Unsere gelungene Aufführung von “Am Klavier mit Fanny Hensel” ist noch nicht lange genug her, als dass ich darüber schreiben könnte. Nur eins weiss ich: ich bin mal wieder überwältigt von der Leistungsbereitschaft und dem Engagement meiner Klavierschülerinnen und ihrem Mut, in der gut besetzten Aula und vor der Schulleitung zu spielen. Meine Mädchen werden wirklich abgehärtet, und Klavierspielen ist für sie langsam so normal wie Sprechen. Alle meine Schülerinnen waren dabei, die jüngsten, die ängstlichsten, die Aushängeschilder, und alle haben ihre Sache gut gemacht. Vielleicht hat es geholfen, dass sie auch schauspielen durften und in eine andere Rolle schlüpfen konnten? Hier zwei Ausschnitte aus unserem Stück, um einen Eindruck zu bekommen, wie viel Spass wir hatten. Das hier war die Stelle, die meine Kollegin “den nötigen comic relief” nannte, inspiriert durch zwei Schüler, die ständig das Kufsteinlied singen… Immerhin haben die jungen Herren wirklich gute Stimmen und haben schon dafür viel Applaus bekommen:
Fanny: „Maximilian, was für eine Freude! Herzlich willkommen!“
Maximilian: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, liebe Fanny. Meinen herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag! Und den will ich auch musikalisch darbringen!“
Stellt sich in Position und möchte anfangen, Akkordeon zu spielen, wird aber von Wilhelm gestoppt:
Wilhelm: „Wart mal kurz. Hab ich dir gesagt, dass heute nur Musik von Frauen gespielt wird?“
Maximilian: „Was ist denn jetzt los? Musik von Frauen?“
Wilhelm: „Ja, Fanny will das so. Zum Ausgleich, weil jahrhundertelang nur Musik von Männern gespielt wurde.“
Maximilian: „Sacklzement, ja was is denn das… „
Wilhelm: „Die regt sich schon wieder ab. Aber heute ist es so.“
Maximilian: „Aber dann haben wir ein echtes Problem. Wir wollten doch unser Lied singen!“ Wilhelm nickt. „Und ich bin den ganzen Weg von Bayern gekommen!“
Wilhelm: „Ich weiss, ich weiss. Wir müssen uns was einfallen lassen.“ Sie schauen sich an. Wilhelm kommt eine Idee: „Du, das Kufsteinlied, das ist doch ein Volkslied. Das gibt’s schon immer. Man weiss nicht wirklich, wer’s geschrieben hat, oder?“ Maximilian schüttelt den Kopf. „Vielleicht hat’s ja eine Frau geschrieben?“ Maximilian runzelt die Stirn.
Maximilian: „Das nimmt uns die Fanny nicht ab, da ist sie selber zu schlau.“ Wilhelm schaut ihn an:
Wilhelm: „Lass mich mal.“ Zu Fanny und den Kindern: „Jetzt gibt‘s eine besondere Überraschung. Unser Gast aus Bayern hat ein Lied aus Tirol mitgebracht, geschrieben von Anonym. Oder seiner Schwester.“
Fanny: „Anonym? Oder seine Schwester?“ Wilhelm und Maximilian nicken heftig. Fanny guckt sie zweifelnd an: „Ich find’s nicht nett, dass ihr mich an meinem Geburtstag auf den Arm nehmt.“
Wilhelm: „Ich bin sicher, der Anonymus hatte eine Schwester, die ihm manchmal geholfen hat. Schau, Du und Felix… Nannerl und Mozart…“
Fanny: „Jetzt komm mir noch mit Shakespeare und seiner Schwester… In Ordnung, dann nehmen wir mal an, dass es eine Anonyma war. Legt los!“
“Dürfen Frauen komponieren?” Für Fanny Hensel war das keine echte Frage, sie tat es einfach. Weil sie nicht anders konnte. Dennoch habe ich die Überlegung in mein Theaterstück eingebaut, wegen Gedankenanschubs und allgemeiner Erziehung meiner Schülerinnen, und um uns Diskussionsstoff zu liefern. Es ist immer ganz eigen, wenn die Worte, die man selbst geschrieben hat, auf einmal auf der Bühne lebendig werden und durch die Persönlichkeit der Schauspielerinnen noch mal eine andere, tiefere Bedeutung bekommen. Manchmal sitzt man nur ungläubig da und staunt, so seltsam das jetzt klingt. Für diese lange Szene zwischen Fanny und Clara Schumann hatten meine Kollegin und ich die beiden Mädchen zu einer Extraprobe bestellt und grosszügig Zeit eingeplant, weil es die zentrale Frage des Stücks ist. Doch wir waren im Nu fertig. Die beiden sagten zu Beginn, dass sie schon zusammen geprobt und sich was überlegt hätten. Sie spielten es wunderbar und überzeugend, und das Ende, die letzten Sätze von Clara, haben uns schon in der ersten Version, die dann auch die letzte blieb, umgeblasen. Unsere zierliche, kleine Clara nahm Fanny an der Hand, stellte sich ganz vorn an die Rampe und sprach mit so viel Selbstbewusstsein und Stärke, dass ich mir um die Zukunft der weiblichen Jugend überhaupt keine Sorgen mehr mache. Hier der Text:
Fanny: „Meinst du, es ist wichtig, was man in der Nacht vor seinem Geburtstag träumt?“
Clara: „Wenn es schön ist, auf jeden Fall!“
Fanny: „Es war schön, wunderschön. Ich bin mit so viel Hoffnung erwacht. Ich weiss nicht, wie ich es beschreiben soll – ich war in irgendeinem seltsamen Zwischenland. In einer anderen Zeit, und die Menschen, die ich getroffen habe, waren nicht wie wir. Eher wie Geister. Gute Geister. Ich glaube, manche konnten sogar fliegen. Ich fühlte mich auch leicht. Alles war voll Musik, wunderbare und ungewöhnliche Musik, wie ich sie noch nie gehört habe. Und es war alles Musik von Frauen. Niemand hat mit mir gesprochen, aber ich habe verstanden, dass eine Zeit kommen wird, in der es völlig normal ist, dass Frauen auch als Komponistinnen in Erscheinung treten werden. Da war zum Beispiel eine Dame in einem prächtigen fliederfarbenen Seidenkleid, reich geschmückt und mit Edelsteinen um den Hals. Sie spielte ein delikates kleines Stück, und während es ertönte, vermeinte ich, Veilchenduft zu riechen.“
Musik: Dora Pejacevic, Das Veilchen
Fanny: „Und dann war da eine andere, ebenso aussergewöhnlich gekleidet, aber noch mal anders. Eher nach französischer Manier, weisst du. Und sie spielte ein zauberhaftes Stück mit der Melodie in der linken Hand, das ich mir gut im Klavierunterricht vorstellen könnte.
Musik: Cécile Chaminade, Pièce romantique
Fanny: “Ich konnte nicht reden mit diesen Frauen, doch ich habe gesehen, dass Frauen komponieren können. Und dürfen.“
Clara: „Das ist in der Tat ein wunderschöner Traum. Ich wünschte, wir würden noch erleben, dass er Wirklichkeit wird.“ Sie schauen sich an.
Fanny: leiser „Ich fürchte, es wird noch dauern. Unsere Kinder werden es wohl noch nicht erleben. Unsere Enkel?“
Clara schaut zweifelnd:
Clara: „Ich weiss nicht, ob die Welt schon bereit dafür ist. Vielleicht wird es noch länger dauern. Aber, wie du weisst, die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Lass uns dranbleiben, egal was die Welt sagt! Lass uns weiter unsere Stücke schreiben, wenn wir Lust darauf haben, und lass uns die Mädchen so erziehen, dass das Komponieren für sie etwas Normales ist!“
Die beiden hielten sich an der Hand, Schulter an Schulter, schauten frontal in den Saal und strahlten so viel Kraft und Stärke aus, dass mir meine Kollegin zuwisperte: “Und jetzt stimmen sie noch die Marseillaise an!” Das war einer der wirklich erhebenden Momente im Stück. Ich hoffe, dass er den Jüngeren genau so im Gedächtnis bleiben wird wie mir.
Ein anderer, viel zarterer Moment wurde von vielen Zuhörerinnen erwähnt, und das freut mich, weil er mich auch in der Seele berührt hat. Am Anfang und am Ende erklang Fannys melancholische Mélodie cis-moll op. 2/4, und dazu erschien ein Portrait von ihr auf der Wand, während der Rest der Bühne in dunkelblaues Traumlicht gehüllt war. Zu Beginn der Aufführung war meine Reaktion auf ihren lieben Blick nur ein stossgebetartiges “Fanny, steh uns bei!”. Doch am Ende, als das mucksmäuschenstille Publikum sich das Klavierstück zum zweiten Mal anhörte, wurde mir ganz eigentümlich. Wir hatten Fanny für 70 Minuten wieder lebendig gemacht und uns über ihre wunderbare Musik gefreut. Sie war wirklich da gewesen, in unserer prosaischen modernen Aula. Wir sind mit ihr in Verbindung getreten und haben ihren guten Geist heraufbeschworen. Wie seltsam. Danach sagten mir zwei Zuhörerinnen, dass sie am Schluss, als Fannys Portrait wieder erschien, geweint haben. Was gibt es besseres, als sein Publikum wirklich zu berühren?
Trotzdem klang der Abend ausgelassen aus. Es gab bei der Geburtstagsfeier eine Tanzszene, und ich hatte schon damit gerechnet, dass wir die wiederholen dürfen. Guerillamässig wollte ich meine älteren Schüler dazu anstiften, dann unsere Schulleiterin aufzufordern, aber die Burschen sagten voll Überzeugung, dass sie nicht tanzen würde. Pustekuchen – sie schnappte sich das Mikrophon, bat uns noch mal um den Walzer und forderte die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises, die auch gekommen war, zum Walzer auf. Dass wir das noch erleben! Ich tanzte mit der neunjährigen Tochter meiner Freundin, meine Schülerinnen tanzen ohnehin immer und zu allem, und viele Eltern walzten durch die Aula. Und während wir versuchten, uns nicht anzurempeln und einen riesigen Spass hatten, schaute ich noch mal hoch zu Fannys Bild und dachte: liebe Fanny. Schön, dass es dich gibt.