Am Klavier mit Jane Austen

Die meisten von uns kennen Jane Austen als Schriftstellerin geistreicher und unterhaltsamer Romane, die seit 200 Jahren nichts an Aktualität verloren haben. Was uns wirklich umtreibt, ist doch immer noch, wie und mit wem man im Leben häusliches Glück findet. Es mag wenig intellektuell erscheinen, die Suche nach dem richtigen Partner in den Mittelpunkt seiner Romane zu stellen, doch Jane Austen tut dies mit so viel Witz und Esprit, dass ihre Werke allen Vorwürfen zum Trotz zur Weltliteratur gezählt werden können.

Doch das Schreiben war nicht Jane Austens einzige Passion: ebenso konsequent und gerne spielte sie Klavier. Es gibt eine wunderbare Erinnerung ihrer Nichte Caroline, die berichtet, dass Tante Jane ihren Tag mit Musik begann. Der schlichte Satz enthält für mich so viel Schönes. „Ihren Tag“ klingt nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Verbunden mit dem wunderbaren Gefühl, dass alles jeden Morgen neu beginnt und man wieder alle Chancen hat, diesen Tag zu einem besonderen zu machen. Die Energie der frühen, stillen Morgenstunden ist heller und stärker, als wenn der Kopf schon den verschiedenen vielfältigen Anforderungen, die an uns gestellt werden, ausgesetzt war. Der Fokus ist klarer, das Erleben bewusster. Genau diese kostbare Zeit widmete sie dem Instrument und nicht ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Schreiben.

Die morgendliche Übestunde wird auch ganz prosaische Gründe gehabt haben, wie ihre Nichte bemerkt: “I suppose, that she might not trouble [the rest of her family], she chose her practising time before breakfast—when she could have the room to herself—She practiced every morning—She played very pretty tunes, I thought.”[1] Jane Austen hatte kein eigenes Zimmer für ihre kreativen Betätigungen. Schreiben oder Klavierspielen fanden im Wohnzimmer der Familie statt, in Zeitnischen oder tatsächlichen unbeobachteten Ecken des Raumes. Angeblich hatte sie ihren kleinen Schreibtisch – Durchmesser 47 Zentimeter[2] – derartig in einer Nische postiert, dass sie durch eine quietschende Tür rechtzeitig gewarnt wurde, wenn jemand das Zimmer betrat, und ihr Manuskript unter angefangenen Briefen versteckte. Und trotzdem übte sie täglich. Und schrieb sechs Romane, die uns heute noch begeistern.

Als Klavierspielerin registriert man mit Wohlgefallen, wie viele der Austenschen Romanheldinnen die gleiche Leidenschaft teilen: Georgiana Darcy, die Schwester des berühmten Mr. Darcy aus „Pride and Prejudice“, spielt wunderschön und aus Liebe zur Musik. Mary Benett, die nervige kleine Schwester von Lizzy, spielt nicht gerade schön, aber ausdauernd und nutzt, sehr zum Leidwesen ihres Vaters, jede Gelegenheit, sich auf Abendgesellschaften zu produzieren. Marianne Dashwood, die romantische und überschwängliche jüngere Schwester in „Sense and Sensibility“, braucht das Klavier, um ihre verwirrten Gefühle zu ordnen und fällt dabei auch ihrem Verehrer Colonel Brandon auf. Jane Fairfax in „Emma“ ist möglicherweise die beste Pianistin, die Austen beschreibt. Wie Marianne Dashwood und Georgiana Darcy bekommt auch sie ein nagelneues Broadwood-Klavier von einem Verehrer geschenkt (Jane Austen selbst besass ein Tafelklavier von Stodart[3]) – doch diesmal ist er anonym, was natürlich den Dorfklatsch befeuert. Die Abendunterhaltung ist auf Tage gerettet! Und, man höre und staune, er hat sogar Noten zum Klavier dazugelegt! Gedruckte Noten, die damals sehr wertvoll waren. Jane Austen wählt hierfür die Etüden von Johann Baptist Cramer aus – „something quite new to me“.

Cramer ist leider der einzige Komponist, den sie namentlich in ihren Romanen erwähnt. Doch wir wissen ganz genau, was sie selbst gerne gespielt hat, allein am Morgen und auch abends, um ihre Familie zu unterhalten. Aus ihrem Besitz sind drei Notenalben erhalten, in die sie mit eigener Handschrift Stücke abschrieb, die sie gern mochte (siehe erste Fussnote – die Alben sind online zugänglich und auch eine optische Augenweide). Das war damals eine übliche Praxis, da es luxuriös teuer war, gedruckte Noten zu kaufen. Für uns ist dieses Dokument eine wertvolle Zeitkapsel, die nicht nur zeigt, welche Musik in englischen Wohnzimmern um 1800 erklang, sondern auch, welche Stücke und Komponisten Jane Austen favorisierte. In Briefen erwähnt sie immer wieder irische und schottische Volkslieder, die ihr besonders am Herzen lagen (sie kannte sie ebenfalls in den Arrangements von Haydn und Beethoven), ebenso Tänze, mit denen sie die Abendunterhaltung der jüngeren Generation begleitete. In einem Brief erwähnt sie auch, dass sie täglich üben muss, um für das Tanzvergnügen flotte und schwungvolle Stücke präsentieren zu können: „I will practice country dances, that we may have some amusement for our nephews and nieces, when we have the pleasure of their company.“ [4]

Unser besonderes Interesse gilt natürlich den reinen Klavierwerken, die sie festgehalten hat. Ignaz Pleyel scheint sie besonders gemocht zu haben, denn von ihm hat sie vierzehn Sonatinen notiert und nachweislich auch gerne gespielt. Haydn und Mozart, die praktisch Zeitgenossen von Jane Austen waren, haben ebenfalls einen besonderen Platz in ihrem Notenbuch. Nicht mehr ganz aktuell, aber offensichtlich ebenfalls geschätzt waren Werke von Händel, Bach und verschiedenen Söhnen von Bach.

Neben diesen bekannten Namen finden sich auch eine Reihe von Komponisten, die heutzutage fast vergessen sind wie Shield, Dibdin, Piccini oder Sterkel.

Seit Jahren träume ich davon, ein Schülerkonzert unter dem Motto „Am Klavier mit Jane Austen“ durchzuführen. Als ich das Projekt einer Kollegin gegenüber erwähnte, die an unserer Schule Musik und Englisch unterrichtet, wurde es im Handumdrehen Wirklichkeit. Ich schrieb in wenigen Tagen ein kleines Theaterstück mit vielen Austen – Zitaten. Strenggenommen ist es kein Stück mit einer Handlung, sondern ein Versuch, möglichst viele Stücke der Zeit vor 1800 in einem Konzertabend unterzubringen – wie die gefürchtete Gemüsesuppe, die plötzlich gern gegessen wird, wenn sie püriert, mit Sahnehäubchen und Croutons auf dem Tisch erscheint. Ich habe meinen Schülern unbemerkt so viel Wilhelm Friedemann Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Pleyel und Purcell untergejubelt wie nur möglich, und sie waren sogar noch stolz darauf, diese normalerweise wenig begehrte Literatur spielen zu dürfen. Das war der grösste Triumph dieses Projekts für mich: dass meine Truppe, die sonst nicht genug bekommen kann von Chopin oder Einaudi, plötzlich zu Experten wurde, welche Stücke vor 1810 schon existiert haben. Und selbst mehr darauf achteten als ich, ob es diese Literatur zu Janes Lebzeiten wirklich schon gegeben hat. 

Unser leichtestes Stück war eine Sonatina von Charles Henry Wilton, das anspruchsvollste Beethovens Rondo op. 51/2, das er trotz der Opusnähe zur Waldsteinsonate bereits 1797 komponiert hatte. Mit seiner empfindsamen und sanften Melodie passte es wunderbar in unsere Welt von Jane Austen. Die Kleineren spielten eine Gigue von Samuel Arnold, ein Allegro von Alexander Reinagle, eine Canzonetta von Beethovens Lehrer Christian Gottlob Neefe oder Beethoven’s Ecossaise, alles Stücke, die sich problemlos in Klavierschulen oder Sammlungen für Anfänger finden lassen. Die Älteren hatten das bekannte Solfeggio von Carl Phillip Emanuel Bach geübt, die Sonatine a-moll von Benda, die Pleyel-Sonatine in D-Dur oder die schon erwähnten Cramer-Etüden und lieferten so einen Überblick darüber, welche Literatur Jugendliche um 1800 gespielt haben könnten. „Special guest“ war ein Abiturient, der mit einer Schülerin von mir Carullis Gran Duo op. 70 für Gitarre und Klavier zum Besten gab. Der zarte, intime Klang der Gitarre passte wunderbar in unser elegantes Wohnzimmer auf der Bühne.

Musikalisch abgerundet wurde unser Konzertabend von drei englischen und schottischen Volksliedern, gesungen von unserem Schulchor. Jane Austen liebte diese Folklorestücke und hatte viele davon in ihr Notenalbum abgeschrieben.

Ich war überrascht, dass ausnahmslos jeder meiner Schüler eine Schauspielrolle übernehmen wollte, zusätzlich zum Klavierspielen. Wir Musiker fühlen uns ja generell wohl auf der Bühne, doch mir war vorher nicht klar, dass ich 17 kleine „Rampensäue“ unter meiner Fittiche habe. Doch so ist es, und im Lauf der Proben haben wir viele Rollen noch ausgebaut oder ihnen mehr Text gegeben, weil die Kinderchen gar zu überzeugend waren. Der meiste Teil der Handlung wurde von älteren Schülerinnen getragen, aber die Kleinen hatten auch ihre Highlights. Insgesamt ging das Spektrum von der 5. bis zur 12. Klasse und ich konnte besetzungsmässig aus dem Vollen schöpfen, bis hin zur Gruppe von lärmenden Kindern, die regelmässig durch Janes Wohnzimmer stürmten und sie beim Schreiben störten (Jane Austen wuchs mit sieben Geschwistern auf. Zusätzlich unterhielt ihr Vater, ein Geistlicher, ein kleines Internat für Knaben, die ebenfalls im Pfarrhaus wohnten. Später kamen Janes Nichten und Neffen zu Besuch und hielten sie vom Schreiben ab. Ich fand, dass diese ständig nachwachsenden Kinderscharen einen extra Auftritt verdienten. Sie legten, keine Überraschung, mit minimalen Regieanweisungen eine beeindruckende Leistung hin.)

Die Kostüme und Möbel stellten wir selbst oder liehen sie von wohlmeinenden Eltern und Freundinnen. Das Motto war „Weiss“, und es ist erstaunlich, wie einheitlich und elegant alles aussah, obwohl natürlich nichts wirklich stilecht war. Weisse Sommerkleider, besondere Schühchen, wenige alte Möbel bildeten das Rückgrat unseres 0 – Euro – Budget – Projekts.

Meine Kollegin war Feuer und Flamme, hat Erfahrung im Einstudieren von Musicals und weiss, wie man sich auf der Bühne bewegt. Ausserdem leitet sie die Technikgruppe unserer Schule, die meine schauspielunerfahrenen Schüler mit Headsets verstärkte. Es war aufregend genug, dass die Klavierschüler überhaupt Sprechrollen übernahmen. Wir konnten keine ausgebildeten Sprechstimmen erwarten, und ich war dankbar für die technische Zauberei, die es ihnen ermöglichte, natürlich zu sprechen.

Es war keine leichte Aufgabe, aus den vielen Romanstellen, in denen Klavier gespielt wird, eine Auswahl für unser Stück zu treffen. Ich beschränkte mich auf drei. Es begann mit dem Moment, in dem sich Colonel Brandon in Marianne Dashwood verliebt:

„In the evening, as Marianne was discovered to be musical, she was invited to play. The instrument was unlocked, everybody was prepared to be charmed, and Marianne, who sang very well, at their request went through the chief of the songs which Lady Middleton had brought into the family on her marriage, and which perhaps had lain ever since in the same position on the pianoforte; for her ladyship had celebrated the event by giving up music, although by her mother’s account she had played extremely well, and by her own was very fond of it.“

Die Szene nach der anonymen Lieferung des Broadwood-Klaviers, in der Frank Churchill Jane Fairfax hilft, den Klavierfuss mit Papier zu unterlegen, damit das Instrument nicht mehr wackelt, konnte natürlich nicht ausgelassen werden. Am Schluss kam meine Lieblingsszene, der Auftritt der pompösen Lady Catherine de Bourgh, die alles über’s Klavierspielen und Üben weiss, obwohl sie selber nicht spielt:

„There are few people in England, I suppose, who have more true enjoyment of music than myself, or a better natural taste. If I had ever learnt, I should have been a great proficient.“

Natürlich konnte ich es mir nicht verkneifen, folgende Bemerkung an den Schluss zu stellen. Schliesslich befanden wir uns in einer Schule:

„One cannot expect to excel, if one does not practice a great deal. It cannot be done too much. I often tell young ladies, that no excellence in music is to be acquired, without constant practice.“

Allerdings abgemildert durch ein allerletztes Schlusswort meiner Jane Austen, die die Kinder daran erinnert, die Freude beim Musikmachen nicht zu vergessen. Und die hatten sie! Sichtbar und hörbar! Jeder scheint es genossen zu haben, durch die Kostüme eine andere Persönlichkeit anzunehmen und quasi alle Verantwortung auf eine Rolle abzuwälzen. Und jeder hat besser und entspannter gespielt als in den berüchtigten Klassenabenden, in denen einer nach dem anderen mit feuchten Händen ans Klavier geht und weiss, dass die Eltern ihn mit den Klasskameraden vergleichen. Wir waren alle in einer anderen Welt, in der auf einmal Vieles möglich war und Kräfte freigesetzt wurden, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben.


[1] http://www.smithsonianmag.com/smart-news/jane-austens-music-collection-now-online

[2] http://www.janeaustens.house/object/jane-austens-writing-table

[3] https://melaniespanswick.com/2013/01/16/the-pianoforte-in-jane-austens-world/

[4] janeaustensworld.com/2010/07/12/jane-austen-and-music/