebt hätten.

Mein Weihnachten war etwas überschattet. Aber trotzdem sehr gemütlich.

Am 26. Dezember versuchte ich mit telefonischer Unterstützung des besten Bruders von allen, den Patienten wiederzubeleben. Wir gingen noch mal alle Schritte durch, die ich schon allein versucht hatte. Nochmal diese akrobatischen Tastenkombinationen mit vier Fingern gleichzeitig. Noch mal alles von vorn. Das Fragezeichen blinkte munter weiter. Mein Bruder wischte meine Bemerkung, ob wir vielleicht ernsthafter über unser Leben nachdenken sollen, weg mit der Ansage, dass wir jetzt ein neues Betriebssystem installieren müssen. Er hatte grade keine Zeit für Introspektion, weil er in Gedanken schon auf der Autofähre Richtung Sizilien war. Da könne er dann stundenlang über sein Leben nachdenken, aber jetzt solle ich mal – FremdwortBahnhofFremdwort.

Ergebnis der Aktion: mein Bruder stellte – in weniger vornehmen Worten – fest, dass meine Festplatte im Eimer sei. Und trat seinen wohlverdienten Urlaub im Süden an. Ich war hin – und hergerissen: die maximale Unerreichbarkeit und Entschleunigung ist ja eins meiner liebsten Lebensziele. Wär nur nett, wenn man den Zeitpunkt selber bestimmen könnte und davor seine Daten gesichert hätte. Aber: so war es nun. Völliger Urlaub. Stundenlanges unter dem Christbaum – Sitzen und Lesen, schön Kochen, schöne Ausflüge mit dem Mütterchen und ein herzergreifend schöner, ruhiger Neujahrsabend am menschenleeren Simssee. Der Blick von dem Steg, von dem aus ich im Sommer so gerne ins Wasser springe, war so anders. Der See schimmerte lila-blau im letzten Tageslicht mit den blauen Bergen im Hintergrund, während eine dünne Mondsichel über dem Wasser schwebte. In unserem Rücken funkelte der lichterkettengeschmückte weisse Wintergarten und der goldene Christbaum des kleinen Fischlokals, in das wir gerne gehen. Wir hatten das beste von beiden Welten – kanadische Stille und Weite auf der einen Seite, äusserst gemütliche, kachelofenbeheizte Geborgenheit auf der anderen – und einen wunderbar klaren, ruhigen Start ins neue Jahr.

Ein neuer Computer war im Budget genau so wenig vorgesehen gewesen wie die Gärtner, die die majestätische Baumleiche entsorgt hatten. Aber es half nix, ich brauchte einen neuen Laptop. Ich wollte regional kaufen, in einem kleinen Familienbetrieb hier und nicht bei irgendeinem Riesen. Wegen Betriebsurlaub und dann Krankheit von deren Seite war ich bis Mitte Januar ohne Computer. Und danach auch nur beschäftigt, irgendwie meine Daten wieder herzukriegen. So was killt jeden Anflug von Kreativität. Langsam, gaaanz langsam spüre ich die Lust auf’s Schreiben wieder in mir hochsteigen. Aber wirklich langsamer als sonst und vorsichtig, denn der Frust von Datenverlust ist ziemlich lähmend.

Inzwischen verging eine Woche ohne grössere Katastrophenmeldungen. Nachdem meine Schüler vor Weihnachten scharenweise krank gewesen waren, kamen jetzt alle gut erholt wieder. Wir fingen neue Stücke an, wiederholten Notennamen, kramten das Heft mit den beliebten Klatschübungen wieder hervor und waren alle motiviert und froh, uns wieder zu sehen. Ich konnte mein Theaterstück weiter vorbereiten und organisieren und fand online ein wunderbares weisses Kleid für die Hauptrolle. Mein “New Yorker” – Abo, das vor Weihnachten extrem geschwächelt hatte, bescherte mir vier Hefte in einer Woche, und so lag ich jeden Abend glücklich lesend mit der Katze auf dem Bauch neben dem Christbaum (ja, er ist noch da. Natürlich.) Am Freitag morgen wachte ich früh und putzmunter auf, buk im Schein des Lichterbogens und einer Bienenwachskerze im Morgengrauen einen Mandelkuchen und setzte unseren Brotteig an. Ich war froh, dass meine Welt langsam wieder ins Lot kam.

Bis Freitag abend, als ich die vollgepackte Spülmaschine einschalten wollte. Überraschung: sie geht nicht mehr. Sie ist 32 Jahre alt. Insofern war es nicht wirklich eine Überraschung, aber – der Zeitpunkt mal wieder…

Und so verbrachte ich einen kontemplativen Samstagvormittag damit, das Geschirr partienweise zehn Minuten einzuweichen und abzuwaschen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, war aber von diesem dritten Appell, über die Vergänglichkeit der Dinge nachzudenken, so genervt, dass ich nicht die philosophischen Überlegungen anstellte, auf die das Schicksal mich vielleicht bringen wollte. Es gibt zur Zeit genug Alltägliches, was bewältigt werden muss. Der wirklich spirituelle Neuanfang muss warten. Wenn alles rund läuft, alle Probentermine festgesetzt, Stücke einstudiert und Kostüme ausgesucht sind, kann ich ja mal wieder beim Spazierengehen über die Fragilität des Lebens nachdenken. Jetzt will ich nur mit Volldampf und ungehindert von technischen Problemen ins neue Jahr starten.

Am Klavier mit Jane Austen

In der ersten Fachsitzung nach dem distanzierten Coronajahr stiess eine neue Kollegin zu uns. Brav vollmaskiert, erkannte ich doch sofort eine verwandte Seele, als sie ein Notizbuch aus Papier, einen paperblanks-Kalender und einen Stift auf den Tisch vor sich legte. Wir waren die einzigen, die sich noch handschriftlich Notizen machten. Alle anderen starrten wichtig in ihre Laptops oder Tablets. Eine immer gerunzelte Stirn und rasantes Tippen verstärkte den Eindruck, dass es hier um mehr als nur die Planung eines schnöden Schuljahres ging und man sich, derartig aktuell ausgestattet, mindestens auf dem Sprungbrett ins Ministerium befand. Anne, die andere Analoge in der Runde, lehnte sich zurück und lächelte entspannt. Als ich meinen damaligen grünen Kalender etwas anhob als Erkennungszeichen für Dinosaurier, nickte sie und zeigte mit den Fingern auf ihren (das waren noch die Maskenzeiten, als man seine nonverbalen Fertigkeiten täglich weiterentwickelte). Ich mochte Anne, aber wir sahen uns im Schuljahr fast gar nicht. Sie unterrichtet neben Musik auch Englisch und hat einen völlig anderen Stundenplan als ich, die ich ja immer erst nachmittags in die Schule komme.

Auch wenn wir kaum Kontakt hatten, dachte ich öfter über das Potential einer Englischkollegin in der Fachschaft nach. Und über mein lange ersehntes Projekt, “irgendwas mit Jane Austen” mit meinen Schülern zu machen. Ein Jahr später, wieder in der ersten Fachsitzung, wieder mit neuen paperblanks-Kalendern, stand mein Entschluss fest – Anne hatte nicht nur wie ich ungefragt einen Kuchen mitgebracht, sondern auch – anders als ich – in einem Korb die sorgfältig verpackten blau – weissen Kuchenteller ihrer Grossmutter. Sie waren mit ihrem klassischen Muster der Inbegriff einer englischen Teatime und füllten unseren Beton-Musiksaal mit ungekanntem Glanz. Das war mehr als eine verwandte Seele. Das war ich in blond! Ich wäre dumm, wenn ich sie nicht wenigstens fragen würde. Gesagt, getan. Sie war sofort Feuer und Flamme.

Ursprünglich hatte ich einen Abend mit Musik des späten 18. Jahrhunderts vor Augen, in den ich alle meine Schüler integrieren wollte, von den Jüngsten bis zu den Abiturienten. Dazu wollte ich die Romanstellen von Austen vorlesen lassen, in denen Klavier gespielt wird, und eventuell noch Ausschnitte aus den Verfilmungen zeigen, weil sie die Atmosphäre, die Mode, die Einrichtung der Zeit am eindrucksvollsten darstellen würden. Ich dachte, dass sich die Englisch – Fachschaft um die Texte kümmern könnte. Ich hatte nicht mit Annes Schwung und ihrer Begeisterung gerechnet. Drei Wochen und ein intensives Brainstorming in Erdings “Irish Pub” später – dunkle Wände, Kerzen auf den alten Tischen in einem Altbau mit hohen halbrunden Fenstern – habe ich am eigenen Leib erfahren, was es heisst, gross und grenzenlos zu träumen. Zwischendurch hielt ich uns für verrückt, aber je mehr wir nach den Sternen griffen, desto runder und toller wurde die Sache. Anne fand, wir brauchen keine Filme, wir schauspielern selber. Ich sagte spontan (und nicht unter Einfluss von irgendwas Irischem), dass ich dann ein Stück schreibe. Halt genau das, was man in den ersten Schulwochen so nebenbei macht, zusätzlich zur Elternzeitvertretung. Ich las, recherchierte wie blöd und schrieb ein kleines Theaterstück, in dem Jane Austen selber die Hauptrolle hat. Die verschiedenen Personen aus den Romanen, die Klavier spielen oder Klaviere an ihre Angebeteten verschenken, sollen vielleicht sogar stumme Rollen sein. Jane hat sehr viel Text, weil wir sie beim Nachdenken und Durchlesen ihres Manuskripts erleben. Gleichzeitig sollte sie introvertiert, nachdenklich und scharfsichtig sein. Ich versicherte Anne immer wieder, dass ich alles ändern könnte, sobald wir wüssten, wer welche Rolle übernimmt.

Die Begeisterung der beiden Theatergruppen unserer Schule hielt sich, im Gegensatz zu unserer eigenen, sehr in Grenzen. Die eine Gruppe verwies auf die andere, die andere meldete sich erst gar nicht. Aus Spass fragte ich unter meinen Schülern, ob jemand im geplanten Konzert auch Schauspieler sein wolle. Ich erwartete, dass vielleicht zwei zusagen würden, aber – ALLE wollen Schauspieler sein! Fünfzig Prozent wollen die Hauptrolle! Ich war völlig platt. Ich hatte nicht erwartet, dass meine Schüler derartige Rampensäue sein würden, denn bei unseren üblichen Konzerten für die Eltern herrscht vornehme Zurückhaltung. Aber die Kinder sagten selber, was der grosse Unterschied ist: man ist nicht Veronika Saueressig aus der 7a, die mit Magdalena Wampeltshamer aus der 8a verglichen wird, während die Eltern gnadenlos jeden Ton filmen. Man ist jemand anders, am besten noch in einem Kostüm, und kann so frech, vorlaut oder wichtig sein, wie man will. Und wenn diese Person Klavier spielt, bleibt es nicht an einem selber hängen, wenn was schiefgeht. Ausserdem gehört die Musik ja dann zur Handlung, das muss dann sein. Und in diesem Fall würde man auch Stücke spielen, über die sonst nur gemault wird (ich sehe es tatsächlich jetzt schon: die Devise ist “Musik vor 1820 und möglichst aus Jane Austens eigener Notensammlung”, und da wird nur ein kurzer Blick draufgeworfen, vielleicht noch mal fachmännisch gefragt, ob das wirklich aus der Epoche ist, und dann – wird geübt. Pleyel. Clementi. Haydn. Cramer. Clarke, Hook, Purcell und Händel. Ohne Meuterei oder Kompromisse. Warum nicht gleich?!)

Anne würde mit ihrem Unterstufenchor dabei sein und einige der von Jane Austen so geliebten irischen Volkslieder singen, ich sollte mich um Text und Klaviermusik kümmern. Eines Vormittags schrieb mir Anne so nebenbei, dass sie grade Stoffe und Schnittmuster für Regency – Kleider recherchiere und beim Kostümverkauf im Gärtnerplatz – Theater einen wunderbaren Gehrock für einen der Herren ersteigert habe. Und – schwupps – nahm unser Projekt noch eine andere Dimension an. Ich hatte maximal an Sommerkleider mit hoher Taille gedacht, die die Mädchen ohnehin schon haben, oder gar keine speziellen Kostüme. Die Ausstattung sollte auch sonst minimalistisch sein und neben dem Flügel nur aus einem kleinen Schreibtisch und Stuhl für Jane bestehen. Vielleicht wird es jetzt doch mehr… genau wie die Kostüme, wenn wir nähwillige Mütter finden. Und ich kann nur mit Staunen zusehen, wohin sich alles entwickelt hat.

Weil ich sonst nichts zu tun hatte in den ersten Schulwochen, machte ich auch gleich die Termine fest. Und auch das geriet wieder aus dem Ruder, als ich zu unserem Konrektor nebenbei sagte, dass das eventuell auch was für die Anmeldezeit im März wäre und wir die Viertklässler der Grundschulen einladen könnten. Schwupps – wir bekommen die Aula und dürfen neben der geplanten Abendvorstellung zwei Vormittagsvorstellungen für die Erdinger Grundschulen machen. Zu der einen haben sich schon 200 Viertklässler angesagt. Und, noch wichtiger, meine Kinderchen bekommen diese Vormittage für die Dauer der Veranstaltung schulfrei, wenn sie keine Schulaufgabe haben.

Und so werden eine arrogante Lady Catherine de Bourgh, die alles übers Üben weiss, ohne selbst Klavier zu spielen, und eine freche, nervige Mary Bennet, die scheusslich Klavier spielt, bei uns im Gymnasium auf der Bühne erscheinen. Und ich kann es selber noch nicht fassen, dass das nur passiert, weil mir eine längst gestorbene Schriftstellerin gut gefällt.

Das gute alte Merianheft

Im Sommer habe ich noch das dürftige zeitgenössische Angebot an Lombardei – Reiseführern bedauert, doch inzwischen bin ich, dank meiner Mutter und Ebay, gesegnet mit zwei antiquarischen Merian – Heften, die mich mit der Welt versöhnt haben. Im Wirbel des Schulanfangs habe ich mich langsam durch beide Hefte gelesen. Die Artikel sind derartig gehaltvoll, wie man es inzwischen nicht mehr gewöhnt ist. Ein gut recherchierter und gut geschriebener Aufsatz über die Schlacht von Pavia, die glorreiche Epoche der habsburgischen Herrschaft in Norditalien oder das ambrosianische Mailand ist fast mehr als das, was man nach den organisationsreichen ersten Schultagen abends vor dem Einschlafen noch verkraften kann. Aber ich habe diese wunderbaren altmodischen Artikel mit viel Vergnügen gelesen. Und wenn so kurz vor dem Träumen Visionen von ohnehin geliebten südlichen Landschaften heraufbeschworen werden, ist das eine gute Therapie gegen jeden Verhandlungsstress mit Eltern wegen der letzten Busse nach Wartenberg oder der Verschiebung der Ballettstunden.

Das Mailand – Merian von 1985 stammt noch aus den Beständen meiner Eltern, aus der glorreichen Zeit, als man bildungsbürgerlich und interessiert an der Welt so ein hochwertiges Heft im Abo hatte. Die Hefte standen im Regal ganz unten. Wir hatten eine ansehnliche Reihe und ich erinnere mich gut an die verschiedenfarbigen schmalen Rücken mit den aufgedruckten Namen von exotischen oder ganz nahen Orten. Manche wurden von uns allen nur durchgeblättert, manche direkt durchgearbeitet und mit auf die Reise genommen. Ich habe zum Vergnügen alles mögliche gelesen. Manchmal, um die Zeit vor oder nach dem Essen zu überbrücken, während die gute Mutter allein in der Küche schuftete. Manchmal, weil die Bibliotheksbücher schon ausgelesen waren und ein leerer Sonntagabend vor mir gelegen hätte. Während ich das schreibe, komme ich mir mal wieder wie ein Dinosaurier vor: wer von den Kindern heute wächst mit dieser literarischen Qualität auf? Und hat die Geduld und die Aufmerksamkeitsspanne, um solche Artikel zu lesen? Artikel, die mich heutzutage verlässlicher ausknocken als ein Whiskey?

Ist das Merian von 1985 schon wunderbar informativ und seriös geschrieben, stellt das von 1971 noch eine Steigerung dar. Auch, weil es nicht nur Mailand, sondern auch die Lombardei im Titel hat und sich in umfassender Weise den grossen und kleinen Juwelen um Mailand herum widmet. Ich habe hier mehr erfahren als beim mehr oder weniger sorgfältigen Googlen beziehungsweise Orte wie Sabbioneta oder Castelseprio überhaupt gefunden, von deren Sehenswürdigkeit ich keine Ahnung hatte. Und das Literaturverzeichnis beginnt so herrlich altmodisch, dass ich es direkt zitieren muss:

“So unerschöpflich der Strom bei uns erscheinender Italien-Literatur auch sein mag, so wenig scheint er jedoch Mailand und die Provinzen der Lombardei berühren zu wollen. So sei denn jedem, der sich mit der Region, vor allem mit ihrem nördlichen Teil, eingehender befassen will, zuallererst Alessandro Manzonis Roman “Die Verlobten” empfohlen, gewiss einer der grossen Romane der Weltliteratur, der in verschiedenen Ausgaben vorliegt.”

Welcher Reiseführer würde sich heute noch erlauben, eine dicken, fetten, kein bisschen aktuellen Roman aus der Vergangenheit an die erste Stelle der Literaturempfehlungen zu setzen? Ich finde das wunderbar und angemessen, doch auch von einer Weltfremdheit, die mich sehr amüsiert. Die Redaktion des Merianhefts geht selbstverständlich davon aus, dass man sich durch einen 870 – Seiten – Roman arbeitet, um den Urlaub dann mehr geniessen zu können. Sie gehen vor allem davon aus, dass man nicht nach Mailand fährt, um an den Schaufenster von Prada oder Brioni vorbeizuflanieren, sondern vollumfänglich in die Kulturgeschichte der Stadt eintauchen will. Es ist skurril, aber – warum sollte man sich nicht extrementschleunigt seinem Traumziel annähern? Die “Buddenbrooks” lesen, bevor man nach Lübeck fährt? Genug Zeit für “Schuld und Sühne” einplanen vor der Kreuzschiffahrt nach Sankt Petersburg? Denn ich mache so was. Ich lebe so unzeitgemäss. Wenn ich das Erscheinungsdatum des Merian-Heftes anschaue, weiss ich auch, wer schuld daran ist. Ich bin überzeugt davon, dass diese Vorgehensweise die Seele ganz anders öffnet für die Region, die man besuchen will. Erst mal steigert sich die Vorfreude sehr langsam und über Monate, je nach Lesetempo. Man sieht die Landschaft und die Orte durch die Augen des Autors, bevor man sie selber erblickt, und ist dadurch auf hoffentlich angenehme Art voreingenommen. Im besten Fall hat man an Orten, an denen man garantiert noch nie war, das seltsame Gefühl von dejà vu, das einen am eigenen Erinnerungsvermögen zweifeln lässt: es kann doch nicht sein, dass einem diese Piazza so bekannt vorkommt. Oder war man doch schon hier? War es ein Traum oder eine vergessene Reise? Ausserdem ist alles eingebettet in eine mehr oder weniger zu Herzen gehende Geschichte. Ist man selber endlich dort, denkt man mit einer Art Nostalgie an das Schicksal liebgewonnener Personen, als ob sie wirklich existieren würden. Kurzum, die Annäherung wird vielschichtig, die Erwartungshaltung aufs Angenehmste gesteigert und das tatsächliche Erleben intensiver und farbiger, als wenn man einfach aus dem Bahnhof fallen und auf sein Handy starren würde, um den Weg zu finden. Nachdem man während der Anfahrt nach oberflächlichen Rezensionen und willkürlicher Sternevergabe geguckt hat. (Entschuldigung, aber der beliebte Seitenhieb auf Smartphones drängelt sich an dieser Stelle in den Artikel: kürzlich war ich an einem perfekt dämmrigen Herbsttag inklusive willkommenem Nieselregen in Regensburg. Die Parks leuchteten rostrot und golden, das von Laub bedeckte Pflaster glich einer sorgsam komponierten Tapete aus Herbstfarben, die alten schiefen Pflastersteine schimmerten im Regen. Regensburg ist so eine geheimnisvolle Stadt, vor allem bei bedecktem Himmel, wenn die engen Gassen noch dunkler sind, die herrlichen sanften Fassadenfarben noch intensiver leuchten. Und erst der Dom am Spätnachmittags, wenn sich der Tag schon bald wieder verabschieden will: beim Betreten sieht man kaum etwas und blinzelt, damit man nicht in eine Wand oder andere Menschen hineinläuft. Glücklich in einer Kirchenbank angekommen, sitzt man minutenlang und nimmt mit Staunen wahr, wie immer mehr Details hervortreten. Die erst ockergelbe Wand wird langsam weiss. Konturen von Säulen und Verzierungen treten immer deutlicher hervor. Und irgendwann wird es ganz magisch, wenn die dunkelbunte Masse der uralten Glasfenster anfängt, doch noch das letzte Licht des Tages einzufangen und in allen Juwelenfarben sanft leuchtet. Der anfangs gelbdunkle, dämmrige Raum strahlt und leuchtet und umfängt einen mit einer ganz ruhigen, geduldigen Art von Schönheit, wie er es schon seit Jahrhunderten getan hat. Das alles braucht Zeit und Stille. Trotzdem quetschen sich genug Zeitgenossen durch die engen Gassen, die den Blick gar nicht von dem bläulich leuchtenden Ding in ihrer Hand nehmen können und wirklich nicht den Kopf heben, bis sie an der von Google genehmigten Sehenswürdigkeit angekommen sind. Ich hab sie alle bedauert, wie sie an so viel Schönheit am Weg vorbeilaufen. Dem Löwen an der Wand. Dem seltsam leuchtenden grünen Kaffeetassen draussen vor dem “Orphée”, die im Braun der Gassen wirken wie schwache erste Frühlingsblüher, die sich nach Sonne sehnen. Den alten verschnörkelten Zäunen um den Park oder dem knallbunten föhnigen Sonnenuntergang von der Steinernen Brücke aus. So wie die Altstadt fast autofrei ist, habe ich mir gewünscht, dass es auch eine handyfreie Zone gibt. Damit die Menschen das Wunder von alter Bausubstanz um sich herum überhaupt wahrnehmen. Ich weiss, wie arrogant ich klinge. Trotzdem blutet mein Herz, wenn die Menschheit sich so deppert durch die Gegenwart bewegt.)

Mich rührt auch, welchen Stellenwert eine Auslandreise 1971 hatte und wie seriös man sich darauf vorbereitete. Inzwischen ist die Welt so anders, schnell und beliebig geworden. Vielleicht würden wir alle profitieren, wenn wir wieder einen Gang runterschalten und nicht zu oft und sinnentleert durch die Welt jetten? Verreisen wie die Generation meiner Eltern oder das Merian – Team von 1970 (diese Truppe hätte ich wirklich gern kennengelernt. Die Artikel sind sagenhaft.) Statt Essensbildern auf Instagram echte, langsam erlebte Erinnerungen mitnehmen. Aber das steht gerade jetzt, nach dem Eingesperrten der Coronajahre, im Gegensatz zur Lebenslust vieler Zeitgenossen. Und ich verdenke es niemanden, wenn er jetzt unbeschwert durch die Welt gondeln will, solange es noch geht. Aber ich alte Tante werde es geniessen, in meinem langsamen Tempo zu leben und zu erleben. Werde den Manzoni lesen an langen Herbstabenden und mir noch das andere empfohlene Buch bestellen: “Lombardei – Wanderungen durch Vergangenheit und Gegenwart” von Henry V. Morton, einem 1892 geborenen Engländer. Wir müssten in etwas das gleiche Reisetempo haben.

Die Persönlichkeit bereichern

Zufällig stiess ich rechtzeitig zum Schulbeginn auf ein wunderschönes Zitat in Dorothy Whipple’s „Greenbanks“, einem Roman über eine Familie im ländlichen England um 1920. Das perfekte Buch, um das verregnete Wochenende vor Schulbeginn mit Kerze, Tee und Decke auf dem Sofa zu verbringen – bis man auffährt wie von der Tarantel gestochen, vom Klavier einen Bleistift holt und anfängt, Zeilen zu unterstreichen, als wär’s ein Lehrbuch und keine Belletristik. In diesem Abschnitt geht es um die siebzehnjährige Rachel, deren Vater findet, das war genug Schule für ein Mädchen. Wozu überhaupt etc, die ganzen traurigen bekannten Gründe. Ihre Lehrerin ist anderer Ansicht und bestärkt die Mutter, Rachel noch ein Jahr zu geben:

„Leben – das echte Leben – wird im Geist gelebt, und ich bin überzeugt, dass die richtige Erziehung dem Geist hilft, sein eigenes Leben zu haben und ihn unabhängig von materiellem Wohlstand oder Widrigkeit zu machen. Das ist das Ideal, das wir anstreben. Den Geist zu bereichern, die Persönlichkeit zu bereichern.“

(Whipple, Greenbanks, Persephone Books S. 232 – meine Übersetzung)

Wie gut, diese wunderbare Zusammenfassung zu Schulbeginn zu hören, während man, versunken in Stundenplänen, Stundenplanungen und Literaturlisten leicht den Wald vor Bäumen nicht mehr sieht. Es geht nicht nur um die nächsten Tonleitern, Etüden, Pflichtstücke, Konzerte. Natürlich auch, aber all das ist nur Mittel zum Zweck, nötige Schritte auf dem Weg zur möglichst vielschichtigen Persönlichkeit. Es tut gut, sich das Ziel wieder vor Augen zu rufen und auch den Grund, warum wir uns so penibel aufhalten mit hier nur zwei B’s, dort aber vier: unsere Schüler sollen das Rüstzeug erhalten, um irgendwann unabhängig weiter zu arbeiten. Weiter zu suchen, zu experimentieren, zu entdecken, was es noch alles gibt. Jedes Mosaiksteinchen, das wir Lehrer liefern, soll die Neugier anstacheln, noch darüber hinaus zu gucken. Überhaupt zu wissen, dass es ein Darüberhinaus gibt!

Und das muss überhaupt nicht jetzt passieren, in diesen ohnehin vollen Jahren des Lernens und Prüfungen-Ablegens, während man gleichzeitig erwachsen wird und so vieles Aufregende zum ersten Mal erlebt. Wir legen die Saat für etwas Wertvolles, auf das man später im Leben zurückgreifen kann. Entweder, weil man spürt, dass das, was man gelernt hat, wunderbar ins jetzige Leben passt und wieder einen Platz bekommen muss, weil es bereichert und beglückt – oder, weil man vielleicht eine Leere im Leben erlebt, ausgelöst durch Verlust oder Enttäuschungen oder auch nur durch Kinder, die das Haus verlassen. Diese Situation kann zu einer echten Leere und Dürre werden, in der der wöchentliche Einkauf noch die aufregendste Abwechslung ist (wie Whipple ziemlich gnadenlos am Beispiel von Rachels Mutter zeigt, die auf ihrem Lebensmittel – Einkaufsspaziergang im Dorf überlegt: „Vielleicht ist es das, was mir fehlt? Vielleicht hätte ich länger zur Schule gehen sollen?“) Wenn man sich jedoch an frühere Anregungen erinnern kann, Denkanstösse wieder aufnimmt und dort weiterliest, wo man vielleicht vor Jahren aufgehört hat, bekommt das Leben mehr Tiefe und neue Facetten, die alles funkeln lassen. Selbst die dunkelste, einsamste Herbstnacht.

Und wir geben unseren Schülern auch in der Hinsicht ein wertvolles Geschenk, weil sie ihre Bildung, ihren Schatz an Wissen jederzeit in sich tragen. Egal, wo es einen hinverschlägt im Leben, egal, welche materiellen Güter man vielleicht verliert: was wir im Herz und in der Seele haben, bleibt uns und kann wie eine geduldige Zimmerpflanze immer wieder Ableger bilden. Und je mehr wir davon verschenken, desto mehr kommt zu uns zurück. Und, wie die Lehrerin im Roman so schön sagt: Herzensbildung und ein gefestigter Charakter helfen uns, wenn der Alltag mal nicht aus rosa Wölkchen besteht. Durch’s Musizieren, durch die Berührung mit Kunst lernen wir uns selber besser kennen, werden widerstandsfähiger, weil wir wissen, dass es mehr im Leben gibt, und schaffen es hoffentlich, schwierige Phasen besser zu ertragen.

Ich weiss gar nicht, der wievielte Schulanfang das in meinem Leben ist. Besser gesagt: ich will es gar nicht so genau wissen, denn wie kann es sein, dass man sich immer noch wie 19 und neugierig fühlt, aber in Wahrheit altersmässig jenseits von Gut und Böse ist? Manchmal habe ich in den trägen heissen Sommertagen Angst, dass irgendwann die Flamme erlischt und ich vielleicht mit Grausen an den Schulanfang denke. Und vielleicht hat man es weniger in der Hand, als man meint. Deshalb bin ich dankbar und überrascht, wie spannend diese Zeit wieder für mich ist und wie sehr ich motiviert bin, meinen Schülern alles über Musik, Kunst, Literatur und Geschichte zu erzählen, was sie nur hören wollen. Es macht mich selber neugierig, ihre Neugier zu wecken, und das gemeinsame Entdecken ist viel schöner als das klösterlich einsame Lesen. 

Mein Schuljahresbeginn bekam einen ganz unerwarteten Segen und hat mit einer Vision begonnen, die wie ein Geschenk von oben war. Ich war gar nicht begeistert, als die drei Sängerinnen, mit denen ich am Samstag eine Hochzeit gestalte, am ersten Schultag um neun Uhr morgens proben wollten. In Haag, gleich in der Kirche. Man hat wahrhaftig anderes zu tun, bevor der grosse Ansturm beginnt, aber wir haben keinen anderen Termin gefunden und mussten uns noch mal sehen. Und dann schien die Morgensonne golden durch den Altarraum in die leere, helle gotische Kirche und ich war schon mal deshalb versöhnt mit Vielem. Zwischendurch sangen meine drei Kolleginnen ohne mich Mendelssohns „Hebe deine Augen auf“, und obwohl ich mir Anmerkungen zu Wiederholungen und da capi in meine Noten schreiben wollte, während ich nicht spielen musste, war ich völlig geflasht. Die Komposition ist ein Juwel, und die drei klaren Stimmen verschmolzen so wunderbar und füllten das weite, harmonische Gewölbe bis in den letzten Winkel mit leuchtendem Wohlklang, dass ich nur noch in den Raum starren und staunen konnte. Und als sie (viel zu früh) fertig waren, als die letzte Schwingung verhauchte, fühlte ich mich direkt körperlich beraubt. Grade war noch so viel unsichtbare Schönheit da, und plötzlich – Stille? Aber genau die Einmaligkeit macht das Erlebnis auch zu was Besonderem. Der sonnendurchflutete Moment war ein Ausblick darauf, was Musik sein kann. Wo meine Schüler vielleicht eines Tages hinkommen können. Und dass zwei Minuten uns Stärke und Zuversicht für Wochen geben können.

“Empfindsame Sommerfahrt in die Lombardei”

Die Lombardei scheint bei Touristen nicht das beliebteste Reisegebiet Italiens zu sein. Kaum jemand kennt sie, die meisten nehmen sie am Rande wahr, weil man auf dem Weg zu wichtigeren Sehenswürdigkeiten wohl oder übel durchfährt. Doch die berüchtigte flache, scheinbar landschaftlich reizlose Po-Ebene bietet mehr als flirrende, staubige Hitze und ausgedehnte Industriegebiete. (Doch die gibt es, da kann man nichts beschönigen. Auch um kleinere Städte herum. Und leider scheint sehr viel Fleischindustrie dabei zu sein – ich bin in meinem gemächlichen Tempo an viel zu vielen Tiertransporten vorbeigefahren und habe in viel zu viele ängstliche, fragende Kälberaugen gesehen, die aus den Luken der Laster neben meinem Auto schauten. So schrecklich das war, hat es mich wieder darin bestärkt, kein Fleisch zu essen. Und zu hoffen, dass mein Beitrag irgendeine Auswirkung hat.) Trotz der unzähligen Kunstwerke gibt es kaum Reiseführer über die Lombardei. Über Mailand schon, Bergamo vielleicht auch noch, aber das war es im Grossen und Ganzen. Kein aktueller Dumont oder Merian, nichts, was man in einer gutsortierten Buchhandlung mitnehmen könnte. Da blieb nur der Weg zum Antiquar meines Vertrauens – und wie immer hat er mich nicht enttäuscht. Ein Dumont “Oberitalien” von 1975 war schnell gefunden, und während ich darin blätterte, verschwand Herr Feurer in den Tiefen seiner Schatzkammer und präsentierte mir wenig später einen wunderhübschen weinrot gebundenen Band mit geschwungener goldener Schrift und marmoriertem Schnitt: “Jenseits des Gotthard” von J. V. Widmann. Hätte mich das ansprechende Äussere des kleinen Bandes nicht schon überzeugt, tat es die Überschrift über dem ersten Kapitel: “Empfindsame Maifahrt zweier Schweizer durch elf lombardische Städte” (1885). Das war mein Buch. Und obwohl es ein bisschen älter ist, kann man sich immer noch wunderbar danach richten. Auch wenn der muntere Autor und sein Schwager nachhaltig und CO2-freundlich mit der Eisenbahn reisten. Auch das ist heute noch problemlos möglich. In Latium hatten wir einige Überraschungen mit aufgelassenen Bahnstrecken erlebt, doch hier im Norden scheinen die Verbindungen noch genau so wichtig und frequentiert zu sein wie um 1880. Die beiden Schweizer logierten in Mailand und unternahmen von dort sternförmig Bahnreisen nach Bergamo, Pavia, Piacenza, Parma, Brescia, Verona. Alles auch heute noch machbar, solange man seine Maske dabei hat.

Der längst verstorbene Herr Widmann brachte mich auf Pavia, und dafür bin ich ihm ewig dankbar. Das allein war die Reise wert. Nicht nur das sensationelle, ausserhalb gelegene ehemalige Kartäuserkloster mit der wild und üppig verzierten Renaissancekirche und dem wunderschönen Grabmal der Beatrice d’Este. Noch mehr berührt hat mich das unscheinbarere San Michele in der Stadt, die ehemalige Krönungskirche der langobardischen Könige und der deutschen Kaiser, aus einer Zeit, als man sich noch selbstbewusst kurzerhand selber gekrönt hat. Die Sandsteinfassade ist weichgewaschen von der Witterung der Jahrhunderte. Hier prangen keine Ornamente oder Intarsien aus verschiedenstem Marmor wie an der Certosa, und doch ist mir das unauffällige, auf so liebenswürdige Art gealterte Gebäude gleich ans Herz gewachsen. Hier ist keine Schaufassade, kein aufgesetzter Schmuck, sondern ganz einfach ein ururaltes Gebilde, das vielleicht irgendwann ganz vom Regen weggewaschen wird. Trotzdem hält es stand und ist noch da in seiner stillen Würde. Wie ein ganz alter Mensch, über dessen Anwesenheit man sich jedes Mal freut. Ich hatte tatsächlich eine Art Mitgefühl mit dem alten Gemäuer, weil es sich so schlicht und ungeschminkt präsentiert. Innen ist die imposant grosse Kirche ähnlich schmucklos, sieht man von den fein gearbeiteten Kapitellen ab. Jede Säule erzählt eine kleine Geschichte mit echten Tieren, Fabelwesen, Monstern oder verrenkten Menschen, die sich um die Säule ranken. Die romanischen Verzierungen setzen sich in der Krypta fort. Man möchte nur noch staunen, stehenbleiben und gucken. Und das tat ich, aber in einer derartigen Entzückensstarre, dass ich vergass, Fotos zu machen. Die Stunde in San Michele werde ich immer in meinem Herzen bewahren – aber vorzuweisen habe ich nichts für die Daheimgebliebenen. Ich sehe es als gutes Zeichen, als Zeichen dafür, dass ich wirklich da war.

Ein anderer “Zufallsbefund” war das winzige Soncino. Wenn man noch mit Landkarten auf Papier reist, findet man solche kleinen Juwelen dank der Sterne, die manche Orte für besondere Schönheit bekommen haben. Zur Relation: das wenig entfernte, von Sehenswürdigkeiten strotzende Crema hat zwei, Soncino hatte einen. Obwohl es nicht mehr weit bis zu meinem Ziel für die Nacht war, wollte ich mir nach der Fahrt durch die Alpen ein bisschen die Beine vertreten und fuhr nach Soncino hinein. Ich bin ganz glücklich, dass ich meiner Neugier nachgegeben habe, denn es ist ein wunderhübsches malerisches Örtchen mit der üblichen wunderbar erhaltenen Burg und einem Kriegerdenkmal für den Ersten Weltkrieg. Von der ebenfalls komplett erhaltenen Stadtmauer aus dem 15. Jahrhundert hat man einen wunderbar weiten Blick über die sommerlichen Felder nach Süden, der einen so am Anfang des Urlaubs mit Vorfreude und Kribbeln erfüllt: was kommt da noch alles? Was werde ich in den nächsten Tagen alles sehen? Im Ort gibt es säulengestützte Arkadengänge, eine sehr alte Backstein-Pfarrkirche und ein fast so altes Kloster mit schattigem Kreuzgang daneben. Das Portal der Hauptkirche wurde von den beiden schon erwähnten braven Löwen bewacht, die denen in Bergamo ähneln. Die Kirche stammt zwar aus dem 12. Jahrhundert und sieht von aussen auch so aus, doch innen überrascht sie mit einer Jugendstil-Ausstattung: einem kobaltblauen Sternenhimmel und eindeutig jugendstilhaften Medaillons von Heiligen mit Lilien. Ein seltsamer Stilbruch, aber irgendwie auch schön, weil es die Liebe der Bewohner zu ihrer uralten Kirche widerspiegelt. Wenn ich dann noch lese, dass es in dem kleinen Nest ein zur Zeit leider geschlossenes Art-Deco-Kino gäbe, könnte ich noch mehr zum Soncino – Fan werden.

Lodi ist ein weiteres Juwel in der flachen Landschaft, vielleicht weniger bekannt als das eindrucksvolle Bergamo oder Cremona, aber in seiner alten Würde ähnlich berührend wie Pavia. Und wieder mit einem malerischen Domplatz, den man gar nicht mehr verlassen will. Stadtmauerresten. Gotischen Stadthäusern, vor denen man jederzeit einen Historienfilm drehen könnte. Man kann anscheinend alle vierzig Kilometer anhalten in der Lombardei und in Schönheit baden. Und kaum bin ich zurück, sagt mir ein Bekannter, dass Treviglio, das ich nur für einen Umsteigepunkt auf dem Weg nach Mailand gehalten habe, so eine hübsche Altstadt habe. Es gibt noch viel zu entdecken, und ich vermisse die lustigen Glockenspiele von hohen Kirchtürmen schon so sehr, dass ich überlege, wann ich wieder nach Norditalien fahren kann.

Solotrip

Wer mich kennt, weiss, dass ich in Kammermusik und dem Musizieren mit anderen verwandten Seelen aufgehen kann. Ich mag es auch, einen ganzen Chor zu begleiten und durch die Musik Teil eines grösseren Ganzen zu werden, in dem ich selber unwichtig werde. Aber am besten ist es immer noch, solo zu spielen. Völlig auf sich allein gestellt und für alles selber verantwortlich zu sein liegt mir einfach. Das fängt an bei der Auswahl der Stücke und setzt sich im Tempo, im Verweilen, in jeder Fermate fort. Wird man Pianist, weil man so ist, oder wird man so, weil man normalerweise immer allein spielt?

Diese Berufskrankheit spiegelt sich bei mir auch auf Urlaubsreisen wider. Zusammen kann es nett sein, aber die Krönung ist es doch, allein unterwegs zu sein. Zumal nach den unglaublich intensiven letzten Konzertwochen, in denen ich mit so vielen Menschen reden musste. In meinem Solourlaub in Italien begann ich jeden Tag in Stille mit Cappuccino und Hörnchen auf der Piazza und beendete ihn dort ebenso schweigend mit einem Aperol, der in der letzten Abendsonne vor der unglaublichen Kulisse des Doms und des Torturms leuchtete. Beide Male sass ich lange an meinem Tischchen, morgens mit dem Tagebuch, abends mit meiner Lektüre. Die Piazza del Duomo in Crema ist so grosszügig angelegt und mit so vielen Dutzend Cafétischen ausgestattet, dass ich auch nach neunzig Minuten nicht aufgefordert wurde, den Platz zu räumen. Oder eventuell noch was zu bestellen. Ich genoss es unglaublich, unter Menschen, aber allein zu sein, niemand grüssen zu müssen, keinem Bekannten zuzunicken oder kurzen Smalltalk zu halten, was mir unweigerlich passiert, wenn ich in meiner kleinen Stadt unter den Arkaden im Café sitze. Kaum vertauscht man die eine hübsche kleine Stadt nördlich der Alpen mit einer anderen hübschen Kleinstadt südlich der Berge, ist alles anders. Nicht nur das Lebensgefühl, sondern ein bisschen auch der ganze Mensch. Ich bin gern allein und es entspricht meinem introvertiertem Wesen am besten, mich unerkannt und unbekannt durchs Leben zu bewegen. Wie auf einem Präsentierteller in der ersten Reihe eines Kaffeehauses zu sitzen, direkt gegenüber vom Stadttor, wo mich jeder sofort sehen kann, ist zuhause undenkbar. In Crema habe ich es genossen und mich gefreut, wenn ich einen Tisch finden konnte, der mich ungehindert den ganzen Blick aufnehmen liess: den barocken Uhrturm mit der kleinen Kuppel und den zwei sanften Heiligen, die die Uhr flanieren und die Pizza bewachen. Den rhythmischen Schwung der perfekt ausgewogenen Renaissancearkaden, die sich zu einem anderen Turm mit dem venezianischen Markuslöwen hinziehen, der die Piazza auf der Nordseite begrenzt und an die jahrhundertelange venezianische Herrschaft in der Lombardei erinnert. Und nicht zuletzt der grandiose Dom aus unverblendetem rotem Backstein, von Barbarossa niedergebrannt und danach wieder aufgerichtet, weshalb er “erst” um 1280 datiert wird, obwohl er in seinen Grundmauern älter ist. Oder in meinem Rücken die Reihe von niedrigeren pastellfarbenen Stadthäusern, die die ganzen Cafés beherbergen und im Verhältnis zu den grandiosen Repräsentationsbauten wie der Kinderchor oder das Nachwuchsballett auf dieser malerischen Bühne der Architektur wirken. Was mich für meine Verhältnisse so ungewöhnlich gesellig und zur entspannten Leuteguckerin werden liess, war ganz einfach die italienische Hitze.

Ich hatte eine kleine Ferienwohnung ganz im Herzen der Stadt gemietet, wirklich nur ein paar Schritte vom Domplatz. Und wie das so ist mit schön fotografierten und enthusiastisch beschriebenen Anzeigen, erfährt man den Rest erst vor Ort: sie war hübsch, und mit hübschen und zum Teil alten Möbeln eingerichtet, und sie ist absolut in einem historischen Haus (das daneben zierte eine Gedenktafel, die erklärte, dass es 1635 erbaut wurde. Beide Häuser sehen sich so ähnlich, sind beide nur ein Zimmer breit und zwei Stockwerke hoch, dass ich die Ferienwohnung aufs gleiche Alter datieren würde). Was die Anzeige nicht sagte: dass die Wohnung nach Süden liegt und direkt unter dem flachen Dach. Die drei raumhohen Fenstertüren standen weit offen, um die ganze Kraft der Mittagssonne hereinzulassen, als ich die Wohnung bezog. Zwischen der Hitze draussen und der drinnen war kein Unterschied zu spüren. Und das alte steinerne Treppenhaus hatte noch mehr Hitze gespeichert nach den langen Wochen der regenlosen Hitzewelle in der Lombardei. So nett und perfekt gelegen die Wohnung war, sie war ein Backofen. Nachts liess ich alle drei Fenster sperrangelweit offen, um die italienische Nacht mit allen Sinnen aufnehmen zu können und das bisschen Abkühlung zu genießen, das geboten war. Aber tagsüber musste ich raus, um zu überleben. Und auf einmal verstand ich das Konzept der Piazza del Duomo: alle sassen hier, um der Hitze zu entfliehen. Alle hatten wahrscheinlich heisse Wohnungen in höheren Stockwerken. Und die Cafés liegen perfekt an der Nordseite des Platzes und haben wegen der Höhe der sie umgebenden Gebäude sehr lange am Tag Schatten, und dann auch schon früh wieder. Ausserdem regte sich hier eine leichte Brise durch den Torturm, von der ich in der Wohnung nichts mitbekommen hatte. So wurde ich zur entspannten Piazza-Sitzerin. Wer hätte das gedacht?

Doch abgesehen von dieser neuen Erkenntnis über mich verlief der Urlaub, wie ich ihn mir gewünscht hatte: ich wollte allein sein, um mich wieder zu spüren und wieder meinen Kern zu finden. Wenn der Alltag auf mich einstürmt, fühle ich mich oft zerfasert und löchrig und vergesse fast, wer ich bin. Ganz schlimm ist es, wenn ich nur noch lieblos und automatisch funktioniere und das Herz nicht mehr bei der Sache ist. Dann fürchte ich oft, mich zu verlieren. Irgendwann muss man die Bremse treten und dafür sorgen, dass die eigene Batterie wieder aufgeladen wird. Und ich weiss, dass Alleinsein, in – mich – Gehen, das beste Heilmittel dagegen ist. Meistens helfen meine täglichen Spaziergänge am Inn, aber wenn sich zu viel aufgebaut hat, ist es der schönste Luxus, sich ein paar Tage ganz allein zu gönnen. Doch ist es nicht seltsam, dass der Wunsch nach kompletten Rückzug, Stille und Ruhe, der ja eigentlich ein menschliches und tierisches Grundbedürfnis ist, schnell als Egoismus ausgelegt wird? (Der Begriff “Grundbedürfnis” ist übrigens vom besten kleinen Bruder von allen, der meinen Wunsch, ein paar Tage allein zu sein, gleich nachvollziehen konnte. Wo ich noch damit haderte, ob ich zu selbstsüchtig bin, erteilte er mir eine ganz klare Absolution.) (Hätte ich eine Schwester, die einigermassen wie ich gestrickt ist, hätte sie gefragt, für wie viele Tage ich vorkochen würde für den Gatten, ob ich genug Katzenfutter gekauft hätte und die Wäschekörbe leer sein. Dem Himmel sei gedankt für Brüder!)

Ein anderer Einwand, der kam, wenn ich von meinen Plänen erzählte, war, dass es so mutig sei, alleine weg zu fahren. Nicht aus den offensichtlichen Gründen wie Autopannen oder anderen praktischen Problemen, die einem als handylosen Mensch widerfahren könnten, sondern weil man auf sich allein geworfen wäre und seinen Gedanken nicht auskäme. Zwei Freundinnen würden sich deshalb nicht trauen, solo zu verreisen. Das hat mich erstaunt, denn das ist ja genau meine Motivation gewesen: in eine Art Klausur mit mir selber zu gehen, um mich wieder zu finden. Wirklich auf mich zurückgeworfen sein, mit so wenig Ablenkung von aussen wie möglich. Und zwar einfach so, ohne Anlass. Da war keine Wegkreuzung im Leben, vor der ich eine wichtige Entscheidung treffen muss, kein Problem, das durch langes Nachdenken gelöst werden muss, kein runder Geburtstag, nach dem man sich neu justieren will. Ich wollte allein sein, um eine ganz harmlose, aber willkommene Zwischenbilanz zu ziehen. Vielleicht könnte man es sogar als eine Art hygienische Massnahme bezeichnen? Ein Entschlacken und Reinigen, ein Häuten? Das geht nur allein. Wobei es sicher enorm viel ausmacht, aus welcher Ausgangslage man eine Reise allein antritt. Ich denke, wenn man nach einer Trennung oder einem Verlust alleine wegfährt, weil man sich nach einem Tapetenwechsel oder einem Heraufbeschwören früherer Zeiten sehnt, kann es schwierig oder sogar traurig werden. Vielleicht spürt man die eigene Einsamkeit in einer fremden Umgebung umso mehr. Meine Motivation war, meinem übervollen Leben, in dem sonst alles okay ist, für ein paar Tage zu entfliehen, um durch Kontemplation und Schweigen wieder zu mir zu finden. Und dafür darf’s ruhig auch schön um einen herum sein.

Mir hat es so unheimlich gutgetan, uralte romanische Kirchen anzuschauen und die Marmorlöwen, die das Portal bewachen, an der glattgeschliffenen Stelle am Rücken zu liebkosen, an denen sie schon seit Jahrhunderten getätschelt werden. Oder mit meinen Fingern Marmorintarsien nachzufahren und mich dabei zu fragen, ob jemand genau diese ovale Perlmutteinlage an der Kanzel auch schon mal streicheln musste. In Kreuzgängen an eine Säule gelehnt zu sitzen dem Wandern der Schatten zuzuschauen, ohne auf die Uhr zu blicken. Ich muss mit ganz viel Zeit meine Umgebung so sinnlich erfahren und lade dabei schneller auf als jedes Elektroauto an der Turbo-Ladestelle. Ich fühle mich geerdet wie bei nichts sonst, wenn ich die Verzierungen einer Kanzel berühre, die seit Jahrhunderten an dieser Stelle steht. Plötzlich tun sich innere Türen auf und ich verstehe meinen Platz in der Welt durch die Begegnung mit der Vergangenheit wieder neu. Getragen von einem Gefühl der Dankbarkeit bin ich leicht und mühelos heimgefahren. Und weil ich so frisch geerdet bin, habe ich Lust darauf, mit Schwung meinen Alltag hier wieder in Angriff zu nehmen.

Ein Labyrinth

Wurde Frau Winterer in ihrer eigenen Schule von unsicher blickenden Eltern oder dem kaugummikauenden UPS-Mann nach dem Weg gefragt, brauchte es nur eine klare Geste mit der Hand nach Süden oder Westen und eine knappe Erklärung: da vor und die fünfzehnte Tür links, hier rüber, eine Treppe hoch, dann gradeaus. Die Architektenphantasie aus Glas und hellem Beton, in der ausschliesslich rechte Winkel vorkamen, war achtzehn Jahre alt. Es gab nur ein Obergeschoss, und selbst das nicht überall. Der Hauptteil der Schule breitete sich flach in der flachen Landschaft aus. Da alles fast nur aus Erdgeschoss bestand, musste man zwar beträchtliche Wege an raumhohen Fensterflächen entlang zurücklegen, doch die waren einfach zu erklären.

Frau Winterers ehemalige Grundschule war ähnlich nüchtern. Sie war in den späten Sechzigerjahren auf dem Reissbrett entstanden. Auch hier war die Einteilung klar und phantasielos. Das Ausuferndste war noch das grosse bunte Wandmosaik im Eingang, das “Hans im Glück” darstellte. Frau Winterer liebte es, die kleinen unregelmässig geformten Steinchen in allen Juwelenfarben mit den Fingern zu berühren. Abgesehen davon, war die Schule ein zweckmässiger Ort ohne Geheimnisse oder Überraschungen. Sie war wunderbar geeignet für Feueralarmübungen oder um in die Anfangsgeheimnisse der Mathematik eingeweiht zu werden. Ausserhalb der Schulzeiten vergass man das Gebäude.

Beide Schulen könnte man, wenn man die Pläne hätte, jederzeit an jedem Ort dieser Welt wieder aufbauen. Und sie würden den gleichen verhaltenen Charme der Originale verbreiten. Ganz anders die Förderschule in ihrer kleinen Stadt: das weitläufige Gebäude war über Jahrhunderte gewachsen, unter anderem auch dadurch, dass um 1850 bereits bestehende historische Häuser in verwegener Manier zu einem vermeintlich einzigen zusammengeführt wurden. Zugegeben, man kann sich bei Regen trocken durch mehrere Gebäudeteile bewegen, ohne die Strasse betreten zu müssen. Trotzdem ist der Versuch, aus vielen nebeneinanderliegenden Häusern ein einziges zu machen, fehlgeschlagen. Das heutige Schulhaus trägt noch die Handschrift der ursprünglichen Gebäude und erinnert einen jederzeit daran, dass man gerade über knarrende Stufen Wände, Mauern und Jahrhunderte überschritten hatte.

Als Frau Winterer zur ersten Probe des Schülermusicals in die Förderschule ging, schlug ihr Frau Callas, die regieführende Kollegin vor, sich im ersten Stock vor dem Sekretariat zu treffen. Das sei einfacher, als den Weg in den Theatersaal zu erklären. Frau Winterer amüsierte sich etwas. Die Kollegin war vielleicht durch ihre Schülerklientel zu sehr daran gewöhnt, alles in kleine und machbare Schritte einzuteilen und wollte sie nicht durch eine ausführliche Erklärung überfordern. Doch als sie am vereinbarten Sommertag das kleine, barock anmutende Treppenhaus im ehemaligen Englischen Institut erklommen hatte, verstand sie Frau Callas. Die Treppe endete schon mal im ersten Stock, obwohl das Gebäude von aussen nach drei Stockwerken aussah. So vieles lenkte den Blick ab: das anmutige Oval aus gelbem Stuck an der Decke. Knarzendes altes Parkett, das jetzt am Ende der Pause durch Dutzende von Schüler- und Lehrerfüssen zum Singen gebracht wurde. Blickachsen in lange, leicht gewundene Flure, von denen weissgestrichene alte Türen abgingen. Und hier, rechts: ein Flur mit verglasten Arkaden, der früher wahrscheinlich ohne Fenster Teil eines Innenhofes gewesen war. In regelmässigen Abständen stützen sehr alte, bullige Säulen die geschwungenen Bögen. Nachdem Frau Winterer die Kollegin, die sie auch zum ersten Mal sah, begrüsst hatte und dem um sie herumwuselnden Schwarm von Zweitklässlern zugewinkt hatte – die Chorklasse, höchstwahrscheinlich – streichelte sie den rötlichen Stein einer Säule und kalkulierte kurz das Alter. Barock? Oder älter?

“Was für schöne Säulen. So ein altes Haus!”

Frau Callas sah sie zerstreut an, während sie sich gleichzeitig zwischen zwei kabbelnde Kinder schob und ihre Ordner unter dem Arm anders arrangierte: “Ja, es ist alles ziemlich alt hier. Sophie!” Wie konnte eine Kindermasse nur so wabern? Dabei waren es nur elf? Frau Winterer tätschelte die Säule zum letzten Mal, bevor sie wie in einem Schwarm von Fischen von der Musicalgruppe mitgetragen wurde, durch Flure, über eine kleine Treppe, nach rechts, nach links, noch mal über eine andere kleine Treppe. Frau Winterer war an alte Häuser in ihrer kleinen Stadt gewöhnt: von ihrem Lieblings-Fensterplatz im Café sah man in einen malerischen Renaissance – Innenhof, dessen harmonische Arkaden von einer uralten Glyzinie überwachsen waren. Die Praxis ihres Mannes lag in einem der historischen Häuser neben der Hauptkirche. Das Treppenhaus knarzte wunderbar, das alte Holzgeländer war glattgeschliffen von den vielen Berührungen über die Jahrhunderte. Innen im Flur gab es Aussparungen für Kienspanleuchten, aussen an der Fassade, zwischen zwei Fenstern des Sprechzimmers, prangte ein grosses Madonnen – Medaillon, das seit Jahrhunderten auf das Haus gegenüber blickte, in dem Mozart auf einer seiner Reisen übernachtet hatte. Greifbare und erlebbar Geschichte, die nahtlos in unser modernes Leben integriert wurde, war in der alten Stadt am Fluss der Normalzustand. Doch das ehemalige Englische Institut hier war noch mal eine andere Grössenordnung. Vor allem, weil es so verschachtelt und überraschend war. Die schmalen historischen Treppen, die an unerwarteten Stellen auftauchten, wurden noch zusätzlich verkleinert durch hölzerne Rollstuhlrampen. Rechnete man die vielen neuen Gesichter und Geräusche dazu, war das zu viel. Frau Winterer, die sich sonst so viel auf ihre Orientierung einbildete, hätte keinem den Weg zum Theatersaal beschreiben können. Geschweige denn ihn beim nächsten Mal allein finden können. Und das war umso erstaunlicher, als das Schulgebäude von der Strasse aus so klar und eindeutig wirkte. Es breitete sich imposant und langgezogen in einer der Hauptstrassen am Ende der Halbinsel aus und war selbst leicht gekrümmt wie die Strasse. Doch genau diese Krümmung und die lustige Lage des Grundstücks, das sich zum Inn zu strahlenförmig ausbreitete, führte zu seltsamen architektonischen Eigenheiten im Inneren des Gebäudes. Und die Fassade war buchstäblich nur Fassade: dahinter wurden im 19. Jahrhundert mindestens drei historische Häuser zu einem zusammengefasst. Zumindest sollte es von aussen so wirken. Innen führte der Vereinheitlichungsversuch zu eben jener verwirrenden Anzahl von Treppen, Gängen und Abzweigungen, die Frau Winterer das Gefühl von einem Fuchsbau gaben, in dem sie sich nie auskennen würde. Weil sie das Gebäude so faszinierte, unternahm Frau Winterer dezent heimliche Erkundungsgänge im Haus, so lange sie durch ihre Aufgabe als Musicalpianistin dazu legitimiert war. Dass sie sich das “heimlich” gleich abschminken konnte, bemerkte sie schon beim ersten kleinen Spaziergang durch die Schule: das Parkett knarrte derart, dass jeder einen sofort bemerkte. Trotzdem blieb Frau Winterer neugierig und fand die erstaunlichsten Winkel und Ecken: dort, wo der Logik und Symmetrie nach ein Treppenhaus sein sollte, gab es keines. Dafür eine gemütliche Teeküche in einem höhlenartigen kleinen Raum, von der ein anderer Gang abging, der einen rundumlaufenden Balkon sehen liess. (Zu ihrem Erstaunen war sie diagonal gegenüber dem Theatersaal, viel weiter davon entfernt, als sie gedacht hatte. Dazwischen lag der weitläufige grüne Pausenhof, in dessen Mitte ein Jugendstilpavillon als Kuriosität schon kaum mehr überraschte. Nun waren von der Renaissance bis zum frühen 20. Jahrhundert praktisch alle kunstgeschichtlichen Epochen in einem Gebäudekonglomerat vertreten.) Das andere knarzende Treppenhaus führte zwar nach oben, endete auch in den erwarteten Flur, aber auch an einer Tür, an der stand, dass sie immer verschlossen sein sollte. Ein hilfloser Versuch einer Art von Feuerschutz in diesem unübersichtlichen Gebäude? Ein anderes Treppenhaus? Oder ein Geheimgang?

Mit der Orientierung wurde es nicht besser beim nächsten Besuch. Frau Callas rief am Abend vorher an, dass wegen der Abschlussprüfungen der eine Flur gesperrt sei. Sie müssten sich gleich innen beim Eingang treffen und dann über den Innenhof zum Theatersaal gehen. Die wabernde Kinderschar hatte sie diesmal nicht im Schlepptau, die wurden schon im Saal von einer Helferin beaufsichtigt, doch trotzdem war ihr Schritt zielstrebig und viel zu schnell für die staunende Frau Winterer, die im Eiltempo das kleine Juwel des Innenhofs in sich aufnahm: jetzt sah man die Arkaden von aussen, und sie zogen sich harmonisch, aber in einem verqueren Winkel – keine rechten Winkel hier! – über drei Stockwerke. Die trapezförmige Stirnseite wurde oben von einer wunderschönen alten Uhr gekrönt. Rechts neben ihnen war ein uraltes Wasserbecken aus Stein mit einem Hahn darüber an der Wand. Und schon jagten sie eine unerwartet sich öffnende verglaste Treppe hoch, die wohl irgendwann im Jugendstil nachträglich an das Gebäude angeklebt worden war. Sie erleichterte immerhin Rollstuhlfahrern den Zugang zur Schule durch einen Treppenlift, aber der wirkte so nachträglich und fehl am Platz wie das ganze Gebilde. Keine Barrierefreiheit in einer Schule für Kinder mit speziellen Bedürfnissen war eigentlich erstaunlich. Aber es schien zu funktionieren. Das lichte Treppenhaus erinnerte an einen verspätet angebauten viktorianischen Wintergarten oder ein russisches Sommerhaus. Dabei hatte Frau Winterer die pittoreske Uhr noch gar nicht verarbeitet! Eine Bemerkung ihrer Kollegin gegenüber, die mit den Gedanken offensichtlich schon ganz im Musical war, wurde nur mit einem wenig emotionalen “Ja, die hab ich auch lang nicht bemerkt” kommentiert. War es möglich, dass man in diesem Märchenschloss von Schule unterrichtete und die vielen Eigenheiten und Überraschungen gar nicht wahrnahm? Oder nicht mehr? Würde sie die Säulen auch streicheln, wenn sie täglich hier wäre? Frau Winterer musste sich eingestehen, dass sie es tun würde. Gar nicht anders könnte. Aber sie würde sich auf Zeiten beschränken, zu denen sie alleine im Flur wäre.

Was Frau Callas an Interesse für das Gebäude vielleicht vermissen liess, machte sie durch ihren um so grösseren Enthusiasmus für das gemeinsame Musikprojekt wett. Ihre Begeisterung für Musik war die greifbare, ansteckende Liebe eines Menschen, der aus Vernunft einen anderen Beruf gewählt hatte, am liebsten aber den ganzen Tag singen würde. Was ihren Umgang mit den Kindern betraf, hatte Frau Winterer schon in den ersten Minuten, eigentlich schon beim ersten verwirrenden Gang Richtung Theatersaal, eine Gleichgesinnte erkannt. Die Kollegin begegnete den Kindern mit einer Mischung aus Geradlinigkeit und liebevoller Geduld, die nur kinderlose Frauen vollzeitmässig aufbringen können. Sie schien die Arbeit mit den Zweitklässlern genau so von Herzen zu geniessen wie Frau Winterer, wohlwissend, dass es zuhause manchmal zu ruhig war. Selbst wenn die Kinder gelegentlich zu viel Eigenleben entwickelten und eine gewisse Toleranzgrenze überschritten wurde, blieben die Ermahnungen liebevoll. Und wirkten. Frau Winterer war dankbar. Sie bemitleidete Lehrer, die es nötig hatten, feldwebelartig ihre Autorität auszuspielen. Mit so einem hätte sie nicht gerne zusammengewirkt. Wenn man Kinder für etwas begeisterte, lief die Sache von selbst. Das schien auch die Philosophie der Kollegin zu sein. Zusammen umschifften sie Klippen und kleinere Untiefen, wenn jemand seinen Text verwechselte, das Umziehen auf der Bühne nicht so rasch ging wie vorgesehen oder das Zurückbinden des Vorhangs länger – viel länger – dauerte als geplant. Falls es vorkam. Generell konnten die Zweitklässler ihre Parts erstaunlich gut und sangen mit Begeisterung und Herzblut. Im Chor ohnehin, aber auch solo. Frau Winterer bewunderte den Mut der kleinen Zwerge, sich einfach allein vor das von der Decke hängende Mikrophon zu stellen und ganze Lieder auswendig zu ihrer Begleitung zu singen. Das hätte ihr auch unglaublich Spass gemacht in dem Alter. Und sie war dankbar, so ein besonderes Projekt unterstützen zu können, das den Kindern Selbstvertrauen und Mut gab. Sie würden diese Theatervormittage garantiert nie im Leben vergessen.

Ein glücklicher Zufall führte sie schon wenige Tage später wieder in den historischen Theatersaal, diesmal, um unter eigener Regie ihr Schülervorspiel dort abzuhalten. Das erste seit drei Jahren – sie hatte Schüler, die wegen der Pandemie noch gar nie aufgetreten waren, obwohl sie schon einige Jahre Unterricht hatten. Das war traurig und noch nie dagewesen. Zwei Jahre lang hatte sie den Kindern erklärt, dass nichts laufen würde, weil sie wegen des Virus auf ihre Grosseltern Rücksicht nehmen sollten. Jetzt waren es die ukrainischen Flüchtlinge, die alle anderen Säle belegten. Entweder durch tatsächliches Wohnen dort oder durch Deutschkurse mit coronakonform aufgestellten Stühlen, die auch am Sonntag nicht anders arrangiert werden durften. (Wie sollte man einer spielwilligen Sechsjährigen erklären, dass sie nicht auftreten durfte, weil unbesetzte Stuhlreihen am Sonntag Vorrang hatten? In was für einer Welt wuchsen die Kleinen auf?!) Sie war froh, dass sich die Schule ganz unabhängig vom Musical schon davor bereit erklärt hatte, ihr den Saal an einem Sonntagnachmittag zu überlassen. Denn der Saal, den sie vorher noch nie betreten hatte, war ein kleines Juwel. Im 19. Jahrhundert von den Englischen Fräulein gebaut mit der Absicht, nicht nur ihrer Schule, sondern auch den Wasserburger Bürgern einen Ort der Erbauung und Unterhaltung zu bieten, hatte er den verstaubten Charme eines kleinen Provinztheaters. Inklusive rotem Vorhang, Kronleuchter und Stuck an der Decke. Die hohen weissen Fenster, die ringsum viel Licht hereinliessen, waren geöffnet. Eine leichte warme Brise strömte in den Saal, Töne flossen hinaus zum Inn. Zu ihrem Entzücken knarzte das honiggelbe Fischgrat – Parkett auch wieder zuverlässig, wenn Frau Winterer zur Moderation vom Flügel zu ihrem Platz ging – das Geräusch begleitete die ersten Töne ihrer kleinen Schüler, die es nicht erwarten konnten, endlich loszulegen.

Und Frau Winterer war glücklich. Trotz Moderation, die ihr immer ein Graus war, und allem anderen, was es zu bedenken und zu beachten gab, merkte sie, dass das ihr Leben war: kleine Menschen an die Musik heranzuführen und mitzuerleben, wie sie darin aufgingen und selbständig und selbstbewusst wurden. Wenn sie die Freude und Begeisterung der Kinder sah, die Konzentration auf den kleinen Gesichtern, das befreite und stolze Lächeln beim Verbeugen, spürte sie: das war es. Dafür war sie da. Das war alle Mühen wert. Und sollte es nach der Isolation wegen eines Virus eine Isolation wegen radioaktiver Strahlung geben, würde sie wieder zum Online-Unterricht übergehen. Egal, wie desolat der Zustand der Welt war: mit Musik war alles besser. Gerade in verstörenden Zeiten.