Dürfen Frauen komponieren?

Unsere gelungene Aufführung von “Am Klavier mit Fanny Hensel” ist noch nicht lange genug her, als dass ich darüber schreiben könnte. Nur eins weiss ich: ich bin mal wieder überwältigt von der Leistungsbereitschaft und dem Engagement meiner Klavierschülerinnen und ihrem Mut, in der gut besetzten Aula und vor der Schulleitung zu spielen. Meine Mädchen werden wirklich abgehärtet, und Klavierspielen ist für sie langsam so normal wie Sprechen. Alle meine Schülerinnen waren dabei, die jüngsten, die ängstlichsten, die Aushängeschilder, und alle haben ihre Sache gut gemacht. Vielleicht hat es geholfen, dass sie auch schauspielen durften und in eine andere Rolle schlüpfen konnten? Hier zwei Ausschnitte aus unserem Stück, um einen Eindruck zu bekommen, wie viel Spass wir hatten. Das hier war die Stelle, die meine Kollegin “den nötigen comic relief” nannte, inspiriert durch zwei Schüler, die ständig das Kufsteinlied singen… Immerhin haben die jungen Herren wirklich gute Stimmen und haben schon dafür viel Applaus bekommen:

Fanny: „Maximilian, was für eine Freude! Herzlich willkommen!“

Maximilian: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite, liebe Fanny. Meinen herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag! Und den will ich auch musikalisch darbringen!“

Stellt sich in Position und möchte anfangen, Akkordeon zu spielen, wird aber von Wilhelm gestoppt:

Wilhelm: „Wart mal kurz. Hab ich dir gesagt, dass heute nur Musik von Frauen gespielt wird?“

Maximilian: „Was ist denn jetzt los? Musik von Frauen?“

Wilhelm: „Ja, Fanny will das so. Zum Ausgleich, weil jahrhundertelang nur Musik von Männern gespielt wurde.“

Maximilian: „Sacklzement, ja was is denn das… „

Wilhelm: „Die regt sich schon wieder ab. Aber heute ist es so.“

Maximilian: „Aber dann haben wir ein echtes Problem. Wir wollten doch unser Lied singen!“ Wilhelm nickt. „Und ich bin den ganzen Weg von Bayern gekommen!“

Wilhelm: „Ich weiss, ich weiss. Wir müssen uns was einfallen lassen.“ Sie schauen sich an. Wilhelm kommt eine Idee: „Du, das Kufsteinlied, das ist doch ein Volkslied. Das gibt’s schon immer. Man weiss nicht wirklich, wer’s geschrieben hat, oder?“ Maximilian schüttelt den Kopf. „Vielleicht hat’s ja eine Frau geschrieben?“ Maximilian runzelt die Stirn.

Maximilian: „Das nimmt uns die Fanny nicht ab, da ist sie selber zu schlau.“ Wilhelm schaut ihn an:

Wilhelm: „Lass mich mal.“ Zu Fanny und den Kindern: „Jetzt gibt‘s eine besondere Überraschung. Unser Gast aus Bayern hat ein Lied aus Tirol mitgebracht, geschrieben von Anonym. Oder seiner Schwester.“

Fanny: „Anonym? Oder seine Schwester?“ Wilhelm und Maximilian nicken heftig. Fanny guckt sie zweifelnd an: „Ich find’s nicht nett, dass ihr mich an meinem Geburtstag auf den Arm nehmt.“

Wilhelm: „Ich bin sicher, der Anonymus hatte eine Schwester, die ihm manchmal geholfen hat. Schau, Du und Felix… Nannerl und Mozart…“

Fanny: „Jetzt komm mir noch mit Shakespeare und seiner Schwester… In Ordnung, dann nehmen wir mal an, dass es eine Anonyma war. Legt los!“

“Dürfen Frauen komponieren?” Für Fanny Hensel war das keine echte Frage, sie tat es einfach. Weil sie nicht anders konnte. Dennoch habe ich die Überlegung in mein Theaterstück eingebaut, wegen Gedankenanschubs und allgemeiner Erziehung meiner Schülerinnen, und um uns Diskussionsstoff zu liefern. Es ist immer ganz eigen, wenn die Worte, die man selbst geschrieben hat, auf einmal auf der Bühne lebendig werden und durch die Persönlichkeit der Schauspielerinnen noch mal eine andere, tiefere Bedeutung bekommen. Manchmal sitzt man nur ungläubig da und staunt, so seltsam das jetzt klingt. Für diese lange Szene zwischen Fanny und Clara Schumann hatten meine Kollegin und ich die beiden Mädchen zu einer Extraprobe bestellt und grosszügig Zeit eingeplant, weil es die zentrale Frage des Stücks ist. Doch wir waren im Nu fertig. Die beiden sagten zu Beginn, dass sie schon zusammen geprobt und sich was überlegt hätten. Sie spielten es wunderbar und überzeugend, und das Ende, die letzten Sätze von Clara, haben uns schon in der ersten Version, die dann auch die letzte blieb, umgeblasen. Unsere zierliche, kleine Clara nahm Fanny an der Hand, stellte sich ganz vorn an die Rampe und sprach mit so viel Selbstbewusstsein und Stärke, dass ich mir um die Zukunft der weiblichen Jugend überhaupt keine Sorgen mehr mache. Hier der Text:

Fanny: „Meinst du, es ist wichtig, was man in der Nacht vor seinem Geburtstag träumt?“

Clara: „Wenn es schön ist, auf jeden Fall!“

Fanny: „Es war schön, wunderschön. Ich bin mit so viel Hoffnung erwacht. Ich weiss nicht, wie ich es beschreiben soll – ich war in irgendeinem seltsamen Zwischenland. In einer anderen Zeit, und die Menschen, die ich getroffen habe, waren nicht wie wir. Eher wie Geister. Gute Geister. Ich glaube, manche konnten sogar fliegen. Ich fühlte mich auch leicht. Alles war voll Musik, wunderbare und ungewöhnliche Musik, wie ich sie noch nie gehört habe. Und es war alles Musik von Frauen. Niemand hat mit mir gesprochen, aber ich habe verstanden, dass eine Zeit kommen wird, in der es völlig normal ist, dass Frauen auch als Komponistinnen in Erscheinung treten werden. Da war zum Beispiel eine Dame in einem prächtigen fliederfarbenen Seidenkleid, reich geschmückt und mit Edelsteinen um den Hals. Sie spielte ein delikates kleines Stück, und während es ertönte, vermeinte ich, Veilchenduft zu riechen.“

Musik: Dora Pejacevic, Das Veilchen

Fanny: „Und dann war da eine andere, ebenso aussergewöhnlich gekleidet, aber noch mal anders. Eher nach französischer Manier, weisst du. Und sie spielte ein zauberhaftes Stück mit der Melodie in der linken Hand, das ich mir gut im Klavierunterricht vorstellen könnte.

Musik: Cécile Chaminade, Pièce romantique

Fanny: “Ich konnte nicht reden mit diesen Frauen, doch ich habe gesehen, dass Frauen komponieren können. Und dürfen.“

Clara: „Das ist in der Tat ein wunderschöner Traum. Ich wünschte, wir würden noch erleben, dass er Wirklichkeit wird.“ Sie schauen sich an.

Fanny: leiser „Ich fürchte, es wird noch dauern. Unsere Kinder werden es wohl noch nicht erleben. Unsere Enkel?“

Clara schaut zweifelnd:

Clara: „Ich weiss nicht, ob die Welt schon bereit dafür ist. Vielleicht wird es noch länger dauern. Aber, wie du weisst, die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Lass uns dranbleiben, egal was die Welt sagt! Lass uns weiter unsere Stücke schreiben, wenn wir Lust darauf haben, und lass uns die Mädchen so erziehen, dass das Komponieren für sie etwas Normales ist!“

Die beiden hielten sich an der Hand, Schulter an Schulter, schauten frontal in den Saal und strahlten so viel Kraft und Stärke aus, dass mir meine Kollegin zuwisperte: “Und jetzt stimmen sie noch die Marseillaise an!” Das war einer der wirklich erhebenden Momente im Stück. Ich hoffe, dass er den Jüngeren genau so im Gedächtnis bleiben wird wie mir.

Ein anderer, viel zarterer Moment wurde von vielen Zuhörerinnen erwähnt, und das freut mich, weil er mich auch in der Seele berührt hat. Am Anfang und am Ende erklang Fannys melancholische Mélodie cis-moll op. 2/4, und dazu erschien ein Portrait von ihr auf der Wand, während der Rest der Bühne in dunkelblaues Traumlicht gehüllt war. Zu Beginn der Aufführung war meine Reaktion auf ihren lieben Blick nur ein stossgebetartiges “Fanny, steh uns bei!”. Doch am Ende, als das mucksmäuschenstille Publikum sich das Klavierstück zum zweiten Mal anhörte, wurde mir ganz eigentümlich. Wir hatten Fanny für 70 Minuten wieder lebendig gemacht und uns über ihre wunderbare Musik gefreut. Sie war wirklich da gewesen, in unserer prosaischen modernen Aula. Wir sind mit ihr in Verbindung getreten und haben ihren guten Geist heraufbeschworen. Wie seltsam. Danach sagten mir zwei Zuhörerinnen, dass sie am Schluss, als Fannys Portrait wieder erschien, geweint haben. Was gibt es besseres, als sein Publikum wirklich zu berühren?

Trotzdem klang der Abend ausgelassen aus. Es gab bei der Geburtstagsfeier eine Tanzszene, und ich hatte schon damit gerechnet, dass wir die wiederholen dürfen. Guerillamässig wollte ich meine älteren Schüler dazu anstiften, dann unsere Schulleiterin aufzufordern, aber die Burschen sagten voll Überzeugung, dass sie nicht tanzen würde. Pustekuchen – sie schnappte sich das Mikrophon, bat uns noch mal um den Walzer und forderte die Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises, die auch gekommen war, zum Walzer auf. Dass wir das noch erleben! Ich tanzte mit der neunjährigen Tochter meiner Freundin, meine Schülerinnen tanzen ohnehin immer und zu allem, und viele Eltern walzten durch die Aula. Und während wir versuchten, uns nicht anzurempeln und einen riesigen Spass hatten, schaute ich noch mal hoch zu Fannys Bild und dachte: liebe Fanny. Schön, dass es dich gibt.

“Am Klavier mit Fanny Hensel”

(Begrüssung für die erste Aufführung unseres Theaterstücks. Herzliche Einladung! 18. März 2024, 19 Uhr, Aula des Korbinian-Aigner-Gymnasiums Erding)

Fanny: eine Frau, die viel vorhat!

Als ich anfing, mich für dieses Projekt mit Fanny Hensel zu beschäftigen, stellte ich fest, dass sie am gleichen Tag wie meine Oma Geburtstag hat: am 14. November. Das wollte ich feiern! Deshalb beschloss ich, das Theaterstück an Fannys 33. Geburtstag spielen zu lassen. Das Jahr 1838 wählte ich, weil Fanny damals eine sehr glückliche Zeit in ihrem Leben erreicht hatte: sie war mit dem Mann, in den sie sich mit 17 Jahren verliebt hatte, verheiratet. Er unterstützte ihr Komponieren voll und ganz und war ihr auch sonst ein verlässlicher Gefährte. Beide liebten Italien und sollten kurz danach ein ganzes Jahr in Rom leben, zusammen mit ihrem einzigen Sohn Sebastian, der zum 10. Geburtstag mit ihnen auf den Vesuv steigen durfte. Das junge Ehepaar wohnte in Berlin im sogenannten Gartenhaus im Palais von Fannys Eltern. „Gartenhaus“ klingt bescheidener, als es war: die geräumige Dependance des elterlichen Anwesens bot genug Platz für Wohnräume, Wilhelms Atelier und Fannys Musikzimmer und blickte zudem in den parkähnlichen grossen Garten. 1838 waren sowohl Fanny als auch ihr Mann künstlerisch erfolgreich und mit verschiedenen wichtigen Projekten beschäftigt. Wilhelms Portraits waren begehrt – der preussische König und die englische Königin Victoria zählten zu seinen Auftraggebern. Fanny hatte 1831 die „Sonntagsmusiken“ im Gartensaal der Eltern wieder eingeführt. Der Saal bot Platz für bis zu 300 Zuhörer, und Fannys Konzerte zogen Kenner und Liebhaber von nah und fern an. Clara und Robert Schumann sassen ebenso im Publikum wie Franz Liszt oder eine Reihe von königlichen Hoheiten. Dieser halbprivate, nicht kommerzielle Rahmen war für eine Frau von Fannys Stand die einzige Möglichkeit, als Musikerin und Dirigentin aufzutreten. Sie haderte nicht mit ihrem Schicksal, sondern machte buchstäblich das Beste daraus, indem sie zum Beispiel Felix‘ monumentales Oratorium „Paulus“ hier aufführte und selbst dirigierte.

Wenn man Francoise Tillards hervorragende Biographie von Fanny liest, bekommt man den Eindruck, dass sie zu jeder Lebensphase eine vielbeschäftigte Frau war. In der Familie Mendelssohn war es üblich, zu Geburtstagen und anderen Familienfesten selbst etwas zu dichten und den Text auch zu vertonen. Allein diese Überraschungen nahmen einige Zeit in Anspruch. Neben dem Musizieren und Dirigieren war Fanny ihr ganzes kurzes Leben lang als Komponistin aktiv und äusserst produktiv. Ausserdem schrieben sich die Menschen damals viele und lange Briefe, aus denen wir auch heute noch viel über ihr Leben erfahren. Fanny hatte ständig zu tun – und genau so wollte ich sie heute auch darstellen, als eine vielseitige, an allem interessierte Frau, aus der die kreativen Ideen ständig heraussprudeln.

Obwohl Fanny Hensel heute im Mittelpunkt des heutigen Abends steht, werden wir leider nur zwei Stücke von ihr hören. Das liegt ganz einfach daran, dass es kaum wirklich leichte Klavierkompositionen von ihr gibt. Fanny war eine exzellente Pianistin, die auch selbst in Konzerten auftrat. Die meisten ihrer Klavierwerke liegen ausserhalb der Reichweite von angehenden Pianistinnen. Die zarte, melancholische „Mélodie“ cis-moll, die unseren Abend eröffnen wird, ist in unserer Literaturliste für die 12. Klasse vorgesehen (auch wenn sie von Sophie aus der 9. Klasse gespielt werden wird), das erste der „Vier römischen Klavierstücke“, das Paula spielen wird, sogar erst in der 13. Klasse. Für die Jüngeren war einfach nichts von Fanny dabei, deshalb habe ich das Spektrum erweitert: Fannys Zeitgenossin und Freundin Clara Schumann wird zu Besuch kommen und eines ihrer Stücke spielen. Hier muss ich gestehen, dass ich diesen Besuch für unser Stück erfunden habe. Die beiden Frauen kannten und schätzten sich, begegneten sich im echten Leben aber erst 1847, wenige Monate vor Fannys Tod. Später lasse ich Fanny praktischerweise von einem visionären Traum erzählen, in dem ihr komponierende Frauen begegnen, die nach ihr leben werden. Auf diese Art können wir Ihnen einen umfassenden Überblick über weibliches Komponieren von ungefähr 1820 bis 2020 präsentieren. Auch wenn wir nicht viele Stücke von Fanny Hensel dabeihaben, werden Sie heute ausschliesslich Musik von Frauen hören.

Dabei freut es mich besonders, dass wir auch eine lebende Komponistin dabeihaben, die ihr Stück selbst aufführen wird: Panna, die in die Rolle der Clara Schumann schlüpfen wird, schreibt selbst wunderschöne Klavierstücke. Panna ist zweihundertzwei Jahre nach Fanny geboren. Als ich sie fragte, ob sie jemals darüber nachdenkt, ob sie als Mädchen komponieren kann oder darf, konnte ich feststellen, dass das überhaupt kein Thema für sie ist. Das macht mich natürlich glücklich. Wir sind weit gekommen, dürfen aber trotzdem nicht aufhören, uns für die Anerkennung und Gleichbehandlung von Frauen einzusetzen.

Doch jetzt begeben wir uns in Fannys Welt. Hier wird sie auch gleich an der Wand auftauchen, in einem Portrait, das ihr Mann von ihr angefertigt hat. Er hat sie oft idealisierend gezeichnet, mit Anklängen an die Antike, und sie schreibt einmal, dass sie sich wünscht, er würde sie „ohne Gemüse auf dem Kopf“ malen, aber hier sehen wir sie mit einem dekorativen Kranz aus Trauben.

Ich stelle mir vor, dass der 14. November 1838 ein grauer, nebliger Tag war in Berlin. Die idyllische Gartenwelt des elterlichen Palais wird von zarten Nebelschwaden eingehüllt, die kahlen Bäume sind nur schemenhaft zu erkennen. Innen, im Gartenhaus, herrschen Leben und Betriebsamkeit. Kerzen brennen und der Geburtstagskuchen duftet. Ein ständiger Strom von Gratulanten wird Fanny an diesem Tag besuchen, ob sie will oder nicht…

Meine Erdinger Klavierschüler. Grund grosser Freude und etlicher grauer Haare…

Veränderungen zum Besseren

Im musischen Gymnasium gibt es für jede Jahrgangsstufe eine Liste von sogenannten Pflichtstücken. Man muss sie nicht spielen, aber der Schwierigkeitsgrad der verwendeten Literatur muss sich daran orientieren. Das ist unser Lehrplan. Natürlich ist es am Unproblematischsten, wenn man drei, vier Mal im Jahr eins der zwölf Stücke durchnimmt – für das eigene Gewissen, um wirklich sicher zu gehen, dass die SchülerInnen diese Art Literatur auch kennen, und vor allem für die KollegInnen im Klassenunterricht, die im sogenannten Klassenvorspiel die SchülerInnen bewerten und möglicherweise nicht genau einschätzen können, ob die Alternativen, die wir Klavierlehrer aussuchen, vom Schwierigkeitsgrad her den offiziell geforderten entsprechen. Für die fünfte bis elfte Klasse sind wir in Bayern mit dem berühmten blauen Pflichtstückeheft gesegnet, das man kaufen kann und in dem unproblematisch alles spielbereit abgedruckt ist. Die Auswahl ist ansprechend und vielseitig. Ich verwende dieses Heft tatsächlich gerne, die Kinder akzeptieren die meisten Stücke, und ich weiss vor allem: wenn ich sie ihnen aufgebe, muss ich keinen bemitleiden. Es ist zumutbar, diese Stücke zu spielen.

In der Oberstufe wird es allerdings etwas spannender. Die Literaturliste ist wichtiger denn je, da es jetzt wirklich um etwas geht, wenn man sich für’s Additum entschieden hat. Mit jedem Vorspiel sammelt man Punkte für das Abitur. Die Kollegen bewerten spürbar strenger und nehmen die Auswahl der Stücke ernster. Leider gibt es kein praktisches Heft mehr, in dem man auf einen Streich alle Stücke durchblättern kann, sondern man muss in Bibliotheken oder online eine Vielzahl von Heften durchsuchen. Glücklicherweise gibt es für uns Instrumentallehrer auch hier die Möglichkeit, mit den Wahlstücken gezielt auf den Kenntnisstand und die Vorlieben der SchülerInnen einzugehen (jede praktische Klausur besteht aus einem Wahl- und einem Pflichtstück). Sehr oft ist es so, dass unsere SchülerInnen vom Niveau her über den Pflichtstücken stehen, vor allem die, die ein Musikstudium anstreben. Der Schwierigkeitsgrad ist also nicht das, was mir Kopfzerbrechen bereitet hat an der Liste, sondern die Auswahl der Stücke. Und natürlich die Tatsache, dass die Kollegen gelegentlich die eckigsten, unschönsten rauspicken und man dann sechs Wochen mit den Konsequenzen leben muss. Der arme Schüler. Und ich auch.

Die Liste, mit der wir bisher leben mussten, wurde spürbar erstellt von sicher verdienten und erfahrenen KlavierpädagogInnen, deren Ausbildung schon etwas länger her zu sein scheint. Bis 1900 finde ich sie sehr gut, vernünftig und alltagstauglich (mit einer Ausnahme: es ist leichter Wahnsinn, beide Sätze von Beethovens op. 90 zu verlangen. Wir sind noch nicht in der Hochschule! Einer reicht vollkommen, um einen wirklich auf Trab zu halten!) Doch das 20. Jahrhundert ist eine verdörrte, brachliegende Wüstenei, in der man sich gar nicht gerne aufhält. Es gäbe so unglaublich viel Schönes, Klangvolles und Spannendes zu entdecken, aber – für mich – nicht unbedingt bei Hindemith, Pepping, Bernd Alois Zimmermann oder Karl Höller. Ich habe nichts persönlich gegen die Herren, und im passenden Umfeld haben ihre Stücke absolut ihre Berechtigung. Aber warum diese trocken – akademischen und wenig pianistischen Pflichtaufgaben, wenn es auch rhythmisch und klanglich suchterzeugend schöne Stücke des 20. Jahrhunderts gibt? Glücklicherweise werden in der Liste auch Messiaen und Ligeti angeboten, und diese Stücke gehören tatsächlich zu den Favoriten meiner SchülerInnen. Doch wenn man das Pech hat, eine Hindemith – Sonatine aufgebrummt zu bekommen, kann man sich auf traurige Zeiten einstellen. Die Eltern des fleissig übenden Sprösslings mit eingeschlossen. Ich möchte sogar behaupten, dass sich manche Kompositionen negativ auf die Grundstückspreise am Wohnort des Schülers auswirken können. Wie oft habe ich zu Kollegen gesagt, ich wünschte, diese und jenes Stück wären nicht mehr auf der Liste! Und stattdessen lieber X oder Y!

Und plötzlich darf ich mit einer Gruppe anderer KlavierlehrerInnen den Rotstift anlegen. Und zwar ganz wörtlich, in einer Excel-Tabelle. Ich hätte theoretisch die strengen, blutleeren Herren um 1950, 1960 rot markieren können, und wären genug andere meiner Meinung, wären sie sozusagen gecancelt. So wenig ich Hindemith mag, dachte ich doch, ihm muss Gerechtigkeit widerfahren. Vielleicht ist meine Abneigung subjektiv und sein Nutzen für die Klavierwelt nur mir verborgen geblieben? Ich habe deswegen in Rot im vorgesehenen Kommentarfeld erläutert, warum ich in Zukunft ohne Tränen auf gewisse Werke verzichten könnte. Mal sehen, was die Mehrheit sagt. (Ist das nicht seltsam? Kaum darf man mal Rache üben und den Komponisten an den Kragen, unter denen man schon wirklich gelitten hat, überfällt einen Milde und doch eine Art Respekt. Auch wenn ich diese Stücke nie auswählen würde, möchte ich das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.)

Statt mal ordentlich durchzufegen und zu wüten, dachte ich, ich könnte die Liste mit so vielen ansprechenden und interessanten Neuvorschlägen durchsetzen, dass Pepping und Reger schon zahlenmässig in den Hintergrund rutschen. Wie gesagt, die ersten dreihundert Jahre sind schön ausgesucht und könnten eigentlich so bleiben. Ich habe lediglich zwei Couperins reingemogelt. Die Barockauswahl ist wunderbar und zufriedenstellend, aber ausschliesslich deutsch. So sehr ich Bach liebe, finde ich, dass es nicht schadet, gelegentlich über den Tellerrand zu blicken und vielleicht zu gucken, was die Nachbarn so getrieben haben. Gerade das französische Barock ist das reinste Schatzkästchen an völlig anderen Stücken. Sie sind delikater, lautmalerischer und empfindsamer als die wohltuende Ordnung und Strenge eines Bach. Jedes zu seiner Zeit, würde ich sagen, doch es tut gut, beide Stile zu kennen.

Die jüngsten Komponisten im 20. Jahrhundert waren Ligeti (*1923) und Friedrich Gulda, Jahrgang 1930. Zeit, auch hier für etwas frischen Wind zu sorgen! William Gillock ist zwar 1917 geboren und somit noch älter als die beiden Vorgenannten, aber vom Stil her ganz anders. Sein “Fountain in the Rain” ist ein bewährtes Lieblingsstück meiner SchülerInnen und eine klangschöne und spieltechnisch spannende Heranführung an den echten Impressionismus. Als tatsächlich aktuelles Stück fügte ich noch Avner Dorman’s “Prelude No.1” ein. Er ist 1975 geboren, was in den Augen unserer SchülerInnen greisenhaft ist, aber – immerhin. Das Stück findet man in der sehr guten “Schirmer Piano Collection 20th/21st Century”, die voll ist mit anderen spannenden Möglichkeiten. Leider sind die meisten Stücke der Sammlung nicht kurz und leicht genug, um in unseren Katalog zu passen, aber Wahlstücke gäbe es hier massenhaft. Für entsprechende Schüler wäre zum Beispiel John Adams “China Gates” ein unvergessliches Stück mit Elementen der Minimal Music, als Pflichtstück ist es leider zu lang.

“Tune for Toru” von Mark-Anthony Turnage (*1960) ist nur eine Seite lang, wäre aber für ambitionierte SchülerInnen der Ausgangspunkt für eine feine kleine Dreiergruppe des 20. Jahrhunderts: Messiaens “La colombe” aus seinen Préludes ist bereits im Lehrplan. Nachdem ich Turnages Epitaph für Toru Takemitsu gefunden hatte, war es nur ein winziger Schritt (aber viel Kopfzerbrechen wegen der Spielbarkeit) zu Takemitsus eigenem Epitaph für Messiaen, seinem 1992 geschriebenem zweitem “Rain Tree Sketch”, In Memoriam Olivier Messiaen. Dieses Stück ist zugegeben ziemlich ambitioniert für’s Gymnasium, aber machbar mit etwas Eigeninitiative. Es ist auf jeden Fall lohnenswert, und als ich an einem verregneten, ruhigen Tag alle drei Stücke hintereinander spielte, war ich nur glücklich, was für besondere Klangwelten ein Klavier so erschaffen kann.

Nachdem ich mit dem 20. Jahrhundert zufrieden war, ging ich zum nächsten Problembereich. Denn was an unserer Literaturliste definitiv anders werden muss, ist die Frauenquote. Im Moment liegt sie bei sagenhaften 0 Prozent. So wachsen unsere SchülerInnen auf! Im Jahr 2023!! Und das, obwohl geschätzt 75 Prozent meiner SchülerInnen Mädchen sind! Es ist katastrophal und gleichzeitig lachhaft. Ich hoffe, dass wir die letzte Generation sind, die auf solche Umstände hinweisen muss. Dass vielleicht unsere Enkel mal sagen: kannst du dir vorstellen, dass bis 2023 nur männliche Komponisten auf der bayerischen Literaturliste waren?

Und es geht mir nicht nur um eine mathematisch errechnete Quote zur befohlenen Gleichstellung, sondern darum, den SchülerInnen eine wahre Schatzkiste von wunderschönen Stücken anzubieten, die bisher kaum oder nie gehört wurden. Und für uns LehrerInnen ist es vielleicht noch wichtiger und schöner als für die Kinder. Wir hören buchstäblich seit Jahrzehnten den Kanon rauf und runter. Für die Schüler ist es sicher immer wieder aufregend, die Pathétique oder ein Chopin – Nocturne zum ersten Mal zu spielen. Doch es tut gut, abseits der ausgetretenen Pfade zu wandern, sich selbst vielleicht in Frage stellen, neue Fingersätze zu suchen. Das gibt einem auch wieder neue Energie und andere Ideen für die bewährten alten Schlachtrösser.

Obwohl ich mich seit meiner Diplomarbeit mit Komponistinnen beschäftige, waren es richtig aufregende Tage, Literatur von Frauen noch mal vor dem Hintergrund der Spielbarkeit und Angemessenheit für die gymnasiale Oberstufe durchzugehen. Das Schönste war, dass ich selber viel gespielt habe und mein Flügel wieder mit Noten übersät war wie zu besten Zeiten. Allein die optische Fülle an Möglichkeiten stimmte mich optimistisch, dass man die Welt Takt für Takt, Zeile für Zeile doch verändern kann. Und sei es nur, um SchülerInnen Türen zu unbekannten Möglichkeiten zu öffnen, die sie dann in ihrer eigenen Weise weiterverfolgen können.

Ich begann, natürlich, mit meinen Sammlungen der Werke von Clara Schumann und Fanny Hensel. Unsere geliebten Quotenfrauen haben schon länger ihren Platz in renommierten deutschen Verlagen, sind immerhin seit 1976 bzw. 1986 verlegt und leicht zu beschaffen. Das Problem bei beiden ist, dass sie sehr gute Pianistinnen waren und ihre Stücke schnell anspruchsvoll werden. Wenn man SchülerInnen mit kleineren Händen berücksichtigen will, schränkt sich die Auswahl noch mal ein – beide Damen müssen eine erstaunliche Spannweite oder zumindest Wendigkeit besessen haben. Ich liebe zum Beispiel das erste von Fanny Hensels “Römischen Klavierstücken” in As-Dur, weiss aber auch, welche Arpeggien problematisch werden könnten für Mädchen mit schmaleren Händen. Ich habe es trotzdem aufgenommen in die Liste, weil es ein herrliches Beispiel einer gesanglichen Melodie über sanften Klangwogen ist. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Oder hoffentlich eine KlavierlehrerIn, die ihn weist. Von Clara Schumann schlug ich das “Pièce fugitive” op.15/1 vor, das neben einer delikat verwobenen Polyphonie auch durch die Kürze von zwei Seiten eines der Kriterien für die Liste erfüllt. Und es ist so klangschön, dass man es in Dauerschleife hören will. Ebenfalls das nächste aus diesem Opus, “Un poco agitato”, sowie ein Andante con sentimento h-moll. Von Fanny Hensel habe ich noch die Mélodie op.4 Nr.2 aufgenommen sowie “O Traum der Jugend”, ein veritables Lied ohne Worte.

Ein echter Glücksfall war, dass ich zufällig auf die hervorragende dreibändige Sammlung “Women Composers” von Melanie Spanswick stiess. Sie ist 2022 im Schott – Verlag erschienen und nach dem System der britischen Schwierigkeitsgrade geordnet. Wer an Musik von Frauen für Schüler interessiert ist, sollte sich den Gefallen tun und alle drei Bände in die private Bibliothek aufnehmen. Das Unterrichtsleben wird schlagartig schöner und abwechslungsreicher! Und ich fand tatsächlich Komponistinnen, von denen ich noch nie gehört habe wie die Mozart – Zeitgenossin Maria Hester Park (1760 – 1813). Ihre Sonate op. 4 rutschte gleich in die Abiturliste als willkommene Alternative zu Haydn oder Mozart. Eine Komponistin der Klassik ist wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Und wenn sie schon mal so alt sind, haben unsere SchülerInnen normalerweise genug Mozart und Haydn gespielt, um eine Abwechslung zu schätzen zu wissen. Ebenfalls aus diesem Heft ist Teresa Carrenos (1853 – 1917) “Plainte” aus “Elegie” op.17. So ausdrucksvoll, klangschön und spielbar, dass man es selbst gleich in den Fundus an Zugabestücken aufnehmen will. Ebenfalls “Sous les étoiles” von Amy Beach (1867 – 1944). Wie Carreno war sie zu Lebzeiten sehr bekannt, etabliert und mit Ehren überhäuft und auch in grösseren Genres wie Oper und Symphonien zuhause. Der bekannte Vorwurf, dass Frauen nur kurze, kleine Stücke komponieren “können”, gilt nicht mehr, sobald die Komponistinnen einigermassen Hilfe bei der Kinderbetreuung oder allgemein eine gewisse Unabhängigkeit haben. Unsere Zeitgenossinnen Kaija Saariaho oder Olga Neuwirth entkräften dieses Argument nonchalant, indem sie eine Oper oder ein grossangelegtes symphonisches Werk nach dem anderen “raushauen”.

Die beiden Französinnen, die ich in die Sammlung aufnahm, brauchen keine Einführung: Cécile Chaminade (1857 – 1944) ist nicht nur für ihr Flötenkonzert bekannt, sondern hinterliess darüber hinaus ein Opus von beinahe 400 Werken. Sie konzertierte in grossem Umfang und gehörte zu den ersten Künstlern, die Aufnahmen auf den Vorläufern des Welte-Mignon-Klaviers eingespielt hatten. In ihrem “Pièce romantique” op.9/1 darf die linke Hand eine Melodie in der schönsten Mittellage des Klaviers gestalten. Ganz anders die Tonsprache von Lili Boulanger (1893 – 1918): ihr “D’un vieux Jardin” ist komplizierter zu lesen, aber lohnenswert als echtes impressionistisches Klanggemälde. Eine kleine Ironie des Schicksals am Rande: Lili erhielt 1913 den begehrten “Prix de Rome”, um den sich Maurice Ravel fünf Mal vergebens beworben hatte.

Mit Mai Fukasawa (*1977) erlegte ich sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe: ihr “Between Dawn, Noon and Midnight” ist nicht nur ein wunderbar glitzerndes Werk des 21. Jahrhunderts, sondern ein weiteres Beispiel für überzeugendes weibliches Komponieren. Ich bin sicher, dass dieses Stück einer der Favoriten werden wird, nicht nur, weil es relativ leicht spielbar ist, sondern auch, weil die meditative, ebenfalls an Minimal Music erinnernde Stimmung unseren SchülerInnen in stressigen Klausurenphasen eine willkommene Entspannung bieten könnte.

Und noch eine Dame fand Aufnahme: Dora Pejacevic (1885 – 1923), über die ein informativer Artikel von Hans-Jürgen Schaal in PianoNews 2/23 erschienen ist. Auf sie treffen meine ganz persönlichen und völlig unwissenschaftlichen Auswahlkriterien, ob ein Klavierstück etwas taugt, in verblüffender Weise zu – verfolgt mich eine Melodie, wenn ich sie ein bisschen geübt habe? Schweben Fetzen davon durch meinen Kopf, wenn ich spazieren gehe? Sehnen sich meine Finger nach diesen unglaublich angenehm liegenden Arpeggien? Ich kann nur sagen, dass ich direkt süchtig nach ihren Stücken wurde, nachdem ich mir den 3. Band ihrer Klavierminiaturen gekauft hatte. Ihr “Blumenleben” op.19 war schon zu ihren Lebzeiten ihr beliebtestes Opus, und ich verstehe, warum. Es ist die wunderbarste jugendstilhafte Musik, die man sich vorstellen kann. Zum Beispiel die “Rose” aus diesem Opus – es klingt und fühlt sich an wie Richard Strauss, ist aber im Gegensatz zu seinen Klavierwerken auch für SchülerInnen spielbar. Das Stück war für mich die schönste Neuentdeckung in diesen Wochen, und ich werde es hoffentlich mit fähigen Leuten als Wahlstück durchnehmen. In den Katalog kam das machbarere “Veilchen”, auch, weil es nur eine Seite lang ist.

Cécile Chaminade, Klavieralbum 1, B-Note Musikverlag

Dora Pejacevic, Piano Miniatures Vol. 3

Klaviermusik von Komponistinnen, Edition Schott ED 7197

Melanie Spanswick, Women Composers, drei Bände, Schott ED 23422/23423/23475