Ein Stück Frieden

An einem seidig klaren, kühlen Frühlingstag zwischen Fasching und Ostern fuhr ich an einem Vormittag vor meinem Unterricht nach Walpertskirchen, einem kleinen Nest bei Erding. Obwohl wir uns mit jährlich sechs fünften Klassen nicht über Nachwuchsmangel beklagen können, bemühen wir uns immer, Werbung für unseren exotischen musischen Zweig zu machen. Manche Eltern wissen tatsächlich nicht, dass es ihn gibt, bei anderen bestehen falsche Vorstellungen, dass dieser Zweig nur für besonders begabte Kinder oder solche, die Musiker werden wollen, geeignet ist. Deshalb klären wir über die ohnehin schon bestehenden Schnuppernachmittage, Schulhausführungen und Tage der offenen Tür noch zusätzlich auf. Manchmal rege ich mich auf, wie zeitaufwendig und extrem personalisiert das ist, aber meistens freue ich mich über den Ausbruch aus der Routine und die Begegnung mit neuen Leuten. Es gibt so nette Lehrer im Landkreis, und so süsse Kinderchen. Wie die beiden Kleinen, die von ihrem Lehrer abgestellt wurden, zum mich am Haupteingang abzuholen: ein Junge, dem seine Aufgabe etwas peinlich war und der möglichst schnell die Treppe zum Klassenzimmer hochraste, und ein Mädel mit langen schwarzen Zöpfen und dunkelblauen Augen, das mich neugierig und offen musterte und mir in jeder Tür den Vortritt liess, als würde sie professionell Gäste durchs Schulhaus führen.

Walpertskirchen ist ein adrettes kleines Dorf im Speckgürtel des Flughafens und an der Bahnlinie nach München. Gepflegte, moderne Einfamilienhäuser mit ansehnlichen Gärten umgeben den historischen Ortskern. Die barocke Kirche und der Friedhof befinden sich neben der kleinen Grundschule. Als ich zwischen beiden bequem parkte, begann das Mittagsläuten vom Kirchturm. Alles ist nagelneu und sauber – bis hin zur ehemaligen Telefonzelle am Kirchplatz, die auch hier ein Bücherschrank ist und mich natürlich magisch anzog (auch hier drinnen: einwandfreie Ordnung und nur sehr neue, aktuelle und saubere Bücher. Keine Klassiker, keine sichtlich verwanzten abgegriffenen Bände aus Haushaltsauflösungen, sondern neue und höchstens ein Mal gelesene Romane von den Bestsellerlisten. Belanglose und nicht weiter verstörende Unterhaltung, passend zur heilen Welt des kleinen Dorfes. Ich fand gar nichts, weder für mich noch meine türkische Schülerin.)

Die kleine Grundschule ist genau so nett und gepflegt wie der ganze Ort, und das Klassenzimmer der (winzigen) vierten Klasse war gemütlich und niedlich. Und die Kinderchen einfach nur nett und aufgeschlossen. Ich sollte unsere Schule eine Viertelstunde lang vorstellen und blieb dreissig Minuten, weil die Kinder so aktiv waren und so viele Fragen hatten. Ich fand es ungewöhnlich, so eine selbstbewusste und wohlartikulierte Klasse vor mir zu haben und führe es wirklich auf ihren sympathischen jungen Lehrer zurück, der es seinen Schülern anscheinend erlaubt, sich zu entfalten. So viele hochgereckte Ärmchen! So viele Detailfragen! Und hundert Prozent richtige Antworten bei dem kurzen Noten- und Pausenwerte-Quiz, in dem wir uns unvermutet fanden! (Meine Lieblingsfrage: “Spielt Ihr im Gymnasium auch mit punktierten Noten?” Noch besser war eigentlich die ungläubige Reaktion, als ich es bejahte – dem Kindchen fielen wirklich fast die Augen raus und ich erinnerte mich eindrucksvoll daran, wie es war, als man die Welt neu entdeckte und jeder Tag unglaubliche Überraschungen enthielt. Punktierte Noten! Ja wo gibt’s denn so was!)

Praktisch wollte ich den Viertklässlern einen kurzen Überblick geben, welche Stücke man bei uns in der fünften oder sechsten Klasse spielt. Aber dann wollte sie natürlich höre, was man in der letzten Klasse spielt. Und ob ich “An die Freude” auch mal spielen kann. Und die Kleine Nachtmusik. Und “das aus Amelie”. Und und und… Übrigens duzten sie mich, was mich mal wieder an meiner Autorität zweifeln lässt. Aber alles in allem war es eine beglückende Erfahrung und eine nette kleine Musikstunde, die hoffentlich auch für die nett war, die nicht vorhaben, aufs Gymnasium zu gehen.

Als ich auf den leeren, ruhigen Schulhof trat, war ich froh, wieder einen Punkt auf meiner übervollen Liste streichen zu können. Aber es war mehr als das. Ich fühlte mich seltsam leicht und aufgeräumt und blieb an dem kleinen Weiher zwischen Kirche und Schule kurz stehen. Der Tag war grau und lichtlos. Vorher hatte es noch nach feuchter Meeresluft gerochen, inzwischen regnete es sanft. Ein wunderbarer weicher Vorfrühlingstag. Kein Mensch war unterwegs und ich liess mir Zeit, um den Regentropfen zuzuschauen, die die Oberfläche des grauen Teichs zart bewegten. In der gepflegten Grünfläche neben dem Wasser leuchteten weisse Büschel von Schneeglöckchen. Alles war so idyllisch, dass es kaum auszuhalten war. Und da ging es mir auf: ich fühlte mich nicht gut, weil ich einen Termin abgehakt hatte und ganz vielleicht einen neuen Fünftklässler für unsere Schule gewonnen hatte, sondern weil hier alles so wunderbar in Ordnung war. Meine Morgenlektüre in den letzten Tagen war ein weiterer dicker, fetter und leicht deprimierender Roman von Nino Haratischwili über die Aufstände in Tiflis Anfang der 90er Jahre und den Abchasien-Krieg. Aktuell hatte ich an diesem Morgen versucht, mit meinem “New Yorker”-Abo Schritt zu halten und einen ausführlichen Artikel über angebliches oder echtes Mitläufertum im Ukrainekrieg gelesen. Auch wenn ich versuche, sie auszublenden, spuken die Bilder von zerstörten, zerbombten Gebäuden in der Ukraine durch meinen Kopf, von zerrissenen Familien, Kindern, denen kaum was geblieben ist, ausgebrannten Autos, Strassen mit Kratern. Man hat sich schon so daran gewöhnt, dass man in einer bayerischen Idylle wie Walpertskirchen stutzig wird und sich fragt: was läuft hier falsch, warum fühlt es sich so komisch an? Man staunt, dass es noch Orte gibt, an denen alles in Ordnung ist. Es mag übertrieben klingen, aber so ging es mir. Ich war von Herzen dankbar, dass die Schule noch steht. Dass es Heizung und Wasser gibt. Die Kinderchen darin nett frisiert und angezogen sind und ziemlich sicher ein Frühstück hatten. Sie keine anderen Sorgen haben als den Übergang von der vierten zur fünften Klasse. Es war nur ein blitzartiges Aufleuchten, aber ich war dankbar, wie privilegiert wir leben. Was für ein Luxus, mitten am Werktag in einer ruhigen Atmosphäre Regentropfen beim Fallen in einen Teich zuzuschauen, in Frieden und Sicherheit. Selbstverständlich ist das nicht.

Foto: afamilydayout.co.uk

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