
Seit einigen Jahren kommt ein türkisches Mädchen zu mir in den Klavierunterricht, auf die ich mich jede Woche freue. Sie ist der reinste Sonnenschein, immer gut gelaunt, witzig und clever. Sie liebt es, Klavier zu spielen und versäumt nur im Ausnahmefall eine Stunde. Doch selbst wenn es ihr nicht so viel Spass machen würde, würde die Mutter schon darauf achten, dass sie dranbleibt: die Mutter nennt den Unterricht immer “Klavierkurs” und ruft früher und zuverlässiger als meine deutschen Eltern an, wann es nach den Ferien weitergeht mit dem “Klavierkurs”. Als ich sie kürzlich beim Einkaufen traf, fragte ich sie, was wir Anfang März machen sollen, da der Geburtstag ihrer Tochter genau auf den Klavierstundentag fällt. Ob wir’s ausfallen lassen sollen? Ohne mit der Wimper zu zucken, entgegnete sie kategorisch: “Sie kommt.” Keine Diskussion, weder mit mir noch mit dem Kind. Ich war beeindruckt.
Wir plauderten noch ein bisschen, wie es der Familie nach dem Umzug in die grössere Wohnung geht und wie sich meine Schülerin auf der weiterführenden Schule macht. Die Mutter bat mich um Rat: das Mädchen spricht mühelos deutsch, redet tatsächlich wie ein Wasserfall, hat aber immer schlechte Noten in der Schule, weil es mit dem Schreiben hapert. Was man tun kann. Mir fiel sofort ein: Lesen. Konsequent lesen, jeden Tag ein bisschen. (Sofort gab es die Ansage an die anwesende Tochter: weniger Handy, dafür jeden Abend in einem Buch lesen. Ist das klar? Ich war wieder beeindruckt.)
Ich beschloss, meiner Schülerin zum Geburtstag keine Noten, sondern ein Buch zu schenken. Ich musste nicht lange überlegen: Kindern in der 5./6. Klasse schenke ich seit Jahrzehnten und aus Überzeugung “Wölfe ums Schloss” von Joan Aiken, eine wirklich spannende Geschichte um Freundschaft und das wichtige wir-gegen-die-Welt – Gefühl. Ich habe es selbst von meiner ältesten Freundin beziehungsweise ihren Eltern bekommen, als ich in dem Alter war und halte es immer noch für eines der schönsten Jugendbücher. Doch nachdem ich es bestellt hatte, überlegte ich: wie viele deutsche Bücher mochte es wohl zuhause bei meinem türkischen Mädchen geben? Wie viele Bücher überhaupt? In dem Moment kam ich an der roten Telephonzelle am Bahnhofsplatz vorbei, in die man ausrangierte Bücher stellen kann. Und hatte zum ersten Mal die Idee, dort nach Kinderbüchern zu schauen. Normalerweise stelle ich selber häufiger Bücher hinein, als dass ich welche mitnehme wegen der ächzenden Regale hier. Aber ich kann es selten verhindern, einen Blick reinzuwerfen, weil man immer wieder schöne Sachen findet (aktuell gerade die sichtlich ungelesenen Memoiren von Brigitte Fassbaender, die der Gatte nach mir gelesen hat, mit genau so viel Interesse und wachsender Sympathie. Wir haben sogar beschlossen, dass wir’s nicht zurückbringen in die Zelle, weil das Buch wirklich nett geschrieben ist und wir etliche Freunde haben, die sich auch dafür interessieren könnten.) Siehe da, es gab eine Menge Kinderbücher. Wahrscheinlich hatte ich sie immer ausgeblendet. Ich fand gleich an diesem ersten Tag eine schöne Auswahl an gut erhaltenen Bänden: die Schneider-Bücher mit Mädchengeschichten, die ich aus meiner eigenen Teenagerzeit kenne. Enid Blyton (mein Herz schlug schneller. Diese Bücher habe ich geliebt damals!). Zwei ganz aktuelle Geschichten von einer Bande, die durch Computerspiele Zeitreisen unternimmt. Ein älteres Buch mit einem typischen Sechzigerjahre-Cover: “Soll ich es Simone sagen?” von einer Mary Stolz, das sich als interessanter Fund erwies. Ich habe tatsächlich ziemlich lange hineingelesen, als an einem der letzten Februartage so richtig viel Schnee fiel und wir uns mit Kerzen und Decken noch mal im Wohnzimmer einigeln konnten. Die Autorin ist 1920 geboren, im Original heisst das Buch “The Noonday Friends”. Mich fesselte nicht nur der realistische, nüchterne Blick auf das beengte Familienleben in einer kleinen Wohnung, der sich abhebt von der üblichen heilen Welt in Kinderbüchern, sondern auch die Tatsache, dass die Geschichte in Manhattan spielt. Hedy und ihre Familie wohnen im Greenwich Village zu einer Zeit, in der die Gegend noch lange nicht chic und gentrifiziert war. Heute trifft man in der 14. Strasse wahrscheinlich eher Rockstars oder Schauspielgrössen, die sich ihren Cold Brew holen, als Schulkinder, die nur zwei Blusen besitzen oder Väter, die arbeitslose Schuhverkäufer sind. Falls ich es jemals nach New York schaffe, möchte ich viel Zeit für den südlichen Teil einplanen. Seit Weihnachten noch mehr: ich habe ein wunderhübsches Buch bekommen mit Fotos von Haustüren oder Fassaden, die ein ganz anderes und sehr altmodisches Bild von New York zeichnen. Sehr viele davon sind in genau dieser Gegend entstanden, dem ältesten Teil von New York. Aber nicht nur deshalb muss gepilgert werden – ich würde auch zu gerne die 11. Strasse West entlanglaufen, in der Theodore aus dem “Distelfink” dann lebt. (Man sieht, für mich sind das alles keine Romangestalten, sondern gute Bekannte, die ich gern in ihrem Umfeld besuchen möchte.) Und jetzt hatte ich noch einen Roman, der in dieser Ecke spielt! Bin mal gespannt, ob meine Schülerin was damit anfangen kann. Vielleicht identifiziert man sich schneller mit kleinen Heldinnen, die Knatsch mit ihrer Freundin und Kummer zuhause haben, als mit solchen, bei denen alles wunderbar ist?
Nach dem ersten erfolgreichen Besuch der Büchertauschzelle schaute ich eine Woche später an einem Samstag mittag wieder vorbei. Schon von Weitem sah ich einen Vater mit Teenagersohn, die zusammen eine von diesen überdimensionierten belastbaren Taschen aus dem Drogeriemarkt trugen, Motto: diese Tasche besteht aus 29 PET-Flaschen. Sie stellten stapelweise Bücher in die Telephonzelle – Jugendbücher, wie sich herausstellte. Sah ganz nach einer Faschingsferien – Entrümpelungsaktion aus. Der Bub war sichtlich aus den Büchern herausgewachsen, meine Schülerin war im besten Alter, um sie zu schätzen. Ich fischte Astrid Lindgren, “Den kleinen Hobbit” und den “Jungen im blauen Pyjama” heraus, alle in wunderbarem, höchstens ein Mal gelesenen Zustand. Was wir für eine Wohlstandsgesellschaft sind, geht einem am eindrucksvollsten auf, wenn man merkt, was wir leichten Herzens weggeben. Aber es ist gut, wenn die Dinge zirkulieren und sich ein anderer darüber freut. Auch wenn meine Tasche schwer war auf dem Heimweg am Inn, hüpfte mein Herz, weil ich so viele schöne Bücher gefunden hatte. Mehr, als wenn ich mir selbst irgendwelche neuen gekauft hätte.
Bis Anfang März kamen noch weitere moderne Jugendbücher und die beiden Klassiker “Onkel Toms Hütte” und “Huckleberry Finn” dazu, alles in erstaunlich gutem Zustand. Die Bücher hatten übergangsweise einen Ehrenplatz auf meiner Kommode, schön aufgestellt und täglich getätschelt, um die traurige Telefonzellenenergie und das Trauma des Ausgesetztwerdens zu vertreiben. Was für ein netter Anblick – ich wäre stolz gewesen als Kind! Ich besorgte noch eine hübsche gepunktete Tasche für meine Schülerin und verbarg nicht vor ihr, wo die Bücher herkommen, damit sie eventuell selbst in den Tauschschränken weitergucken kann. Nach der Klavierstunde an ihrem Geburtstag half ich ihr, die Tasche zum Auto zu tragen. Sie war fast genau so schwer wie ihr Schulrucksack, an dem sie sich schon abschleppte (ich wundere mich immer über das physische Gewicht der Bildungsmittel – und irgendwann ist alles unsichtbar in unserem Kopf!). Jetzt bin ich gespannt, was ihr am besten gefällt. Das Spektrum geht von altmodischen Jugendbüchern bis zur “Schule der magischen Tiere”. Mal gucken, was die Fünftklässler von heute anspricht.
Wie immer, ein Nachtrag, weil das erlebte Leben weitergeht und die Geschichte noch weiterspinnt: in der nächsten Klavierstunde zeigte mir meine Schülerin ein Foto von ihrem winzigen Zimmer. Direkt neben dem Bett, vor dem Fenster, steht ihr kleiner Schreibtisch, links davon ist ein Bücherregal. Und dort zeigt sie mir sichtlich stolz und glücklich die neue Heimat der Bücher. Und ich war glücklich, denn das Mädchen hat offensichtlich das “Zuhause ist’s am Schönsten” – Gen: karierte Tagesdecke, nettes Gardinchen, besondere Bilder über dem Schreibtisch, die auch noch erläutert wurden. Die Bücher passen wunderbar in diese Umgebung und es sieht so aus, als ob sie geschätzt werden.
Bild: Instagram thelostlibrary