Halt auf der schiefen Bahn

Als die Sterne sich nahekamen in einer Winternacht, in der längsten und dunkelsten Winternacht, habe ich unerwartet einen Hauch Trost und Hoffnung gespürt in diesem seltsamen Jahr. In den letzten Monaten ging so vieles drunter und drüber. Jeder musste sich täglich neu orientieren. Das lähmende Gefühl von Machtlosigkeit nahm in einem Ausmass zu, das einen langsam schon fast den Lebensmut verlieren lässt. Wie zu erwarten, lief auch das Sternegucken nicht wie erwartet ab – wir hatten dichten Nebel, schon den ganzen Tag und am Tag davor auch. Versuchshalber lief ich auf einen Hügel in der Nähe, aber – keine Sicht.

Am nächsten Tag suchte ich nach Bildern der Grossen Konjunktion im Netz. Ich erwartete: wunderbare professionelle Aufnahmen. Was ich nicht erwartete: dass der Anblick der kleinen Jupitermonde, die so brav und treu um den grossen Stern tanzen, mich so im Herzen rühren würde. Alles war seltsam und schief letztes Jahr. Ganz normal ist es ja auch nicht, wenn sich zwei besondere Planeten so sehr nahe kommen. Das Ereignis an sich passt irgendwie zum ausserordentlichen letzten Jahr, und ich dachte mir: machen wir das Beste draus, finden wir die nächste Schieflage auch noch schön. Schauen wir mal ein Bild an. Und dann – bin ich völlig berührt davon, dass in dem Chaos, in der unüblichen sich kreuzenden Bahn, die kleinen Monde so brav sind und ihrem grossen Anführer widerspruchslos auch dann noch folgen, wenn er sich auf Abwege begibt. Dass in der grossen Abweichung doch noch Ordnung herrscht. Die Loyalität der vier Trabanten traf mich wie kein anderes Bild der letzten Monate. Und hat mir unerwartet Hoffnung gegeben in diesem Jahr der Machtlosigkeit und langsamen Resignation. Egal, wo wir uns hinbewegen oder eben: nicht bewegen (dürfen), wir sind nicht allein. Jeder hat seine kleinen, aber wichtigen persönlichen Trabanten. Seien es Menschen, Haustiere, Schriftsteller, wichtige Neigungen – jeder hat etwas, das ihn hält und verankert im Chaos. Und das kann uns keiner nehmen, selbst wenn wir eine Art Hausarrest haben. Hätte ich nicht mit meinem Cellisten so konsequent Kammermusik gemacht, hätte ich nicht so viele Kuchen gebacken im letzten Jahr, hätte ich meine Seneca – Lektüre vernachlässigt: ich wäre die Wände hochgegangen. Und wie die kleinen Monde, waren diese wichtigen Gestirne immer da. Unauffällig, aber beständig. Ich musste sie nur anschauen, den Focus etwas verschieben, und merkte: ich bin nicht allein. Da leuchtet was in der Dunkelheit und weist mir den Weg. Ich schwirre nicht beziehungslos durch’s Weltall.

Und selbst wenn die Dunkelheit andauert, werden diese Begleiter weiter Licht und Sinn verbreiten. Wir sind nicht allein. Wir können anderen helfen, ihre strahlenden Monde zu finden (Seneca, Von der Ruhe des Herzens: “Denn nicht der allein leistet etwas für den Staat, der (…) sich an der Abstimmung über Krieg und Frieden beteiligt, sondern auch wer mit seinem Wort die Herzen der Jugend erreicht.”). Ein Wertesystem, eine moralische Unterstützung zu finden, die auch Krisenzeiten standhält. Es fühlt sich vielleicht seltsam an, wenn man Zuversicht verbreitet, ohne selbst restlos davon überzeugt zu sein. Aber ganz plötzlich löst sich ein Teilchen raus, findet seine eigene Umlaufbahn und fängt an, zu leuchten und zu strahlen. Und wir haben wieder den Atem, ein bisschen weiter zu machen.

Weihnachtsgeschichten

Noch nie im Leben hatte ich so früh Weihnachtsferien: der 18. Dezember wird dieses Jahr der letzte Schultag sein, an dem ich nachmittags noch online unterrichte. Wie viele Jahre lang hab ich noch am 23. bis abends meine Schüler versorgen müssen, und wie oft habe ich mich danach gesehnt, eher die Tage vor Weihnachten frei zu haben als die danach! Ich brauche sie viel eher zur Einstimmung, für letzte schöne heimliche Erledigungen, für kurze Besuche mit schön verpackten Geschenken. Und dieses Jahr sind wir gesegnet mit fast einer ganzen wunderbaren Woche Vorlauf. Minus die ganzen Weihnachtskonzerte und Weihnachtsfeiern – Zeit in Hülle und Fülle liegt vor uns, verheissungsvoll wie ein weites unberührtes Schneefeld. Man staunt es aus der Ferne an, um die unübersehbare Weite an freier Zeit nicht doch mit irgendeiner unbedachten Bewegung zu zerstören. Doch dieses Jahr kann uns praktisch nicht dazwischen kommen – keine sozialen Verpflichtungen zumindest. Das ist schon jetzt ein Weihnachtsgeschenk für mich, und es ist kostbar und besonders, weil wir nicht wissen, ob es je wieder so sein wird (ich versuche mal, die Kehrseite der Medaille zu sehen. Natürlich wäre es auch schön, unproblematisch und ohne grossartige Auflagen die Lieben sehen zu können. Aber jetzt muss man das Beste aus der Situation machen und schauen, wo die Nischen sind, die uns trotz allem Weihnachtsgefühle und Behaglichkeit spüren lassen.)

Die Karten sind fast alle geschrieben, langsam und mit Bedacht immer eine am Tag. Meistens morgens, wenn’s noch dunkel war, beim Licht der Adventskerze. Die Plätzchen warten gut verpackt in Blechdosen auf den grossen Tag. Die Früchtekuchen bekommen am 4. Advent ihr letztes Schlückchen Cognac, bevor sie verschenkfertig sind. Die Ideen für den Weihnachtsbrunch stehen, obwohl da noch mit Freude Kochbücher gewälzt werden. Ich habe einfach – Zeit. Noch fast eine Woche lang wunderbare freie Zeit. Was kann man Schöneres tun, als sich mit geliebten Weihnachtsgeschichten einzustimmen?

Ich habe (natürlich!) eine ganze Sammlung an Weihnachtsbüchern. Ursprünglich dachte ich, ich könnte alle in einem dicken fetten Weihnachts – Literaturlisten – Artikel vorstellen. Aber – wer hält denn das aus? Beim Spaziergang im dichten weichen Nebel habe ich überlegt, welches meine drei liebsten Geschichten sind. Und warum sie mir so gut gefallen. Der rote Faden scheint zu sein: Weihnachten in unüblichen Zeiten oder unter besonderen Umständen. Und immer: ein bescheidenes, selbstgemachtes Weihnachten. So schön Fülle und Überfluss grade in dieser Zeit sein können, so gross ist die Gefahr der Übersättigung und Überforderung. Optisch, akustisch, magenmässig. Wenn uns dieses Jahr etwas gelehrt hat, dann ist es der wirkliche Wert von Dingen, die wir für selbstverständlich genommen haben. Und der vorübergehende, aber trotzdem spürbare Verzicht auf manches. Egal ob es um Lebensmittel oder Mitmenschen geht: etwas nicht zur Verfügung zu haben lässt einen erst spüren, wie viel einem daran liegt. Wie viel trauriger das Leben ist, wenn manches nicht möglich ist. Und wie besonders und wertvoll es ist, Zugang zu etwas zu haben, was nicht selbstverständlich ist.

Die namenlose Freundin des kleinen Erzählers in Truman Capote’s “Eine Weihnachtserinnerung” weiss um dieses Lebensgefühl. Sie ist über 60, im Geiste aber ein Kind und im Haus nicht näher beschriebener Verwandten eher geduldet als geliebt. Ihre Weihnachtsgeschenke sind ein selbstgestrickter weisser Schal und eine Tüte Mandarinen. Das ist alles, was sie bekommt, aber sie ist überglücklich. Die Geschichte spielt zur Zeit Roosevelts im ländlichen Süden der USA. Buddy und seine Freundin verfügen kaum über eigenes Geld, aber sie verbreiten Weihnachtsfreude mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen: Eigeninitiative und Kreativität. Geben ist ihnen viel wichtiger als Nehmen. Im November zieht das ungleiche Paar mit einem alten Kinderwagen los, um Nüsse zu sammeln, die die Basis für ihre dreissig Früchtekuchen sind. Später werden die Kuchen im gleichen Wägelchen zur Post gebracht. Und auch Jahrzehnte später, und in gutsituierten Einkommensverhältnissen, kann ich bestätigen: für Alkohol und Porto geht das meiste Geld drauf bei Früchtekuchen… Im Dezember kommt das Wägelchen noch mal zum Einsatz, um massenweise Ilex und einen Christbaum aus dem Wald zu holen, der mit selbst ausgeschnittenen Papierfiguren geschmückt wird. Es ist ein bescheidenes Weihnachten, und trotzdem einer der glücklichsten Tage ihrer Bekanntschaft. Und bald ist nichts mehr, wie es war… Über der Geschichte liegt eine nebelzarte, süsse Melancholie, und es gibt Stellen von unerwarteter, klarer Einsicht, die einen tief berühren. Nicht nur deshalb bleibt sie mein Favorit unter den Weihnachtsgeschichten. Und weil sie einen so eindringlich lehrt, den Wert einer Tüte Mandarinen wieder neu zu schätzen. Ich kaufe Mandarinen im Dezember, natürlich, aber immer in dem Bewusstsein, dass sie was besonderes sind. Und nie, ohne an Buddy und seine Freundin zu denken.

Meine zweitliebste Weihnachtsgeschichte ist eigentlich das letzte Kapitel aus einem Roman. Ich mag das Kapitel und das ganze Buch so gerne, dass die Gefahr, dass ich wieder von vorne anfange, wenn ich’s schon zur Hand nehme, sehr gross ist: “The Herb of Grace” von Elisabeth Goudge erschien 1948 und erzählt, wie eine Familie im Nachkriegs – England eine neue Bleibe suchen muss und ausgerechnet ein märchenhaftes, jahrhundertealtes Haus bezieht. “Herb of Grace” ist auch der Name des Hauses am Fluss, das eine alte Pilgerherberge war. Romane mit einem Haus als Hauptperson sind ja immer meine Favoriten, und dieses ist ein ganz besonders verwunschenes Haus mit einem ebensolchen Wald drumherum, voll von Geschichten und wundersamen Erlebnissen. Die Familie und der diverse Anhang, der das Grundstück bewohnt, versuchen tapfer, mit den Nachkriegs – Rationierungen klarzukommen, die sowohl Lebensmittel als auch Kleiderstoffe betreffen. Und wie in der anderen Geschichte oben sind Kreativität und Erfindungsreichtum wichtiger als gefüllte Regale in den Läden. Das erste Weihnachtsfest im neuen – uralten – Haus wird ein Gesamterlebnis aus Worten, Musik, Schauspiel und Gebet. Und natürlich Essen. Jeder trägt bei, was seinen Talenten entspricht, und je ausgefallener und spezieller die Vorführungen werden, desto mehr fragt man sich, welcher gute Geist das abendfüllende Programm choreographiert hat. Auf jeden Fall wäre ich zu gern dabei gewesen in echt. Darüber zu lesen ist aber auch gut.

Meine Ausgaben der beiden Geschichten gibt’s leider nur antiquarisch: die Capote – Erzählung ist im wunderbaren dicken Sammelband “Heller Schein in dunkler Nacht”, 2008 herausgegeben von Rita Harenski, Arena – Verlag. Aus einem unerfindlichen Grund ist das Buch grade nicht erhältlich – ich hoffe, es wird wieder aufgelegt, denn es ist die beste Sammlung von Weihnachtserzählungen der Weltliteratur, die ich kenne, und hervorragend geeignet, um an Schüler – Weihnachtsfeiern was vorzulesen. Sollte es jemals wieder Weihnachtsfeiern geben. Meine Ausgabe vom “Herb of Grace” ist von 1949.

Aber das nächste Buch kann man einfach so im Buchladen bestellen! “Die kleine Hexe feiert Weihnachten” ist ein Dauerbrenner hier auf dem Sofatisch. Spätestens wenn ich das aus dem Regal hole, beginnt der Advent. Und meine Schüler blättern es immer wieder durch, alle Jahre wieder, weil die Illustrationen von Lieve Baeten so liebevoll und detailgetreu sind. Und ich glaube, heimlich möchte jeder wie die kleine Hexe leben: allein in einem Baumhaus, autark und selbstbestimmt, aber ganz gemütlich und heimelig. Alles ist klein und praktisch, aber das Hexchen hat alles, was es braucht, bis hin zu einer ebenso kleinen roten Katze. Obwohl sie einen schönen Baum holt und ihn liebevoll schmückt, ist ihr Weihnachten stressfrei und entspannt. Am meisten gefällt mir mit meinem Hang zum Backzwang, dass sie erst an Heiligabend nur eine Sorte Kekse bäckt – die auch umgehend zusammen mit dem Besuch verzehrt werden. Kein kompliziertes Lagern, kein Rauskramen von Dosen, keine verschiedenen Sorten… So gern ich backe, so sehr bewundere ich diese Einfachheit. Das wäre doch mal ein Plan – erst an Heiligabend was backen, sich dann sofort gemütlich vor den Baum zu setzen und sich dem Besuch widmen. Ich bin sicher, keiner hat was vermisst. Manchmal schaue ich tatsächlich selber noch dieses Bilderbuch an und denke mir immer: dieses Jahr wird’s einfacher und simpler. Hat bisher noch nicht geklappt, aber…

Etwas seekrank

Bin ich die einzige, oder lässt uns 2020 leicht seekrank zurück? Gerade die letzten Tagen waren geprägt von sich überstürzenden Beschlüssen und schon wieder anderen Beschlüssen, die die alten auf der linken Spur überholten, bevor ich sie richtig wahrgenommen hatte. War ich einen Tag nicht im Infoportal der Schule, fand ich eine neue Verordnung – und etwas weiter unten im Postkorb schon wieder die Aufhebung davon. Im September wurden uns offiziell die Klarsichtmasken ans Herz gelegt, damit die Schüler unsere Mimik sehen können und wir schöner in Verbindung bleiben – jetzt sind sie verboten und der Planet ist um etliche Kilo Plastikmüll reicher. Im letzten Schuljahr hiess es, es wird keine Leistungsnachweise online geben. Gestern durfte ich die kleinen Fünftklässler, die vom Denken her fast noch Viertklässler sind, darauf vorbereiten, dass ihr erstes Gruppenvorspiel im Januar vielleicht virtuell stattfinden wird (“Was ist ein Gruppenvorspiel?”) Zwei Tage, nachdem der Wechselunterricht ab der 8. Klasse angekündigt wurde, wurden sie komplett in den Distanzunterricht geschickt und waren von heut auf morgen nicht mehr da. Was dazu führte, dass ich alle, die in Erding oder auf meinem Heimweg wohnen, zuhause besuchte zu einer letzten Besprechung und Notenübergabe. Herr Söder hat sich das wahrscheinlich anders vorgestellt mit der Distanz, aber was soll man machen, wenn man mit 48 Stunden Vorankündigung Schüler, die man nur einmal in der Woche trifft, gar nicht mehr sehen darf? Dank des stetig rieselnden Neuschnees letzten Mittwoch wurde es eine direkt märchenhafte Winterreise und ein richtig kleines Abenteuer für mich, die ich ja sonst nie im Aussendienst tätig bin. Alles war weiss, sauber und hell. Es machte Spass, vor jeder Haustür die Stiefel abzutreten und Schneeflocken vom Mantel zu schütteln. Ich habe etliche prachtvolle Haustiere kennengelernt und generell mehr über meine Schüler erfahren (die junge Gräfin, die ich unterrichte, meinte understatement-mässig, sie würde auf den Parkplatz rauskommen, weil man den Eingang zu ihrer Wohnung ein bisschen schlecht findet. Die “Wohnung” ist in einem SCHLOSS, einem echten hübschen gelben Barockschloss! Worüber wir beide diskret hinwegsahen…)

Im Nachhinein war ich froh, meine älteren Schüler alle noch mal besucht und mit Arbeitsaufträgen versehen zu haben. Denn in der nächsten Stunde, als ich wohlgerüstet mit meinem Tablet und allem Wichtigen draufgeladen diese Schüler von der Schule aus kontaktieren wollte, gab es an der ganzen Schule kein WLAN. (Das Schiff schlingerte kurz, die Seekrankheit kam zurück.) Dafür wurde in den 90 Minuten, in denen ich die Kleineren live unterrichtete, die Lautsprecheranlage in der Schule überprüft – mit Weihnachtsschlagern. Die ohne Unterbrechung in jedem Zimmer laufen mussten. Immer wieder kam jemand von der Firma rein, die dafür zuständig ist, und entschuldigte sich, wenn er sah, wie wir verzweifelt unsere Klaviermusik über die unsäglichen Schlager legten. (Ich fühlte mich jetzt wirklich wie auf einem Schiff mit Schlagseite und bereits überspültem Deck, auf dem die Möbel nicht angeschraubt sind und man nicht nur das Inventar, sondern auch das rudernde Kindchen irgendwie versucht festzuhalten.) An dem Tag ging meine Gelassenheit fast über Bord und ich hab mich etwas zu sehr aufgeregt. Ein Wunder, dass ich nicht komplett meschugge wurde.

Aber ich habe was gelernt: manches liegt ausserhalb unseres Einflussbereichs. Und dann muss man es akzeptieren, statt dagegen anzukämpfen und sich dabei aufzureiben. Gestern wollte ich wieder die Daheimgebliebenen von der Schule aus virtuell unterrichten. Als ich mein Tablet öffnete, stutze ich kurz. In dem Moment kam mein Kollege rein, ebenfalls mit einem offenen Tablet in der Hand, und fragte: “Hast du auch kein…?” Wir grinsten nur noch. Und plauderten dann aufs Staatskosten und recht entspannt. Wenn die Schule nicht für eine ordentliche Internetverbindung sorgen kann, ist das nicht unser Problem. Letzte Woche wäre ich noch die Wände hochgegangen, jetzt trank ich einen Tee und genoss meine bezahlte Freistunde ganz bewusst.

Privat läuft alles etwas geordneter ab. Immerhin. Auch wenn hier wie überall eine unübersehbare Unlogik herrscht. Vor zwei Wochen durfte man bis zu einer Inzidenz von 200 noch unterrichten – jetzt sind Musikschulen und privater Unterricht wieder komplett verboten. Keiner konnte mir bis jetzt erklären, warum ich montags im Gymnasium neun Kinder live in Gruppen unterrichten darf, in einem winzigen Kämmerchen, dienstags aber niemand im Einzelunterricht zuhause, obwohl wir hier geschätzt 20 Quadratmeter pro Person haben. Und im Gegensatz zum Gymnasium lüften können – unsere Klavierzimmer haben nur Oberlichter, die man nicht aufmachen kann. Mittwochs in der Schule darf ich wieder live unterrichten, donnerstag zuhause nicht. Was soll ich da antworten, wenn eine kleine Maus, der ich gesagt habe, sie darf diese Woche nicht mehr kommen, mit einem Weihnachtsgeschenk vor der Tür steht und fragt, warum sie in die Schule darf, aber nicht zu mir. Wo doch bei mir viel weniger Kinder seien als in der Schule? Übrigens – hallo noch mal, Herr Söder – haben diese Woche fast alle Schüler, denen ich gesagt habe, sie dürfen nicht mehr kommen, hier geklingelt, um mir Weihnachtsgeschenke zu bringen. Ohne Masken. Es war also nicht nur so, dass ich zu den Kindern gefahren bin, sondern die andere Hälfte der Schüler kam zu mir. Das hat man davon, wenn man hopplahopp alle Kontakte einfrieren will. Vor allem kurz vor Weihnachten. Und natürlich hab ich meine Schüler nicht vor der Tür abgefertigt, sondern wir haben drinnen ein bisschen nett geplaudert – und dann noch mal die Onlinestunde am nächsten Tag bestätigt. Glücklicherweise haben Kinder ja einen Sinn für’s Absurde… Und jetzt habe ich mein ganzes Skype – Szenario wieder im Wohnzimmer aufgebaut, was überhaupt nicht mit der restlichen Weihnachtsdeko harmoniert und mein ästhetisches Empfinden sehr beleidigt. Trotzdem, hardcoremässig, gibt’s die Zimtkerze beim virtuellen Unterrichten. Und tatsächlich Schüler, die mich fragen, ob ich sie auch anzünde, wenn sie nicht kommen. Was für eine Genugtuung, wenn ich sie wortlos vor die Kamera halten kann. Die Welt mag schwanken, Kindchen, aber im Advent brennt die Zimtkerze.

Trotz allem

Und trotz allem wurde es Advent. Man glaubt es in diesem Jahr ja schon nicht mehr, dass irgendwas nach Plan läuft. Aber der Kalender wanderte weiter. Die erste Kerze wurde angezündet (und es bleibt bei einer – wir haben dieses Jahr eine schöne Adventskerze statt Kranz). Das Haus duftet köstlich nach Zimt und Nelken und die Plätzchendosen quellen schon jetzt über. Dabei habe ich doch noch gar nicht richtig angefangen mit dem Backen? Naseweise Schüler versuchen, mir einzureden, dass der Nikolaus “der Roland aus Edling” sei. Alle Jahre wieder gibt es so einen kleinen Defätisten, dem ich aber nicht glaube. Denn das stimmt einfach nicht.

Dass der Advent unerwarteterweise doch kam und mit dem ersten Dezember sogar ein kurzer, märchenhafter Puderzuckerschnee, erscheint in dem Jahr wie ein Wunder. Aber vielleicht ist es viel mehr eine innere Einstellung, die noch nötiger ist als in den anderen Jahren? Jetzt ist Advent, und das lassen wir uns in diesem Jahr der Rückschläge und des Verzichts nicht auch noch nehmen. Man braucht die vertrauten Rituale, Düfte, Geschmäcker mehr als sonst. Und anders als in den normal hektischen Jahren gibt es keine Ausrede, warum man auf einmal aufwacht und diese besonderen Wochen schon zur Hälfte zerronnen sind – jetzt haben wir mehr Zeit denn je, alles in Ruhe vorzubereiten und zu zelebrieren. Wie oft habe ich gefühlt bei Nacht und Nebel die Lichterkette vor der Haustür aufgehängt oder den Klavierengel, der uns jedes Jahr begleitet, schnell aus dem Keller geholt, bevor der erste Dezember – Schüler klingelte? Panikartig noch am Abend gebacken, damit ich am nächsten Tag die Schrift auf die Pfefferkuchen bekomme und sie noch die Chance hat, zu trocknen? Jetzt gibt es keine Montags- oder anderen Konzerte. Nichts, was man selber spielt oder anhören geht. Private Adventsfeiern sind auch quasi unmöglich – man ist vernünftig und spart sich die berüchtigte Virenexposition lieber für wichtigere Gelegenheiten wie Weihnachten auf. “Have yourself a merry little christmas” bekommt eine ganz neue und nicht unbedingt unwillkommene Bedeutung. Auch wenn man allein ist, findet Advent in unseren Herzen statt. Und ich freue mich aufrichtig auf Weihnachten und fühle mich trotz allem verbunden mit meinen Lieben.

Natürlich besonders, wenn ich backe und dabei daran denke, wem ich was schenke. Dank der Mithilfe meiner Mutter warten sechs prächtige englischen Weihnachtskuchen darauf, verschenkt zu werden. Wir haben am offiziellen britischen Anrührtag, einem kalten und nebligen Novembersonntag, begonnen, Trockenobst zu schneiden, Gewürze abzumessen und Mandeln zu blanchieren. Bei schöner Musik und Kerzenlicht standen wir wirklich den halben Tag und Abend in der Küche und haben höchst zufrieden abends vor dem Ins-Bett-Gehen die schweren Kuchen zum ersten Mal mit Brandy getränkt. Jeden Sonntag bis Weihnachten gibt es noch ein Löffelchen mehr. Ich staune über meine Selbstdisziplin, wenn mir beim Öffnen der Folie schon so herrliche Gerüche um die Nase schweben – man möchte wirklich sofort reinschneiden und probieren. Noch eine köstliche, qualvolle Vorfreude mehr…

Der Abend des ersten Adventssonntags 2020 wird mir immer in Erinnerung bleiben, weil er so völlig anders und trotzdem perfekt war. Obwohl wir ein stimmungvolles, schön dekoriertes Zuhause haben, genug zu essen im Kühlschrank, relativ brave Katzen und sogar noch kleine Bienenwachskerzen, die wunderbar duften, fanden wir uns aus verschiedenen Gründen abends auf einem Autobahn – Parkplatz wieder, hungrig und neunzig Minuten von zuhause. Seit dem Adventsfrühstück hatten wir nichts mehr gegessen, und da sonst nichts aufhaben darf, sind wir absurderweise zum Burger King gefahren. Wir essen alle zehn Jahre einen Burger. Ich finde schon die Bestellung kompliziert, geschweige denn von dem Monster abzubeissen. Auch wenn letztlich der Gatte meinen halben Burger essen durfte: ich wollte auch einen. Und so sassen wir mit den fettigen Tüten behaglich in unserem grossen, warmen Auto. Der Parkplatz war leer und dunkel. Ausser uns waren ein paar junge Hupfer da, die mit ihrem Fastfood im geöffneten Kofferraum ihrer rundum beschallten Wagen sassen. Mir wurde schon kalt, wenn ich sie mit ihren tiefsitzenden Hosen nur rumlaufen sah, und frei nach Reich – Ranicki, der lieber in einem Taxi als in einer Strassenbahn weint, stellten wir snobistisch fest, dass es schöner ist, Pommes in einem Jaguar zu essen statt in einem Ford Fiesta. Und hatten dann echte und tiefgehende Gespräche, während wir uns die fettigen Finger leckten, besser und ruhiger als sonst im Alltag. Vielleicht muss man sich in so eine absurde und ungewohnte Situation begeben, um sich wieder neu begegnen zu können? Wenn alles anders und seltsamer ist als sonst, bemerkt man umso mehr, was man am Anderen hat. Oder hat es mit dem Advent im Herzen zu tun, dass man selbst einen Burger – King – Parkplatz schön finden kann?

Jetzt sind wir wieder zuhause. Essen mit Besteck und Kerzenlicht. Proben Brahms – Sonaten und überlegen uns stilvolle Weihnachtsmenüs anhand von schönen Kochbüchern. Aber dieser Ausflug zum Fastfood – Lokal hat was bewegt.