Das Erhabene

Wenige Tage nach der Turnerausstellung nahm mich eine Geigenfreundin mit in einen Probennachmittag des Unichors. Sie spielte für die Aufführung von Mendelssohns “Paulus” im Orchester. Vier Stunden Paulus plus ein Mittagessen mit einer alten Freundin – da sagt man nicht nein. Natürlich hatte ich mir auch hier noch Inspiration und Ideen für meine Variationen erhofft, doch, wie das so ist mit den Musen, sie kamen unerwartet und aus einer anderen Ecke. Aber dafür im Übermass.

In der Turner – Ausstellung ging es immer wieder um das “Erhabene”, ein hehres, abstraktes Konzept, das zugegeben etwas schwer fasslich ist. Und in Turners Fall häufig verstörend oder leicht furchteinflössend wirkt, zumindest auf mich. Als ich mit meiner Freundin an einem ruhigen Samstag nachmittag im Hauptgebäude der Münchner Uni ankam, hat mich eine andere Art von Erhabenheit von allen Seiten her angeweht. Wir waren entspannt früh dort und schlenderten langsam durch das helle, leere Gebäude: hier eine Säulenhalle mit glänzendem Boden und klassischem Gewölbe. Dort der grandiose Lichthof in weiss und gold mit seinen Marmortreppen, Statuen und der hellen Kuppel. Der Gang über die ganze Länge der Fassade mit seinen Rundbögenfenstern und dem klassischen Rhythmus in Säulen und Gewölben. Und schliesslich die Aula, in der die Probe stattfand. Was für ein Vergnügen für mich: vier Stunden Mendelssohn live in einem Jugendstilsaal mit hervorragender Akustik! Und dem Blick auf die goldglänzenden Mosaike über der Bühne, in der Mitte Apollo im Sonnenwagen und so viel strahlendes Gold, dass das “Werde Licht!” des hervorragenden Chors eine ganz andere Bedeutung bekam! Hier war eine äusserst leicht zu verstehende, populärere und dekorativere Version des “Erhabenen”, die viel besser zu Mendelssohn passte als das schmerzhaft tiefe und kompromisslose Erhabene von Turner. Das Klackern von Absätzen auf dem Marmorboden eines langen leeren Ganges mag frivol sein – doch auf seine Art ist es auch erhaben, wenn es verknüpft ist mit dem zeitlosen Gefühl eines Samstagnachmittags, an dem man nur zum Vergnügen in solchen besonderen überdimensionierten Räumen wandeln darf.

Mendelssohns Erhabenheit ist viel lieblicher, ansprechender und leichter verständlich als Turners. Die wunderbaren Melodien voller Terzen und Sexten und immer wieder die alten Choräle, die durchschimmern und dem Gefüge einen verlässlichen und vorhersagbaren Rahmen geben, berühren mich unmittelbarer und auf eine ruhigere Art. Mendelssohn wird oft vorgeworfen, dass er rückständig sei und nicht viel Substanz hinter all dem Schönklang stecke, doch manchmal braucht man genau das. Als ich gestern das grau-schwarze Ausstellungsplakat der Turnerschau in meinem Unterrichtszimmer in Erding aufgehängt habe, hat mir das dunkle Meeresbild mehr Unbehagen als Freude gemacht. Das schiefliegende Schiff im Wirbel des Schneesturms, die graugrünen Wellen, die aus dem Bild herausschwappen wollen, die Orientierungslosigkeit und der Strudel des Meeres, der einen fast hineinziehen will, sind beeindruckend, aber auch beängstigend. Ich bin gespannt, wie und ob meine Schüler darüber reden wollen. Ich warte nur drauf, dass einer sagt: “ich fühle mich wie mitten in diesem Bild da”, denn Haltlosigkeit und Hoffnungslosigkeit sind eine wiederkehrende pubertäre Konstante im Stimmungskanon meiner Kinderchen. Und gestern hat mich das Bild an die immer noch desolate Weltlage erinnert. Wie kann es sein, dass wir schon den zweiten Jahrestag der russischen Invasion haben und jetzt so viel Grauenhaftes im Gazastreifen passiert?

Manchmal braucht man düstere Kunst, um seine eigenen düsteren Gefühle hineinzulegen und geklärt auf der anderen Seite herauszukommen. Die “Variations sérieuses”, mit denen ich mich jetzt so lang beschäftigt habe, tragen ihren Titel zu Recht. Das d-moll stelle ich mir von den Farben her genau wie Turners Schneesturm vor. Deshalb bleibt das Bild hängen, auch wenn es dunkel ist. Der Effekt ist der gleiche, wie wenn ich eine todtraurige Tschaikowsky-Symphonie im Auto höre, vorzugsweise bei Nebel oder grauen Wolken. Danach geht’s mir gut, denn der ganze Kummer bleibt in der Musik. Andere durchleiden ihn für mich und ich komme mir vor wie frischgewaschene Wäsche.

Aber manchmal möchte man Helle und Leuchten, Gold und Glitzern und einen sextenumwobenen Bachchoral. Das bekam ich im Übermass an diesem erhebenden Probennachmittag. Im “Paulus” geht es so oft um Licht. Oder man denke an das wunderbare “Dann werden die Gerechten leuchten” aus dem “Elias”. Mendelssohn ist ein lichter, heller Komponist, und nach einem Bad in Wohlklang und hellen Farben geht es einem zugegeben auch nicht schlecht. Es ist der andere Weg zum psychischen Wohlbefinden und für manche vielleicht der bessere. Ich habe in den Ferien die ganze Kur erlebt, die ganze Bandbreite von grauschwarz zu gold, fühle mich wie neugeboren und bin voller Ideen für meine Mendelssohn – Stücke.

Foto: Guillaume de Laubier

Leave a comment