Zu viel

In Zeiten von Stress kann es helfen, sich in eskapistischer Manier in andere Welten oder Realitäten zu flüchten und die Gegenwart einfach ein paar Minuten zu ignorieren. Und wenn noch eine Deadline dazu kommt, ist es besonders verführerisch, Immobilienanzeigen in Atlanta oder Boston zu studieren, weil die Küchen oder begehbaren Schränke da so staunenswert sind. Und man sich der Illusion hingeben kann: wenn ich erst so einen Schrank mit Schuhregalen hätte, hätte ich viel weniger Druck im Leben.

Doch wie skurril ist es, wenn die bejammerte Gegenwart nicht aus Krieg, Flucht oder echter Existenzsangst besteht, sondern aus viel Klavierüben, Eintauchen ins Berlin der 1830er Jahre, Kostümrecherchen und morgendlichen Emily Dickinson-Gedichten? Zum Beispiel der Montag vor zwei Wochen: ich fing um 7 Uhr an, für neunzig Minuten zu üben, leise auf dem E-Piano wegen der Nachbarn, und ab halb zehn noch mal auf dem echten Klavier. Dann fuhr ich nach Erding zum Unterricht, der nahtlos in die erste Gesamtprobe unseres Fanny Hensel-Theaterstücks überging. Ich holte die letzten Requisiten aus dem Fundus, suchte passende Schuhe für die Mädchen, versuchte, mit Sicherheitsnadeln und ein paar schnellen Stichen die wunderhübschen Kleider, die wir für Fanny und Clara Schumann bestellt haben, passend zu machen, und sprach mit der Technik das Licht ab. Während der Probe ersetzte ich die abwesenden Klavierspielerinnen und tanzte in der Tanzszene Walzer mit meiner genialen Kollegin (ohne sie wäre ich aufgeschmissen). So einen abwechslungsreichen Tag anstrengend zu finden, ist Klagen auf allerhöchstem Niveau. Ich denke, viele Menschen, die einen wirklich monotonen Job haben verglichen mit meiner verrückten Sammlung an Betätigungen würden sich danach sehnen, sich in so netten Welten aufhalten zu dürfen wie ich. Aber ich bin so überfüttert an Schönheit und Besonderem, dass ich grösste Befriedigung dabei finde, die Badewanne spiegelblank zu putzen und alle Wasserspritzer vom Badspiegel zu entfernen, oder das letzte Laub aus dem Gartenteich zu fischen. Ich brauche Greifbares, Vorzeigbares in diesen Tagen, in denen ich mich so viel mit Unsichtbarem beschäftige, das dann auf Knopfdruck und vor Publikum perfekt auf der Welt erscheinen soll. Diese Wochen der Vorbereitung sind eigentlich das Stressige, und immer hat man die Angst im Nacken, dass es trotz allergrösster Sorgfalt dann im entscheidenden Moment nicht klappt. Ich hadere mal wieder damit, dass unsere Kunst wie Ballett öffentlich und einmalig entsteht. Wahrscheinlich haben Maler oder Bildhauer wieder ihre eigenen Probleme, warum sie gestresst sind, aber immerhin können sie ebenfalls hunderte Stunden lang an etwas arbeiten, es aber erst abliefern, wenn es – für den Moment – fertig ist.

In neun Tagen habe ich alle Termine hinter mir, aber ich kann schon jetzt sagen, dass diese drei Wochen die anstrengendste Zeit in meinem Leben waren, Abitur und Diplomprüfungen mit eingeschlossen. Die Prüfungen waren wirklich ein Klacks dagegen, weil man genügend freie Zeit hatte, sich vorzubereiten und alles in angenehme Häppchen zerlegt war. Natürlich sollte man spätestens dann die Schwimmflügelchen abgelegt haben, aber alles fand noch in einer Art geschütztem Raum statt. Jetzt bin ich so völlig im echten Leben angekommen, dass zu Recht erwartet wird, dass was Ordentliches abgeliefert wird. Nur dumm, wenn zu viele wichtige Termine aufeinandertreffen. Und man sich noch sechs Tage die Woche um seine Schüler kümmern muss (Das würde ich nächstes Mal anders machen, sollte ich je wieder eine solche Anhäufung von Ereignissen zulassen: ich kann nicht gleichzeitig unterrichten und Konzertpianistin sein. Ich hätte für zwei oder drei Wochen den Unterricht absagen sollen. Das fällt mir natürlich am Tag meines letzten Konzerts ein. Aber nächstes Mal…)

Zu dieser überfordernden Anhäufung von wichtigen und schönen Terminen kam es, weil unerwartet unser zwanzigjähriges Schuljubiläum mit grossem Brimborium gefeiert wurde und ich ausserdem nicht Nein sagen konnte zu einer Konzertanfrage. Es ist einfach zu verlockend, wenn man nach einem privaten Soloabend anlässlich eines runden Geburtstags gefragt wird. Das kommt viel zu selten vor, als dass ich hätte ablehnen können. Dass der Geburtstag genau in die heisse Phase der Proben für mein Stück über Fanny Hensel fallen würde, war etwas problematisch, aber wäre doch wohl zu bewältigen. Dachte ich im Herbst. Und sagte zu. Weil der Arbeitsaufwand enorm ist, organisierte ich mir noch zwei andere Auftrittsmöglichkeiten mit dem gleichen Programm. Der Jubilar wünschte sich Mendelssohns “Variations sérieuses”, die Krönung von Mendelssohns Solowerken für Klavier. Eine sehr seltene Bitte, die noch nie an mich herangetragen würde. Ich hatte die virtuosen Variationen zum Abitur gespielt und dachte, das würde sich doch wiederbeleben lassen. Überraschung: man ist keine zwanzig mehr… Die rein sportliche Anforderung der Sprünge und Arpeggien ist so kräftezehrend, dass ohne ordentliches Aufwärmen gar nichts mehr geht. Es macht demütig, derartig am eigenen Leib zu erkennen, wie anstrengend Klavierspielen sein kann. Es tut auch gut, sich wie eine eingerostete alte Fregatte zu fühlen und sich Strategien zu überlegen, ob und wie man dagegen wirken kann. Die vielen netten Übungen, die ich mir überlegt habe, kommen letztlich meinen Schülern zugute.

Heute spiele ich das Programm zum letzten Mal, in der Werkstatt meiner Klavierbauerin, auf einem feinen Steinway von 1986, der danach ausgeliefert wird. Ein Leckerbissen für mich, und ein verlässlicher Gefährte auf meiner verrückten Reise durch die Variationen, eine schöne Gruppe von “Liedern ohne Worte” von Fanny und Felix (nicht anstrengend) und Beethovens op. 31/3. Aber es ist bezeichnend, dass ich am Morgen des Konzerts nicht übe, sondern diesen Artikel schreibe. Immerhin gucke ich keine Immobilienanzeigen an.

Das Erhabene

Wenige Tage nach der Turnerausstellung nahm mich eine Geigenfreundin mit in einen Probennachmittag des Unichors. Sie spielte für die Aufführung von Mendelssohns “Paulus” im Orchester. Vier Stunden Paulus plus ein Mittagessen mit einer alten Freundin – da sagt man nicht nein. Natürlich hatte ich mir auch hier noch Inspiration und Ideen für meine Variationen erhofft, doch, wie das so ist mit den Musen, sie kamen unerwartet und aus einer anderen Ecke. Aber dafür im Übermass.

In der Turner – Ausstellung ging es immer wieder um das “Erhabene”, ein hehres, abstraktes Konzept, das zugegeben etwas schwer fasslich ist. Und in Turners Fall häufig verstörend oder leicht furchteinflössend wirkt, zumindest auf mich. Als ich mit meiner Freundin an einem ruhigen Samstag nachmittag im Hauptgebäude der Münchner Uni ankam, hat mich eine andere Art von Erhabenheit von allen Seiten her angeweht. Wir waren entspannt früh dort und schlenderten langsam durch das helle, leere Gebäude: hier eine Säulenhalle mit glänzendem Boden und klassischem Gewölbe. Dort der grandiose Lichthof in weiss und gold mit seinen Marmortreppen, Statuen und der hellen Kuppel. Der Gang über die ganze Länge der Fassade mit seinen Rundbögenfenstern und dem klassischen Rhythmus in Säulen und Gewölben. Und schliesslich die Aula, in der die Probe stattfand. Was für ein Vergnügen für mich: vier Stunden Mendelssohn live in einem Jugendstilsaal mit hervorragender Akustik! Und dem Blick auf die goldglänzenden Mosaike über der Bühne, in der Mitte Apollo im Sonnenwagen und so viel strahlendes Gold, dass das “Werde Licht!” des hervorragenden Chors eine ganz andere Bedeutung bekam! Hier war eine äusserst leicht zu verstehende, populärere und dekorativere Version des “Erhabenen”, die viel besser zu Mendelssohn passte als das schmerzhaft tiefe und kompromisslose Erhabene von Turner. Das Klackern von Absätzen auf dem Marmorboden eines langen leeren Ganges mag frivol sein – doch auf seine Art ist es auch erhaben, wenn es verknüpft ist mit dem zeitlosen Gefühl eines Samstagnachmittags, an dem man nur zum Vergnügen in solchen besonderen überdimensionierten Räumen wandeln darf.

Mendelssohns Erhabenheit ist viel lieblicher, ansprechender und leichter verständlich als Turners. Die wunderbaren Melodien voller Terzen und Sexten und immer wieder die alten Choräle, die durchschimmern und dem Gefüge einen verlässlichen und vorhersagbaren Rahmen geben, berühren mich unmittelbarer und auf eine ruhigere Art. Mendelssohn wird oft vorgeworfen, dass er rückständig sei und nicht viel Substanz hinter all dem Schönklang stecke, doch manchmal braucht man genau das. Als ich gestern das grau-schwarze Ausstellungsplakat der Turnerschau in meinem Unterrichtszimmer in Erding aufgehängt habe, hat mir das dunkle Meeresbild mehr Unbehagen als Freude gemacht. Das schiefliegende Schiff im Wirbel des Schneesturms, die graugrünen Wellen, die aus dem Bild herausschwappen wollen, die Orientierungslosigkeit und der Strudel des Meeres, der einen fast hineinziehen will, sind beeindruckend, aber auch beängstigend. Ich bin gespannt, wie und ob meine Schüler darüber reden wollen. Ich warte nur drauf, dass einer sagt: “ich fühle mich wie mitten in diesem Bild da”, denn Haltlosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind eine wiederkehrende pubertäre Konstante im Stimmungskanon meiner Kinderchen. Und gestern hat mich das Bild an die immer noch desolate Weltlage erinnert. Wie kann es sein, dass wir schon den zweiten Jahrestag der russischen Invasion haben und jetzt so viel Grauenhaftes im Gazastreifen passiert?

Manchmal braucht man düstere Kunst, um seine eigenen düsteren Gefühle hineinzulegen und geklärt auf der anderen Seite herauszukommen. Die “Variations sérieuses”, mit denen ich mich jetzt so lang beschäftigt habe, tragen ihren Titel zu Recht. Das d-moll stelle ich mir von den Farben her genau wie Turners Schneesturm vor. Deshalb bleibt das Bild hängen, auch wenn es dunkel ist. Der Effekt ist der gleiche, wie wenn ich eine todtraurige Tschaikowsky-Symphonie im Auto höre, vorzugsweise bei Nebel oder grauen Wolken. Danach geht’s mir gut, denn der ganze Kummer bleibt in der Musik. Andere durchleiden ihn für mich und ich komme mir vor wie frischgewaschene Wäsche.

Aber manchmal möchte man Helle und Leuchten, Gold und Glitzern und einen sextenumwobenen Bachchoral. Das bekam ich im Übermass an diesem erhebenden Probennachmittag. Im “Paulus” geht es so oft um Licht. Oder man denke an das wunderbare “Dann werden die Gerechten leuchten” aus dem “Elias”. Mendelssohn ist ein lichter, heller Komponist, und nach einem Bad in Wohlklang und hellen Farben geht es einem zugegeben auch nicht schlecht. Es ist der andere Weg zum psychischen Wohlbefinden und für manche vielleicht der bessere. Ich habe in den Ferien die ganze Kur erlebt, die ganze Bandbreite von grauschwarz zu gold, fühle mich wie neugeboren und bin voller Ideen für meine Mendelssohn – Stücke.

Foto: Guillaume de Laubier