Una piccola pausa

Seit unserem wunderbaren Urlaub in Crema folge ich einer kleinen, feinen Konditorei, die ich dort kennengelernt habe, auf Instagram. Ich kann mich so richtig erfreuen an den liebevoll dekorierten Geburtstags- und Hochzeitstorten, die die Inhaberin akribisch in Fotos verewigt, bevor sie verschwinden. Wenn ich dort leben würde, würde ich garantiert eine der zauberhaften Torten für besondere Geburtstage meiner Lieben bestellen. Es ist auch spannend, weil die Ästhetik so ganz anders ist als hier. Unglaublich viele Farben, sehr viel Obst in allen Schattierungen des Regenbogens, oft sorgfältig arrangierte Erdbeeren in Scheibchen (oft Erdbeeren und dunkle Schokolade – ja!), eine feine schwungvolle Schrift, die zur Taufe oder zum 18. Geburtstag gratuliert. Vor Weihnachten oder Ostern wird das entsprechende Gebäck hergestellt: panettone oder colombe mit Hagelzucker, ausserdem grosse Hohlfiguren aus Schokolade, die ebenfalls dort gegossen werden und mit den eigenen Pralinen gefüllt werden. Eine besondere Augenweide ist es, wenn Bilder von Hochzeitsfeiern in der Villa Toscanini erscheinen, für die die Dame die mehrstöckigen, blumengeschmückten Hochzeitstorten herstellt. (Der Dirigent Toscanini lebte ein paar Kilometer von Crema in der Idylle der sanften lombardischen Landschaft und entspannte hier von seiner Arbeit an der Mailänder Scala. Heutzutage kann sein Anwesen für Feiern gemietet werden.) Ich lasse mich gern inspirieren von der endlosen Vielzahl an Ideen und staune manchmal nur, was der Konditorin noch alles einfällt. Ihre Kreativität scheint keine Grenzen zu kennen.

Aber sie schafft es, sich selbst Grenzen zu setzen, um genau das Sprudeln dieser Quelle zu bewahren: dann und wann taucht auf Insta statt sagenhaften Torten mitten in der Woche die Notiz “Chiuso per una piccola pausa” auf. Was nur legitim ist, wenn man in Stosszeiten vor Feiertagen am Fliessband arbeitet und an den Wochenenden für Freude auf Hochzeiten sorgt. Irgendwann braucht man die Pause, und sei es nur einen Tag zum Durchatmen. Ich finde es bewundernswert, dass sich eine Selbständige die auch nimmt. Es könnte ja jemand vorbeikommen und hundert Gramm Pralinen wollen! So würde ich denken… Manchmal ist die Pause auch für einen Ganache-Workshop in Mailand bestimmt (und die Ergebnisse sind atemberaubend. Solche makellosen, glänzenden Schokoladenflächen auf halbrunden Kuppeltorten – das muss man erst mal hinkriegen!), manchmal ohne Erklärung einfach nur eine Pause.

Ich beneide sie. Ich würde das gelegentlich auch gern machen, und zwar auch genau zu den Zeiten, an denen ich am Wochenende zu aktiv und kreativ in meinem Metier tätig bin. Denn im Gegensatz zur Konditorin besteht mein “Arbeitsmaterial” nicht aus stummen Kakaobohnen, Eiern oder Butter, sondern aus höchst hörbaren kleinen Menschen, die auch noch auf meine Anweisung hin mehr Geräusche produzieren. In den extremen letzten Wochen, als ich vormittags die Soloabende vorbereitete und dazu sechs Tage die Woche unterrichtete, kam ich akustisch absolut an meine Grenzen. Es reicht eigentlich schon das Mass der Beschallung, wenn man vormittags alleine übt. Selten habe ich mir einen Bürojob à la Kafka mehr gewünscht als dieses Jahr, um noch als Pianistin aktiv sein zu können. Ich habe gemerkt: bei der Anzahl an Schülern, die ich im Moment habe, kann ich nicht beides machen. Ich würde gern, aber es hat mich ausgelaugt. Derartig ausgelaugt, dass ich schon vor den Osterferien dachte, ich kann nicht mehr weitermachen. Was mich sehr frustriert hat, denn ich wollte nie eine dieser Lehrerinnen werden, die sich nur von Ferien zu Ferien hangeln. Vielleicht hat es auch etwas mit dem Alter zu tun und mit reduzierter Belastbarkeit? Ich brauche auf jeden Fall viel länger, um mich zu regenerieren, als früher.

Als immer mehr der älteren Schüler erzählten, dass sie nach Ostern auf Klassenreise sind, kam mir spontan die Idee, mich da einzuklinken: wenn schon eine der sechs Stunden ausfällt, warum nicht den ganzen April pausieren? Oder sogar bis zu den Pfingstferien? Das ist für alle noch mal eine schulaufgabenintensive Zeit. Ich könnte etwas Luft holen, wenn wenigstens die letzten Stunden des Tages wegfallen, und die Schüler hätten mehr Zeit für die Schule. Mein Vorschlag wurde mit derartiger Begeisterung aufgenommen, dass ich gemerkt habe, wie überfällig er ist. Wir brauchen alle die Chance zum Luftholen, nicht nur ich, sondern auch die Kinder mit ihren vielen Freizeitaktivitäten.

Mein Leben fühlt sich tatsächlich anders und besser an, seit meine Tage ein kleines bisschen kürzer sind. Das ist genau das Abendstündchen, nach dem ich mich sonst sehne. Normalerweise stürze ich mich an den Herd, kaum dass der letzte Schüler zur Tür raus ist, und meistens muss ich beim Kochen noch mit der anderen Hand telefonieren, um Dringendes für den nächsten Tag zu organisieren. Gleichzeitig kommt das Kätzchen und sucht nach seinem Napf, und die Spülmaschine will ausgeräumt werden. “Ein völlig normaler Abend”, werden die meisten Menschen, vor allem die mit Kindern, sagen. Ich habe auch lange genug so gelebt und alles gemeistert. Doch plötzlich habe ich mich gefragt: warum? Warum eigentlich der Stress? Und dieser depperte Anspruch, alles jonglieren zu können und am besten, während die Pasta kocht, noch mal schnell einen Satz Beethoven durchspielen, damit er sich setzt? Warum dieses etwas Meistern-Wollen? Wem muss ich was beweisen?

Seit mich meine lieben Schüler etwas von der Leine gelassen haben, geht’s mir besser. (Ich danke noch mal jedem, der dazu bereit war!) Ich werde die Zeit bis Pfingsten in Musse und Langsamkeit geniessen. Und ich muss mir etwas überlegen, wie ich das nächste Schuljahr besser überstehe. Der Überhang an Schülern hat verschiedene Gründe, die ich alle nicht wirklich beeinflussen kann: die Elternzeit des Kollegen und seine nur teilweise Rückkehr an die Schule, angekündigte Umzugspläne von Privatschülern, die jetzt doch später realisiert werden als geplant, die Rückkehr von zwei Geschwistern nach dem Tod eines Elternteils… Plötzlich findet man sich in einer Sechs-Tage-Woche wieder, obwohl man von vier Tagen träumt, um Zeit für Kammermusik und eigene Konzerte zu haben. Entspannung ist nicht in Sicht, deshalb muss ich auf andere Weise die Bremse reinhauen.

Zum ersten Mal im Leben werde ich mir deshalb eine echte Pause gönnen, ein selbst finanziertes Mini – Sabbatical, und im September und Oktober nicht unterrichten. Die Aussicht, von August bis Ende Oktober frei zu haben, entspannt mich schon, wenn ich nur daran denke. Daran sehe ich auch, wie nötig die Unterbrechung ist. Ich möchte den Job noch ein paar Jahre länger machen und muss selbst darauf achten, dass ich nicht ausbrenne. Ich werde die freie Zeit nutzen, um darüber nachzudenken, wie ich gleichzeitig Pianistin und Lehrerin sein kann. Und manchmal werde ich auch einfach gar nichts tun, nur dasitzen und in den Garten starren. Das fehlt mir sehr.

Fernsehvergnügen

Seit über 20 Jahren haben wir keinen an eine Antenne angeschlossenen Fernseher mehr und vermissen nichts. Wir schauen durchaus Filme, und sehr gerne, aber immer nur selbst ausgesuchte und gekaufte DVDs. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, ein Filmprogramm anzusehen, das jemand anders für einen ausgewählt hat.

Obwohl ich zufrieden bin mit Art und Umfang unseres Konsums, haben wir in den letzten zwei Wochen das Selbstexperiment eines Netflix – Abos unternommen. Hauptsächlich, weil ich “Maestro”, eine neuen Spielfilm über Leonard Bernstein, sehen wollte, der wohl wie andere Netflix – Produktionen nie auf DVD erscheinen wird. Und dann hört man immer, dass man so wunderbar Zeit verplempern und entspannen kann mit gestreamten Serien. Nach den Anstrengungen der letzten Wochen wollte ich mir was Gutes tun und einfach mal hemmungslos in den Ferien alles anschauen, was ich in den letzten Jahren verpasst habe.

“Maestro” habe ich trotz der Länge zwei Mal angeschaut, weil Bradley Cooper Bernstein erstaunlich ähnlich sieht, selbst beim Dirigieren, und ich es sehr bedaure, den sagenhaften Dirigenten nie live erlebt zu haben. Allerdings war mir zu wenig Mahler im Film, weshalb ich einen guten Teil der Ferien damit verbracht habe, auf dem Sofa liegend Bernsteins Aufnahme der 6. und 7. Symphonien zu hören. Während das bezahlte Abo ungenutzt weiterlief, was die sparsame Schwäbin in mir leicht nervös werden liess. Also genug mit Uralt – CDs! Runter vom Sofa! Rauf aufs andere Sofa und endlich mal das hochgelobte “Emily in Paris” angeschaut! Zugegeben, es ist ein hübscher kleiner Ausflug nach Paris. Man sieht die Brücken und nachts beleuchteten Strassenzüge aus ungewohnten Perspektiven aus der Höhe, und mir gefällt es wirklich, wie alle immer zu Fuss unterwegs sind über Kopfsteinpflaster und ich spähen konnte, ob mir der Strassenname was sagt. Aber die Handlung? Der Lebensinhalt (Emily arbeitet in einer Agentur, die Luxusmarken vertritt…)? Die Dialoge? Ich war nach viel zu wenig Folgen wieder draussen.

Jetzt tyrannisierte ich den Gatten. Keine eigenen DVDs mehr für die nächsten drei Wochen, meine dreizehn Euro müssten sich schliesslich amortisieren! Wir schauten mit viel Freude einen Spielfilm über Enrico Piaggio, den Vater der Vespa, auf italienisch an. Tolle Schauspieler, wunderbare Umgebung, Italien mit den Augen von Italienern gesehen und eine erstaunlich packende Handlung, obwohl es ja hauptsächlich um den Aufbruchsgeist der Nachkriegsjahre geht. Aber heroische Themen greifen doch immer. Die Neuverfilmung von “Rebecca” fand ich auch sehr fesselnd, vor allem, weil die zweite Mrs de Winter so stark und aktiv dargestellt wurde. Und Kristin Scott Thomas ist die gruseligste Mrs Danvers, die man sich nur vorstellen kann. Der beste Spielfilm war jedoch der über Richterin Ruth Bader-Ginsburg, “Die Berufung”. Sowohl der Gatte als auch ich klebten am Bildschirm, was wir gar nicht erwartet hatten bei der Thematik und den erwartet vielen Fallzitaten und Hinweisen auf Verfassung und Gesetzgebung. Felicity Jones liess die Ikone des Frauenrechts auf eindringliche Weise lebendig werden. Man konnte einfach nicht wegschauen, selbst, wenn sie nur Akten und Notizen wälzte. Doch nach diesem vielversprechenden Beginn ging es abwärts. Wir versuchten zwei unbefriedigende Italienfilme, einer zu klischeehaft, der andere mit einem so unbeteiligten Blickwinkel, dass er auch in Timbuktu hätte spielen können. Ich suchte nach Filmen mit Tom Hanks oder Diane Keaton. Man könnte annehmen, dass diese seit Jahrzehnten unermüdlich beschäftigten Schauspieler mit einer gewissen Auswahl vertreten wäre, aber es gibt aktuell von jedem genau einen Film im Streamingangebot. Den mit Diane Keaton probierte ich, weil ich sie liebe, aber er war leider unerträglich: zaunrackendürre Frauen, die ständig Tobsuchtsanfälle bekommen, krampfhaft ausgeführte amerikanische “Traditionen”, denen viel zu viel Bedeutung zugemessen wird wie das Brautstrausswerfen, noch mehr Klischees als im Toskanafilm. Ich hielt 40 Minuten aus. Obwohl ich dafür bezahlt hatte!

Immerhin fand der Gatte eine bluttriefende amerikanische Krimiserie, die ihm eine seltsame Art von Freude bereitet. Ich kann so was nicht anschauen. Meistens haben wir irgendeinen vorgeschlagenen Film ausprobiert, aufgegeben und dann hat er diese Serie angeschaut und ich bin mit einem Buch ins Bett. Am ersten Tag dachte ich noch: toll, jetzt hab ich das Abo und liege lesend im Bett wie immer. Wo bleibt das suchterzeugende Element, vor dem ich gewarnt wurde?!

Es stellte sich heraus: die Sucht, das sind die Bücher. Das, wohin man immer zurückkehrt, sich wohl fühlt, sich wirklich entspannen kann am Abend, ist für mich und uns nicht die Flimmerkiste. An einem regnerischen Ferientag waren wir zusammen in München und haben lange in der ausgefallenen Buchhandlung “Literatur Moths” am Isartor gestöbert. Ich kaufte “Allein” von Daniel Schreiber, der Gatte “Hitler, Stalin, meine Eltern und ich” von Daniel Finkelstein. Wieder zuhause, begannen wir mit unseren abendlichen Bechern Tee gleich zu lesen, ich wie immer auf dem Sofa, der Gatte am Esstisch. Eine Kerze brannte, es regnete immer noch und ich fühlte mich wohl und geborgen. Bis mir auf einmal einfiel: das Streaming – Abo!! Die Kohle rieselt nur so durch, und keiner nutzt es! Mir tat es kein bisschen weh, dass der Gatte und ich grade siebzig Euro für gebundene Bücher ausgegeben hatten. Die dreizehn, die ich einem Giganten in den Rachen geworfen habe, bereue ich. Aber plötzlich war ich entspannt. Warum sich das antun, wenn man kaum Genuss und Freude dabei hat? Das Leben ist zu kurz, um Filme zu streamen, die man eigentlich gar nicht sehen will. Wir sind ein bisschen wie Robert Seethalers Held Egger aus “Ein ganzes Leben”: “Zum Beispiel konnte er kaum das Beharrungsvermögen aufbringen, mit dem die meisten anderen Menschen stundenlang in das Flimmern hineinstarrten, von dem er insgeheim annahm, es könne einem auf Dauer das Augenlicht trüben und das Hirn aufweichen.” (S. 123)

Dabei wäre ich doch so gern begeistert von den Erscheinungen der Gegenwart! Ich finde es eigentlich schade, wenn ich immer wieder auf das zurückgeworfen werde, was schon Jahrhunderte lang funktioniert hat. Ich wäre so gern aufgeschlossen und modern und überzeugter Unterstützer aller möglichen digitalen Errungenschaften! Dann müsste ich auch nicht solche Artikel schreiben, die mich einmal mehr in die Dinosaurierecke stellen! Ich habe festgestellt, dass es Leute gibt, die drei oder vier Streamingabos haben. Und die auch nutzen. Wie macht man das nur?

Im Moment schimmelt das bereits gekündigte Abo unbeschäftigt vor sich hin. Noch zwei Wochen hätten wir die Möglichkeit, uns von den Vorteilen überzeugen zu lassen. Hat jemand vielleicht Vorschläge?

Atemberaubende Hortensien: aus dem Garten meiner Freundin Barbara