
In der zweiten Online – Unterrichtswoche, als es richtig kalt war und die Winterlandschaft vor meinem Fenster in der Sonne glitzerte, habe ich aus dem Wohnzimmer einer alten schwedischen Villa unterrichtet: weisse und hellgrüne Einrichtung, rechts ein hoher weisser Kachelofen, in dem ein Feuer flackert, ein behagliches Sofa, Zimmerpflanzen am Fensterbrett. Mit diesem Hintergrundbild habe ich meine liebste Lockdown – Phantasie ausgelebt, die ungefähr zu Schulbeginn aufkam, als alles anfing, kompliziert zu werden. Irgendwann dachte ich: ich will nur noch weg hier. Ganz weit weg. Irgendwohin, wo ich meine Ruhe habe und trotzdem online unterrichten kann. Und da fing ich an, von Nord – Norwegen zu träumen. Sehr kurze Tage, viel Schnee zum Räumen, alle zehn Tage den weiten Weg zum Supermarkt fahren – perfekt.
Ich bin noch hier. Physisch. Aber in meinen Tagträumen war ich vorletzte Woche in Skandinavien. Habe vor und nach dem Unterricht je neunzig Minuten im Halbdunkel Schnee geschippt und bin mittags, wenn es einigermassen Tag wurde, auf dem See neben dem Haus Schlittschuh gefahren, bevor ich mit meinen Online – Schülern losgelegt habe. In echt habe ich einen feinen Nusskuchen gebacken, der bis in mein Arbeitszimmer hoch geduftet hat und meine Norwegen – Träume mit zartem Zimtduft untermalt hat. Meine weisse dicke Zopfmusterjacke getragen. Dabei stört es mich kein bisschen, dass ich noch nie in Skandinavien war.
Genau wie meine nächste Phantasiereise – nach einem Woody – Allen – Film war ein Umzug nach New York angesagt. Ein anderes Sehnsuchtsziel von mir, noch unerreichbarer als Norwegen wegen noch mehr Wasser dazwischen. Aber seit Jahr(zehnt)en lese ich Romane, die in New York spielen, mit meinem inzwischen abgegriffenen Falk – Plan neben mir und stelle mir vor, in welches Museum ich zuerst gehen würde. Habe ein vielleicht geschöntes Bild von Brooklyn durch zwei Blogs, die ich regelmässig lese. Schaue Filme, in denen zu Fuss durch Manhattan gelaufen wird. Bereite Lasagne zu mit dem Soundtrack eines Woody – Allen – Films, was für mich Jazz – Ignorantin als echte Fortbildung durchgeht. Ich merke mir Adressen von Buchläden oder dem wunderbaren kleinen Bleistiftladen in der Orchard Street und schaue nach, welche U – Bahn – Station die nächste ist. Da ich als Klavierlehrerin wegen der horrenden Mieten in Manhattan wahrscheinlich in Brooklyn wohnen würde, habe ich die Fährverbindungen über den East River schon mal abgecheckt (Atlantic Avenue zum Pier 11: 9 Minuten, 2.75$) Ich könnte ganz in Ruhe vormittags Bleistifte kaufen in der Orchard Street, ganz ohne U – Bahn, und wäre pünktlich zum Unterrichten zurück. Nach einer fair gehandelten veganen Hafermilch – Latte im nachhaltigen Becher und einem Rosinenbagel im Café, natürlich. Und nachdem ich eventuell Noten in einem echten Geschäft ausgesucht habe und sie nicht online bestellen musste – aber jetzt kommen wir schon zu den sehr privaten, sehr aufregenden Phantasien einer Musikerin in der Provinz. Letzte Woche habe ich mich zum Hintergrundbild – Umzug entschlossen: mein Wohnzimmer in Brooklyn hat die typischen zwei hohen Altbau – Fenster, hellblaue Wände, viele Bücherregale und ein schwarzes Klavier.

So albern diese Gedankenexperimente klingen, haben sie doch eine gewisse positive Wirkung auf die allgemeine Seelenlage. Es macht tatsächlich einen Unterschied, ob man sich mehrere Stunden am Tag vor einem hübschen ungewohnten Hintergrund sieht oder ob es das immer gleiche Zimmer ist. (Wobei mein Zimmer ja auch in Ordnung ist. Und ich bin sicher: es gibt jemand in Brooklyn im Homeoffice, der sich wünscht, irgendwo in einer kleinen Stadt ganz im Grünen zu leben. Mit einem sauberen Fluss, der nicht nach Motoröl riecht. Frischer Luft. Grossen alten Bäumen vor dem Fenster und einem flammenden Winter – Sonnenuntergang dahinter. Kindern, die auf dem Hügel neben dem Haus Schlittenfahren.) Anfangs war ich erstaunt, wie sehr sich die Phantasiereise in den ganzen Alltag hineinzieht, bis hin zu: was würde ich in Schweden anziehen? Was in New York? Was würde ich kochen? Mich fasziniert auch die Vorstellung, wie sich mein Leben, so, wie es jetzt ist, in einer anderen Stadt anfühlen würde. Nicht aus einer Unzufriedenheit heraus, nicht aus Nostalgie, was hätte sein können – wobei das unweigerlich ein bisschen mitschwingt bei solchen Ausflügen in eine gedankliche Zwischenebene – , nicht aus dem konkreten Plan heraus, nächstes Jahr um diese Zeit will ich dort oder dort leben, sondern ganz einfach: wie wäre es, wenn ich jetzt dort wäre? Heute, an diesem einen, einmaligen Tag? In genau diesem trüben Wetter, mit einem zinngrauen Himmel, vorzugsweise Nieselregen oder sogar leichtem Schneefall? Es ist eine Art zur – Seite – Denken. Keine Rückschau, kein Wunschtraum für die Zukunft, keine andere zeitliche Ebene – als Musiker reist man ohnehin genug durch die Zeit – , sondern einfach eine andere Realität, jetzt, in diesem Moment. Eine Art von Realität, die gleichzeitig völlig irreal ist. Ich liebe diese Idee.
Und es tut gut. Mein Lockdown, diese immens lange runtergedrückte Pausentaste, ist bunt und spannend. Monotonie ist bis jetzt noch nicht eingetreten, und ich kann einen Bekannten nicht verstehen, der sich kürzlich beklagt hat, wie fad alles ist. Ich bin in Brooklyn aufgewacht und habe die Möwen kreischen hören – das ist nicht unbedingt fad. Dieses Gedankenexperiment öffnet Fenster nach innen und bringt ganz viel frische Luft ins Alltagsleben. Alles ist plötzlich neu, spannend und anders, wenn man sich vorstellt, man würde das tägliche Einerlei an einem anderen Ort erleben. Und der Ortswechsel muss offensichtlich nicht mal geographisch sein. Ist das nicht praktisch? Ich brauch kein Sabbat – Jahr, ich erlebe das einfach während des Lockdowns von zuhause aus. Fühle mich aber erfrischt und angeregt, als wäre ich auf einem anderen Kontinent gewesen. Wasserburg kann ein Stadtteil von New York werden, wenn man nur fest genug daran glaubt.
Aber dazu muss man mit einem Fuss in einer Traumwelt stehen und sich die Fähigkeit bewahrt haben, über den schnöden Alltag hinauszusehen. Träumen können, Fernweh und Sehnsüchte haben, bedeutet ja nicht, dass man mit dem Hier und Jetzt unzufrieden ist. Aber es gibt immer eine Parallelwelt. Ein Parallel – Leben. Immer die Frage: wie würde ich leben, wenn manche Weichen anders gestellt worden wären oder ich bewusst den anderen Pfad eingeschlagen hätte? Ich bin gern in unserer kleinen gotischen Stadt hier. Aber es hält mich lebendig, mich in andere Orte hineinzuträumen, bis ins kleinste Detail. Nicht nach dem tragischen Motto aus Schubert’s “Wanderer”: “Dort, wo du nicht bist, da ist das Glück.” Sondern: dort, wo ich bin, ist das Glück. Und manchmal schaffe ich es, in Gedanken an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Wer keine Sehnsucht mehr hat, ist schon halb tot, oder? Und Sehnsucht oder die ganz konkrete Variante dieses Gefühls, Fernweh, können ein starker Motor sein, um noch bewusster im echten Leben zu stehen. Ich unterrichte diszipliniert über den Bildschirm, auch wenn ich jetzt schon am Rand einer Sehnenscheidenentzündung bin und das Gefühl habe, ich habe den Schratzen bisher hauptsächlich eine Emoji – Etikette (wie oft ist zu oft?) eingebläut. Trotz hehrer Ziele wie Notendiktat über die Distanz. Und ich arbeite nicht nur, um die Kinder bei der Stange zu halten, sondern auch, um Geld zu verdienen. Damit ich eventuell eines Tages doch noch nach Amerika komme. Denn, der geneigte Leser wird es schon bemerkt haben, die echten Sehnsuchtsziele sind für Nicht – Flieger mit einer komplizierten Anfahrt verbunden. Vielleicht, weil unerfüllte Sehnsucht die langlebigste und bittersüsseste ist. Ich träume auch von Paris. Oder Florenz. Aber nicht so heftig. Denn ich könnte in Rosenheim in einen Zug steigen und wäre dort. Da regt sich nicht so viel im Herzen, als wenn ich erst die Webseiten von Frachtschiffen, die einzelne Passagiere mitnehmen, studieren müsste. Eine gewisse Unerreichbarkeit, ein bisschen Herzziehen, gehört zur echten Sehnsucht dazu. Deshalb wird sie auch nie abgegriffen oder uninteressant.
Das war bei den Minnesängern so, das ist mit mir und New York so. Und wahrscheinlich will ich gar nicht, dass das Objekt meiner Begierde greifbar wird. Neben mir liegt der alte Falk – Plan. Auf dem Cover ist das World Trade Center, der Preis steht noch in D – Mark drauf. Ich hatte wahrlich genug Zeit, den Wunschtraum Wirklichkeit werden zu lassen. Aber von was würde ich dann träumen? Was wäre meine Utopie, mein Ort, an dem es alles besser und unterhaltsamer wäre? Was wäre meine Motivation, zu arbeiten und Geld auf einem extra Reisekonto zu sparen? Denn wenn ich mal dort gewesen wäre, bräuchte ich ein anderes Traumziel für den Eskapismus und als Antrieb, auch die weniger aufregenden Stunden im Unterrichtsalltag zu überstehen. Jeder hat diese Erfahrung gemacht, oder?
Es gab eine Zeit, in der mich fast ein Jahr lang auf dem gleichen Kontinent befand wie das jetzige Ziel meiner Tagträume. Als ich in der Nähe von Atlanta studierte, sind meine japanische Mitbewohnerin und ich zum (winzigen!) Bahnhof von Atlanta gefahren. Nach dem Bürgerkrieg war er gigantisch und eindrucksvoll. Heute steht da ein kleiner roter Backstein – Pavillon. Wir mussten wirklich zwei Mal hinschauen und konnten es nicht fassen: die Millionenstadt mit einem der grössten Flughäfen der Welt hat einen Bahnhof, der sowohl in Japan als auch Europa eher als Fahrradkeller durchgehen würde. Und in dem ungefähr zwei Fernzüge pro Tag verkehren. Nachdem wir uns genug amüsiert hatten, widmeten wir uns der Frage: New York oder New Orleans. Hätten wir uns damals für New York entschieden, würde ich jetzt den Falk – Plan von New Orleans anschmachten, da bin ich mir sicher. Aber – ich besitze nicht mal einen. Dafür viele schöne Erinnerungen an eine andere alte Stadt am Wasser, voll von alter Bausubstanz und stimmungsvollen Friedhöfen. An Silvester hielten wir uns wie Kindergartenkinder an der Hand, weil wir Angst hatten, uns in dem tumultartigen Trubel im French Quarter zu verlieren. An Neujahr frühstückten wir im “Café du Monde” mit den butterigesten Brioches und dem herrlichsten Kaffee meines Lebens. Dann fuhren wir mit der Fähre über den Mississippi, nur um wieder zurück zu fahren (ich fürchte mal, das war meine Idee. Ich mag sinnlose Fährfahrten. Und Fähren oder das auf – der – Fähre – Sein sind fast eine Metapher für diesen seltsamen Schwebezustand, den ich gedanklich grade auskoste: nicht völlig hier, noch nicht ganz dort, aber sehr zufrieden im Zwischenraum). Und bei allem sagten wir uns: wir fahren an Ostern nach New York.
Wir waren beide noch nie in New York. Sie ist wieder zurück in Japan und unterrichtet Englisch, ich sitze hier und kultiviere meine Flugangst. Damals hatten wir Zeit, aber kein Geld. Jetzt ist es umgekehrt – aber auf seine Art auch in Ordnung. Das New Orleans – Kapitel ist mit der Reise abgeschlossen. Ich käme nicht auf die Idee, mir vorzustellen, dort Klavierlehrerin zu sein. Aber ich habe Ideen und Inspiration für meine aktuellen Tagträume von dort mitgenommen. Das Tuckern der Fähren, der Dieselgestank und die flatternden Möwen können am East River auch nicht so anders als am Mississippi sein. Ich habe Stoff für Träume. Und solange es die gibt, ist das Leben reicher. Und bietet beste Unterhaltung, selbst wenn das Homeoffice noch wochenlang weitergehen sollte.