In Cividale del Friuli with a Baedeker

In Anlehnung an das berühmte Kapitel in E. M. Forsters “Zimmer mit Aussicht” (“In Santa Croce with no Baedeker”) sind wir brav und ordentlich mit einem der roten Bücher nach Cividale del Friuli gereist. Lucy Honeychurch, meine liebste Romanheldin, lernt ihren Zukünftigen in Italien kennen, weil sie in der Pension durch ihr Beethovenspiel auffällt, beim Stadtrundgang auf den Baedeker verzichtet und sich treiben lässt. Der Gatte und ich haben uns, ebenfalls ohne Baedeker, aber auch beim Beethoven – Spielen, vor 26 Jahren in Italien kennengelernt. Unser “no Baedeker” – Kapitel ist ebenso glücklich abgeschlossen wie das von Lucy und George. Jetzt dürfen wir Spiesser sein und uns nach den Reiseführer-Sternchen richten. Ich möchte fast wetten, dass die beiden Romanfiguren im fortgeschrittenen Alter auch darauf gekommen sind, dass Reiseführer nicht nur schlecht sind.

Unser Exemplar könnte problemlos in einer Merchant – Ivory – Verfilmung verwendet werden: seit Ostern bin ich glückliche Besitzerin eines antiquarischen kleinformatigen Oberitalien – Baedekers von 1928. Mit Marmorschnitt, zwei Lesebändchen und allen ausklappbaren hauchdünnen Landkarten. Ich kam dazu wie die Jungfrau zum Kind. Wir waren kaum angekommen in Wien, brachten nur kurz unser Gepäck ins Hotel am Schottentor und überquerten warm verpackt die Ringstrasse. Am Schottentor war ein Freiluft – Flohmarkt, über den wir trotz Kälte kurz schlenderten. Ich sagte grade zum Gatten, wie immer: “Lass uns keine Bücher kaufen, wir haben keinen Platz mehr. Oh, guck mal, ein Oberitalien – Reiseführer!” Weil zufällig der Mittelitalien – Band daneben stand, gingen wir als erstes zurück ins Hotel, um die beiden Bücher dort zu deponieren. Dann begann der eigentliche Stadtrundgang, mit Schal und Mantel und so schlotternd, wie ich es an Ostern nicht mehr für möglich gehalten hätte.

Nur vier Monate später begleitete der kleine Band uns in die Sommerhitze Oberitaliens. Im leichten Kleid und Sandalen war ich dankbar für jedes bisschen Schatten und wechselte ständig die Strassenseite, um der Sonne zu entgehen. Wien und sein Winterwind waren weit weg. Cividale del Friuli sollte nur ein kleiner Ausflug von Udine aus sein, wurde aber zum Glanzlicht unseres Urlaubs dank des sagenhaften “Tempietto longobardo”, einem kleinen Klosterkirchlein mit einem unglaublich alten, unglaublich schönen Skulpturenfries aus dem 8. Jahrhundert. Udine, die quirlige, berückend schöne grosse Studentenstadt mit 100 000 Einwohnern, bekommt im Badeker gerade mal zwei Seiten Raum, das winzige und abgelegene Cividale mit 10 000 Seelen drei Seiten. Ehre, wem Ehre gebührt. Ich hätte es nicht gedacht, aber das kleine verschlafene Städtchen birgt ein einzigartiges Kunstwerk in dieser unscheinbaren versteckten Kirche.

Uns gefiel schon das Ankommen im Museum, die Tatsache, dass man aus der prallen Sonne in den angenehm kühlen Kreuzgang gelangt. Selbst die Hortensien überleben hier im Schatten. Ein bereitstehender Yamaha – Flügel unter den Arkaden und aufgestellte Stuhlreihen warteten einladend auf Gäste. Aus der Schlucht des smaragdgrünen Gebirgsflusses Natisone wehte ein kühles Lüftchen durch den Kreuzgang. Wir wollten gar nicht weg! Waren dann aber zu neugierig auf das Kleinod in der Kirche. Leider ist das Fries mit den sechs lebensgrossen Frauen sehr weit oben, praktisch unter der Decke, aber man erkennt ihre stille würdevolle Haltung und die schönen Gesichter. Einige von ihnen tragen Kronen, alle scheinen edel und festlich gekleidet zu sein. Sie sind so ganz anders als alles, was ich sonst aus Kirchen kenne – am ehesten erinnern sie in ihrer rätselhaften Ausstrahlung an byzantinische Kunst.

Mich berühren frühmittelaterliche Skulpturen immer besonders, weil sie so schlicht und klar sind. Und eben seit Jahrhunderten geduldig der Zeit trotzen, schön und ausdrucksvoll wie am ersten Tag. Wenn ich mir vorstelle, was in der Lebenszeit der Skulpturen seit dem Jahr 800 alles auf der Welt passiert ist, welche Umwälzungen, Katastrophen, egal ob menschengemacht oder von der Natur verursacht (man denke nur an das grosse Erdbeben von 1976 wenige Kilometer von hier), ist es beinahe unfassbar, dass die Damen ruhig und gefasst wie am ersten Tag dort durch die Lunette über dem Portal wandern. Dass es sie überhaupt noch gibt und dass sie so extrem gut erhalten sind, gibt mir Hoffnung. Auch wenn sich die Welt im Kleinen und im Grossen ändert, bleiben manche Dinge. Wie unsere Familienkrippe, über die ich kürzlich geschrieben habe. Oder wie diese geheimnisvollen Heiligen. Wenn sich kleinere, nicht weltverändernde Missgeschicke in meinem Leben ereignen, tut es mir gut, an solche gelassenen und verlässlichen ewigen Figuren zu denken. Nach dem Motto “Auch das geht vorüber”, das mir in den Corona – Jahren meinen Lebensmut erhalten hat. Ich erinnere mich daran, wie ich von den romanischen Kapitellen und verzierten Kanzeln im Burgund nicht genug bekommen konnte, oder letztes Jahr vom grandiosen San Michele in Pavia. Cividale hält nur ganz wenig bereit, nur ein paar kurze, kostbare Meter langobardische Kunst (man nennt das “Präromanik” – der Ausdruck allein macht mir Gänsehaut. Wenn man die Romanik liebt und dann etwas Christliches sehen darf, was noch früher ist, dann ist das wie Weihnachten und Geburtstag zusammen), aber das wunderschöne Fries ist jeden Umweg wert. Zu Recht ist die kleine ehemalige Benediktinerinnen – Klosterkirche ein Unesco-Weltkulturerbe.

Ein kleiner Exkurs für etwaige Krippenfans: ich durfte diesen August noch zwei sehen! Ein ururaltes Fresko über dem Altar in ebendiesem Tempietto mit dem Besuch der Heiligen drei Könige, und in der Kirche nebenan eine riesengrosse Krippenlandschaft der Ursulinen, die das Kloster nach den Benediktinerinnen weitergeführt haben. Das Besondere daran ist, dass die Krippe eine fast alpenländisch anmutende Szene im Schnee ist. Alles glitzert weiss überzuckert, im Hintergrund sind Berge zu sehen, die Hirten und anderen normalen Besucher des Stalls tragen alpenländische Tracht. In einem Schaukasten kann man sehen, wie sorgfältig die etwa 30 cm hohen Figuren eingekleidet sind. Neben einer Figur in feiner, hübscher weisser Unterwäsche sind die ganzen nächsten Schichten ihrer Bekleidung ausgelegt, bis hin zu Mantel und Schuhen.

Auch sonst ist Cividale liebenswert und sehenswert. Gegründet von Julius Caesar, dessen Statue gebieterisch vor dem Rathaus steht, hat es einen wunderbaren geschlossenen Charakter. Ein italienisches Bilderbuch-Städtchen mit einem grossen Dom, der hochgespannten Teufelsbrücke über den Fluss, lauschigen Cafés und kleinen, inhabergeführten Geschäften mit alten Fassaden und Schaufenstern wie von 1923. Vielleicht hat es sich diesen besonderen Charakter erhalten können, eben weil es so abgelegen ganz am östlichen Rand Italiens liegt? Nach wenigen Kilometern ist man schon in Slowenien, und in Cividale beginnen auch die sanften Hügel des bekannten friulischen Weinbaugebiets. Und vielleicht das Beste: wir haben keinen einzigen deutschen oder anderen Touristen getroffen. Dabei gibt es so viel zu sehen!

Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Langobarden_in_Italien,_Orte_der_Macht_(568_bis_774_n._Chr.)#

Udine

Den meisten Menschen, denen ich von unserem Urlaub erzählt haben, fällt zum Stichwort Udine nur ein: “Da bin ich mal vorbeigefahren.” Was für ein Verlust! Da wird es doch höchste Zeit, die Autobahn Richtung Süden zu verlassen und nicht die proppenvollen, seichten Strände anzusteuern, an denen Armeen von Sonnenschirmen ordentlich ausgezirkelt schon auf deutsche Urlauber warten. Fünfzig Kilometer vor der Adria fällt Udine tatsächlich der Sehnsucht nach Wasser und Planschen zum Opfer. Wenn man selbst im August möglichst wenigen deutschen Miturlaubern und allen ihren Nachwirkungen begegnen will, ist Udine allerdings erste Wahl. Keine deutschen Speisekarten oder deutsche Zeitungen. Keine deutschen Gesprächsfetzen, die einem ungebeten um die Ohren wehen. Man spricht italienisch! Und ein schönes, gut verständliches Italienisch!

Wir wollten der üblichen Blechlawine nach Süden schon bei der Anfahrt entgehen und beschlossen, wie 1930 beschaulich auf Landstrassen über die Alpen zu fahren. Von Wasserburg aus ist das denkbar einfach: wir fuhren quasi entlang des Breitengrades direkt nach Süden, über Kitzbühel, Mittersill, die autobahnähnliche, völlig leere Felbertauernstrasse und dann den steilen Plöckenpass. Die atemberaubend schöne Alpenkulisse strahlte in den schönsten Sommerfarben, saftig grün, blau, noch mehr Blau am Himmel. Hier war wirklich der Weg schon das Ziel. Wir überquerten auf alten Römerpfaden (aber elefantenlos) die Alpen an einer wirklich schmalen Stelle und brauchten von Zuhause bis Udine etwas mehr als fünf Stunden.

Udine, 100 000 Einwohner und Universitäts – Stadt, ist sehr lebendig und spannend. Trotz der Grösse kann man alles wunderbar zu Fuss gehen. Jede Nacht beim Rückweg ins Hotel kamen wir über eine grosse Grünanlage, in der neben einem beleuchteten Foodtruck Dutzende von fröhlich plaudernden Menschen mit ihren Cocktails sassen, ein Mal sogar mit Live – Musik. Alles sah so friedlich und sommerlich aus, die funkelnden Lichterketten vor dem dunkelblauen Himmel, die entspannten Menschen. Das ist nur ein kleines und wahrscheinlich nur temporäres Detail von Udine, aber es hat sich mir eingebrannt. Wie die Schlusseinstellung von einem gelungenen Film. Wenn wir die steilen Stufen zu Santa Maria delle Grazie erklommen hatten, drehte ich mich jeden Abend um und sah den kleinen beleuchteten Verkaufsstand im Park und dahinter die Silhouette des Burgbergs und der Stadt, und jedes Mal dachte ich: was für ein schöner Tag das war.

Wir hatten eine Reihe von schönen Tagen, weil Udine einfach endlos malerisch ist. Die lange venezianische Vorherrschaft sieht man deutlich am Uhrenturm mit den beiden Mohren hoch oben neben der Glocke oder dem Wunderwerk der luftigen Loggia mit den zuckerbäckerartigen feinen gotischen Arkaden, die wie der Dogenpalast in klein aussieht – ausser, dass sie nach drei Seiten offen ist und ein herrliches schattiges Plätzchen zum Verweilen bietet. Der alte karierte Marmorboden glänzt und schimmert wie eine Wasserfläche, weil er seit Jahrhunderten von müden, schattensuchenden Füssen glattgeschliffen wurde. Der Blick von der erhöhten Loggia über die Piazza della Libertà und hinauf zum Castello ist vom Feinsten – prachtvoll und harmonisch, aber schon fast zu prunkvoll. Deshalb sassen wir jeden Abend an der anderen malerischen Piazza, der Piazza Matteotti, die ebenfalls ganz zentral, aber irgendwie irdischer ist: eine normal hohe Kirche bildet den Abschluss, rundherum sind ebenfalls nicht zu hohe, schmale Häuser in Pastellfarben. Manche von gotischen Bögen umrahmte Balkönchen erinnern wieder an die Nähe zu Venedig.

Was spricht noch für Udine? Es gibt im Zentrum fünf grosse und sehr gut sortierte Buchhandlungen. Ich fange gerade zaghaft an, auf italienisch zu lesen, und die Auswahl war natürlich traumhaft für mich. Auffallend war die Abwesenheit der üblichen grossen Kleiderketten – hier findet man tatsächlich noch alteingesessene, inhabergeführte Läden. Wir spähten nur von aussen durch die schönen alten Holzfassaden, durch Schaufenster ebenfalls wie 1930: in einem Geschäft gab es richtig schöne Regenschirme und Hüte. Im anderen stapelten sich Herrenschuhe säuberlich aufgestapelt in alten raumhohen Regalen. Dort gab es Handtaschen zum Schwachwerden, ebenfalls altmodisch und wie früher präsentiert, aber chic und in allen Farben des Regenbogens. Daran, dass mir diese feinen Geschäfte so auffielen, merkte ich, dass dieses Konzept hier am Aussterben ist. Selbst in Wasserburg. Sind die Italiener noch traditionsbewusster und stolzer auf ihre individuellen Läden, verzichten sie eher auf den Onlinehandel? In Udine wuselte es derartig von glücklichen Menschen mit Einkaufstaschen, dass man hoffen kann für diese Art von menschenwürdigen Einzelhandel.

Weswegen wir ganz sicher wieder kommen werden, ist das hübsche kleine Hotel “Residenza Al Teatro”. Nicht nur, weil die Inhaber sehr herzlich und aufmerksam sind und es das wahrscheinlich schönste Frühstücksbüffet gab, das ich je gesehen habe – sondern wegen der dunkelblauen Zimmer. Alle Wände und selbst die Decke sind in einem dunklen Petrolblau gestrichen. Ich fand es wunderbar entspannend, doch der Inhaber sagte, dass sie es nach ein paar Jahren in dieser Farbe bald ändern werden, da sich zu viele Damen beschwert haben, dass man sich in diesem Dämmerlicht nicht richtig schminken kann. Er zeigte uns auch voller Enthusiasmus einen Raum, in dem sie die nächste Farbe schon ausprobiert haben, ein ebenfalls wunderschönes salbeifarbenes Seegrün. Darauf kann man sich sicher auch freuen, aber ich hoffe, dass ich irgendwann noch mal die elegant-blauen Zimmer erleben kann.

Nach Süden?

Was ist das nur mit dieser unstillbaren Italiensehnsucht? Und warum hört sie nie auf? Wir sind gerade mal eine Woche wieder zuhause, haben gerade so die Pasta- und Dosentomatenvorräte verstaut und die Urlaubswäsche gewaschen, da überlege ich schon wieder, wann ich noch mal über die Alpen fahren soll. Ich hätte noch zwei Wochen frei, völlig frei. Und mein Herz möchte jenseits der Berge sein. Ist es nicht verrückt? Grade hatten wir wunderschöne Sommertage, in denen wir mit allen Sinnen das grünere Gras, den blaueren Himmel, die aromatischeren Tomaten genossen haben, und ich kriege den Hals nicht voll. Weil ich eben noch freie Zeit hätte und der Weg so verführerisch kurz erscheint. Dazu kommt eine gewisse innere Unruhe – grade noch habe ich die wunderbar reifen Aprikosen, die ich aus Udine mitgebracht habe, zu Marmelade eingekocht, um für die lichtärmeren Monate gerüstet zu sein. Aber sollte man nicht auch Erinnerungen, Farben und Düfte einmachen für die ungemütlichere Jahreszeit? Und zusehen, dass man seine Speicher dafür so gut wie möglich füllt, solange es möglich ist? Jetzt wäre es noch ideal. Nächste Woche auch noch. Bei uns werden die Schatten im Garten schon spürbar länger, und wenn ich morgens um kurz vor sechs aufstehe, ist es noch so dämmrig, dass ich fast Licht brauche. Ich hätte so gern noch mal das intensive Sommergefühl, das man jenseits der Alpen hat. Und wer weiss, wenn ich völlig verrückt bin, verschwinde ich noch mal für vier Tage in den Süden.

Doch eigentlich bin ich zu vernünftig dafür. Nur weil etwas machbar ist, muss es ja nicht durchgezogen werden. Meine CO2-Bilanz dieses Jahr ist vorbildlich – ich war vier Tage in Norditalien, zu zweit mit dem eigenen Auto (in Wien waren wir mit dem Zug). Da wäre doch noch eine kleine Reise drin, sagt das kleine Teufelchen auf meiner Schulter. Dieses schreckliche Reiseteufelchen. Was ich stattdessen bräuchte, wäre ein nettes kleines Zufriedenheits – Engelchen, das mir einflüstert, wie ich mich in Wasserburg wie in Italien fühlen kann. In so einer schönen alten Stadt dürfte es doch nicht zu schwer sein, könnte man meinen? Wir haben genau so bunte und intensive Häuserfarben wie die besten italienischen Städte. Arkaden, die malerische gewölbte Schatten aufs Pflaster werfen und genug Oleandertöpfe in den Gassen der Altstadt. Und hier, bei uns in der Vorstadt: ich freue mich jedes Mal, wenn das starke Aroma des Kaffees, den ich mit der Espressokanne zubereite, durchs Haus steigt. Tomaten und Pfirsiche schmecken im Moment glücklicherweise genau so wunderbar wie jenseits der Alpen, und wir ernähren uns leicht und spätsommerlich lecker wie in Italien. Natürlich wird die Aperitivo – Kultur auch hier gepflegt, bis hin zu den gesalzenen Chips, die wir uns in der Grosspackung mitgebracht haben. Ich lege mich bewusst jeden Tag eine Stunde auf die Gartenliege, um zu lesen. Und doch… Etwas fehlt. Richtig alte, nicht unbedingt perfekt gepflegte Gemäuer. Das gewisse laissez-faire, das einem das Leben im Süden leichter erscheinen lässt. Und, definitiv, die Ausstrahlung der Mitmenschen. Kaum ist man zurück, spürt man die wohlbekannte Zurückhaltung und Engstirnigkeit. Ich verzichte auf die Negativbeispiele von hier, bringe aber ein positives aus einer kleinen Stadt, die wir besichtigen wollten. Wegen Markttag war die Innenstadt gesperrt und wir sahen schon beim Rumkurven auf der Suche nach einem Parkplatz einen Parkwächter, trotz Hitze in offizieller Uniform. Als ich zum Parkscheinautomat ging, nachdem wir einen netten Parkplatz gefunden hatten, kam der Wärter auf mich zu. Ich wollte schon genervt – deutsch reagieren, aber er fragte sehr nett, ob er helfen könne, er habe die ausländische Autonummer gesehen – wir lang wollten wir denn bleiben? Zum Stadtbummel oder auch essen? Er drückte für mich auf dem neumodischen Touchscreen rum (spätestens jetzt hätte ich ohnehin Unterstützung gebraucht), ich hatte genau passende Münzen, er überreichte mir den Parkschein und wünschte uns einen schönen Tag. Ich war platt. Das würde man in unserer Heimatstadt leider nicht erleben, zumindest was die Verkehrsüberwachung betrifft.

Wir werden auch nie die echte, von Herzen kommende Grosszügigkeit unserer Hotelinhaber in Udine vergessen. Zum ersten Mal im Leben fand ich bei meiner Ankunft Blumen im Hotelzimmer vor. Nicht opulente Bouquets wie die Leute im Film, aber doch eine aufwendig gebundene einzelne Rose auf dem Nachttisch für die Dame. Das ist mir noch nie passiert. Roberta und Antonio kümmerten sich mit Leib und Seele um unser Wohlergehen und sorgten auch für einen schönen Übernachtungsplatz für mein Auto. Als ich sie auf das sagenhafte Frühstück ansprach, meinten sie: “Wir sind nur eine Familie, die Frühstück macht.” Zum Abschied überreichten sie uns Pralinen zum Nachhause – Nehmen und eine Magnumflasche Prosecco mit der Bitte, ein Bild von uns damit in unserer Heimat zu machen und ihnen zu schicken. Sie haben schon eine ganze Sammlung von Fotos ihrer Gäste mit dem gigantischen Prosecco (wir mussten sie ansehen, natürlich, und sie schienen sich an jeden zu erinnern). Deshalb luden der Gatte und ich am Tag nach unserer Heimkehr die schwere Flasche noch mal ins Auto und fuhren hoch zur “Schönen Aussicht” in Wasserburg, einer Stelle, von der aus man die ganze Innschleife und die Stadt überblicken kann. Ich war jetzt zum zweiten Mal hier, der Gatte zum ersten Mal im Leben. Wie das halt so ist, wenn man dort wohnt. Wir hatten bis zum Abend gewartet, um schönes Licht von Westen zu haben. Oben fanden wir einen jungen Typ, der uns ablichtete, ohne zu fragen, warum wir eine Megaflasche Prosecco mit uns rumschleppen. Wir sehen beide glücklich aus auf dem Bild, noch in leichter Kleidung und erfüllt von südlicher Sonne und südlicher Freundlichkeit. Wir sehen eigentlich noch wie im Urlaub aus. Der Fluss glitzert hinter uns im weichen Abendlicht wie ein goldenes Band, die Türme und Zinnen unserer hübschen alten Stadt können sich auch sehen lassen. Wüsste man nicht, dass wir schon wieder zuhause sind, könnte man es für ein Urlaubsfoto halten.

Muss man noch mal nach Süden fahren, wenn sich die optischen Grenzen zwischen Heimat und Urlaubsland verwischen?

(“Nach Süden” ist ein Lied von Fanny Hensel auf einen Text ihres Mannes, des Malers Wilhelm Hensel. Beide waren überzeugte Italienfans und litten an der gleichen unstillbaren Sehnsucht wie ich.)

Das gute alte Merianheft

Im Sommer habe ich noch das dürftige zeitgenössische Angebot an Lombardei – Reiseführern bedauert, doch inzwischen bin ich, dank meiner Mutter und Ebay, gesegnet mit zwei antiquarischen Merian – Heften, die mich mit der Welt versöhnt haben. Im Wirbel des Schulanfangs habe ich mich langsam durch beide Hefte gelesen. Die Artikel sind derartig gehaltvoll, wie man es inzwischen nicht mehr gewöhnt ist. Ein gut recherchierter und gut geschriebener Aufsatz über die Schlacht von Pavia, die glorreiche Epoche der habsburgischen Herrschaft in Norditalien oder das ambrosianische Mailand ist fast mehr als das, was man nach den organisationsreichen ersten Schultagen abends vor dem Einschlafen noch verkraften kann. Aber ich habe diese wunderbaren altmodischen Artikel mit viel Vergnügen gelesen. Und wenn so kurz vor dem Träumen Visionen von ohnehin geliebten südlichen Landschaften heraufbeschworen werden, ist das eine gute Therapie gegen jeden Verhandlungsstress mit Eltern wegen der letzten Busse nach Wartenberg oder der Verschiebung der Ballettstunden.

Das Mailand – Merian von 1985 stammt noch aus den Beständen meiner Eltern, aus der glorreichen Zeit, als man bildungsbürgerlich und interessiert an der Welt so ein hochwertiges Heft im Abo hatte. Die Hefte standen im Regal ganz unten. Wir hatten eine ansehnliche Reihe und ich erinnere mich gut an die verschiedenfarbigen schmalen Rücken mit den aufgedruckten Namen von exotischen oder ganz nahen Orten. Manche wurden von uns allen nur durchgeblättert, manche direkt durchgearbeitet und mit auf die Reise genommen. Ich habe zum Vergnügen alles mögliche gelesen. Manchmal, um die Zeit vor oder nach dem Essen zu überbrücken, während die gute Mutter allein in der Küche schuftete. Manchmal, weil die Bibliotheksbücher schon ausgelesen waren und ein leerer Sonntagabend vor mir gelegen hätte. Während ich das schreibe, komme ich mir mal wieder wie ein Dinosaurier vor: wer von den Kindern heute wächst mit dieser literarischen Qualität auf? Und hat die Geduld und die Aufmerksamkeitsspanne, um solche Artikel zu lesen? Artikel, die mich heutzutage verlässlicher ausknocken als ein Whiskey?

Ist das Merian von 1985 schon wunderbar informativ und seriös geschrieben, stellt das von 1971 noch eine Steigerung dar. Auch, weil es nicht nur Mailand, sondern auch die Lombardei im Titel hat und sich in umfassender Weise den grossen und kleinen Juwelen um Mailand herum widmet. Ich habe hier mehr erfahren als beim mehr oder weniger sorgfältigen Googlen beziehungsweise Orte wie Sabbioneta oder Castelseprio überhaupt gefunden, von deren Sehenswürdigkeit ich keine Ahnung hatte. Und das Literaturverzeichnis beginnt so herrlich altmodisch, dass ich es direkt zitieren muss:

“So unerschöpflich der Strom bei uns erscheinender Italien-Literatur auch sein mag, so wenig scheint er jedoch Mailand und die Provinzen der Lombardei berühren zu wollen. So sei denn jedem, der sich mit der Region, vor allem mit ihrem nördlichen Teil, eingehender befassen will, zuallererst Alessandro Manzonis Roman “Die Verlobten” empfohlen, gewiss einer der grossen Romane der Weltliteratur, der in verschiedenen Ausgaben vorliegt.”

Welcher Reiseführer würde sich heute noch erlauben, eine dicken, fetten, kein bisschen aktuellen Roman aus der Vergangenheit an die erste Stelle der Literaturempfehlungen zu setzen? Ich finde das wunderbar und angemessen, doch auch von einer Weltfremdheit, die mich sehr amüsiert. Die Redaktion des Merianhefts geht selbstverständlich davon aus, dass man sich durch einen 870 – Seiten – Roman arbeitet, um den Urlaub dann mehr geniessen zu können. Sie gehen vor allem davon aus, dass man nicht nach Mailand fährt, um an den Schaufenster von Prada oder Brioni vorbeizuflanieren, sondern vollumfänglich in die Kulturgeschichte der Stadt eintauchen will. Es ist skurril, aber – warum sollte man sich nicht extrementschleunigt seinem Traumziel annähern? Die “Buddenbrooks” lesen, bevor man nach Lübeck fährt? Genug Zeit für “Schuld und Sühne” einplanen vor der Kreuzschiffahrt nach Sankt Petersburg? Denn ich mache so was. Ich lebe so unzeitgemäss. Wenn ich das Erscheinungsdatum des Merian-Heftes anschaue, weiss ich auch, wer schuld daran ist. Ich bin überzeugt davon, dass diese Vorgehensweise die Seele ganz anders öffnet für die Region, die man besuchen will. Erst mal steigert sich die Vorfreude sehr langsam und über Monate, je nach Lesetempo. Man sieht die Landschaft und die Orte durch die Augen des Autors, bevor man sie selber erblickt, und ist dadurch auf hoffentlich angenehme Art voreingenommen. Im besten Fall hat man an Orten, an denen man garantiert noch nie war, das seltsame Gefühl von dejà vu, das einen am eigenen Erinnerungsvermögen zweifeln lässt: es kann doch nicht sein, dass einem diese Piazza so bekannt vorkommt. Oder war man doch schon hier? War es ein Traum oder eine vergessene Reise? Ausserdem ist alles eingebettet in eine mehr oder weniger zu Herzen gehende Geschichte. Ist man selber endlich dort, denkt man mit einer Art Nostalgie an das Schicksal liebgewonnener Personen, als ob sie wirklich existieren würden. Kurzum, die Annäherung wird vielschichtig, die Erwartungshaltung aufs Angenehmste gesteigert und das tatsächliche Erleben intensiver und farbiger, als wenn man einfach aus dem Bahnhof fallen und auf sein Handy starren würde, um den Weg zu finden. Nachdem man während der Anfahrt nach oberflächlichen Rezensionen und willkürlicher Sternevergabe geguckt hat. (Entschuldigung, aber der beliebte Seitenhieb auf Smartphones drängelt sich an dieser Stelle in den Artikel: kürzlich war ich an einem perfekt dämmrigen Herbsttag inklusive willkommenem Nieselregen in Regensburg. Die Parks leuchteten rostrot und golden, das von Laub bedeckte Pflaster glich einer sorgsam komponierten Tapete aus Herbstfarben, die alten schiefen Pflastersteine schimmerten im Regen. Regensburg ist so eine geheimnisvolle Stadt, vor allem bei bedecktem Himmel, wenn die engen Gassen noch dunkler sind, die herrlichen sanften Fassadenfarben noch intensiver leuchten. Und erst der Dom am Spätnachmittags, wenn sich der Tag schon bald wieder verabschieden will: beim Betreten sieht man kaum etwas und blinzelt, damit man nicht in eine Wand oder andere Menschen hineinläuft. Glücklich in einer Kirchenbank angekommen, sitzt man minutenlang und nimmt mit Staunen wahr, wie immer mehr Details hervortreten. Die erst ockergelbe Wand wird langsam weiss. Konturen von Säulen und Verzierungen treten immer deutlicher hervor. Und irgendwann wird es ganz magisch, wenn die dunkelbunte Masse der uralten Glasfenster anfängt, doch noch das letzte Licht des Tages einzufangen und in allen Juwelenfarben sanft leuchtet. Der anfangs gelbdunkle, dämmrige Raum strahlt und leuchtet und umfängt einen mit einer ganz ruhigen, geduldigen Art von Schönheit, wie er es schon seit Jahrhunderten getan hat. Das alles braucht Zeit und Stille. Trotzdem quetschen sich genug Zeitgenossen durch die engen Gassen, die den Blick gar nicht von dem bläulich leuchtenden Ding in ihrer Hand nehmen können und wirklich nicht den Kopf heben, bis sie an der von Google genehmigten Sehenswürdigkeit angekommen sind. Ich hab sie alle bedauert, wie sie an so viel Schönheit am Weg vorbeilaufen. Dem Löwen an der Wand. Dem seltsam leuchtenden grünen Kaffeetassen draussen vor dem “Orphée”, die im Braun der Gassen wirken wie schwache erste Frühlingsblüher, die sich nach Sonne sehnen. Den alten verschnörkelten Zäunen um den Park oder dem knallbunten föhnigen Sonnenuntergang von der Steinernen Brücke aus. So wie die Altstadt fast autofrei ist, habe ich mir gewünscht, dass es auch eine handyfreie Zone gibt. Damit die Menschen das Wunder von alter Bausubstanz um sich herum überhaupt wahrnehmen. Ich weiss, wie arrogant ich klinge. Trotzdem blutet mein Herz, wenn die Menschheit sich so deppert durch die Gegenwart bewegt.)

Mich rührt auch, welchen Stellenwert eine Auslandreise 1971 hatte und wie seriös man sich darauf vorbereitete. Inzwischen ist die Welt so anders, schnell und beliebig geworden. Vielleicht würden wir alle profitieren, wenn wir wieder einen Gang runterschalten und nicht zu oft und sinnentleert durch die Welt jetten? Verreisen wie die Generation meiner Eltern oder das Merian – Team von 1970 (diese Truppe hätte ich wirklich gern kennengelernt. Die Artikel sind sagenhaft.) Statt Essensbildern auf Instagram echte, langsam erlebte Erinnerungen mitnehmen. Aber das steht gerade jetzt, nach dem Eingesperrten der Coronajahre, im Gegensatz zur Lebenslust vieler Zeitgenossen. Und ich verdenke es niemanden, wenn er jetzt unbeschwert durch die Welt gondeln will, solange es noch geht. Aber ich alte Tante werde es geniessen, in meinem langsamen Tempo zu leben und zu erleben. Werde den Manzoni lesen an langen Herbstabenden und mir noch das andere empfohlene Buch bestellen: “Lombardei – Wanderungen durch Vergangenheit und Gegenwart” von Henry V. Morton, einem 1892 geborenen Engländer. Wir müssten in etwas das gleiche Reisetempo haben.

“Empfindsame Sommerfahrt in die Lombardei”

Die Lombardei scheint bei Touristen nicht das beliebteste Reisegebiet Italiens zu sein. Kaum jemand kennt sie, die meisten nehmen sie am Rande wahr, weil man auf dem Weg zu wichtigeren Sehenswürdigkeiten wohl oder übel durchfährt. Doch die berüchtigte flache, scheinbar landschaftlich reizlose Po-Ebene bietet mehr als flirrende, staubige Hitze und ausgedehnte Industriegebiete. (Doch die gibt es, da kann man nichts beschönigen. Auch um kleinere Städte herum. Und leider scheint sehr viel Fleischindustrie dabei zu sein – ich bin in meinem gemächlichen Tempo an viel zu vielen Tiertransporten vorbeigefahren und habe in viel zu viele ängstliche, fragende Kälberaugen gesehen, die aus den Luken der Laster neben meinem Auto schauten. So schrecklich das war, hat es mich wieder darin bestärkt, kein Fleisch zu essen. Und zu hoffen, dass mein Beitrag irgendeine Auswirkung hat.) Trotz der unzähligen Kunstwerke gibt es kaum Reiseführer über die Lombardei. Über Mailand schon, Bergamo vielleicht auch noch, aber das war es im Grossen und Ganzen. Kein aktueller Dumont oder Merian, nichts, was man in einer gutsortierten Buchhandlung mitnehmen könnte. Da blieb nur der Weg zum Antiquar meines Vertrauens – und wie immer hat er mich nicht enttäuscht. Ein Dumont “Oberitalien” von 1975 war schnell gefunden, und während ich darin blätterte, verschwand Herr Feurer in den Tiefen seiner Schatzkammer und präsentierte mir wenig später einen wunderhübschen weinrot gebundenen Band mit geschwungener goldener Schrift und marmoriertem Schnitt: “Jenseits des Gotthard” von J. V. Widmann. Hätte mich das ansprechende Äussere des kleinen Bandes nicht schon überzeugt, tat es die Überschrift über dem ersten Kapitel: “Empfindsame Maifahrt zweier Schweizer durch elf lombardische Städte” (1885). Das war mein Buch. Und obwohl es ein bisschen älter ist, kann man sich immer noch wunderbar danach richten. Auch wenn der muntere Autor und sein Schwager nachhaltig und CO2-freundlich mit der Eisenbahn reisten. Auch das ist heute noch problemlos möglich. In Latium hatten wir einige Überraschungen mit aufgelassenen Bahnstrecken erlebt, doch hier im Norden scheinen die Verbindungen noch genau so wichtig und frequentiert zu sein wie um 1880. Die beiden Schweizer logierten in Mailand und unternahmen von dort sternförmig Bahnreisen nach Bergamo, Pavia, Piacenza, Parma, Brescia, Verona. Alles auch heute noch machbar, solange man seine Maske dabei hat.

Der längst verstorbene Herr Widmann brachte mich auf Pavia, und dafür bin ich ihm ewig dankbar. Das allein war die Reise wert. Nicht nur das sensationelle, ausserhalb gelegene ehemalige Kartäuserkloster mit der wild und üppig verzierten Renaissancekirche und dem wunderschönen Grabmal der Beatrice d’Este. Noch mehr berührt hat mich das unscheinbarere San Michele in der Stadt, die ehemalige Krönungskirche der langobardischen Könige und der deutschen Kaiser, aus einer Zeit, als man sich noch selbstbewusst kurzerhand selber gekrönt hat. Die Sandsteinfassade ist weichgewaschen von der Witterung der Jahrhunderte. Hier prangen keine Ornamente oder Intarsien aus verschiedenstem Marmor wie an der Certosa, und doch ist mir das unauffällige, auf so liebenswürdige Art gealterte Gebäude gleich ans Herz gewachsen. Hier ist keine Schaufassade, kein aufgesetzter Schmuck, sondern ganz einfach ein ururaltes Gebilde, das vielleicht irgendwann ganz vom Regen weggewaschen wird. Trotzdem hält es stand und ist noch da in seiner stillen Würde. Wie ein ganz alter Mensch, über dessen Anwesenheit man sich jedes Mal freut. Ich hatte tatsächlich eine Art Mitgefühl mit dem alten Gemäuer, weil es sich so schlicht und ungeschminkt präsentiert. Innen ist die imposant grosse Kirche ähnlich schmucklos, sieht man von den fein gearbeiteten Kapitellen ab. Jede Säule erzählt eine kleine Geschichte mit echten Tieren, Fabelwesen, Monstern oder verrenkten Menschen, die sich um die Säule ranken. Die romanischen Verzierungen setzen sich in der Krypta fort. Man möchte nur noch staunen, stehenbleiben und gucken. Und das tat ich, aber in einer derartigen Entzückensstarre, dass ich vergass, Fotos zu machen. Die Stunde in San Michele werde ich immer in meinem Herzen bewahren – aber vorzuweisen habe ich nichts für die Daheimgebliebenen. Ich sehe es als gutes Zeichen, als Zeichen dafür, dass ich wirklich da war.

Ein anderer “Zufallsbefund” war das winzige Soncino. Wenn man noch mit Landkarten auf Papier reist, findet man solche kleinen Juwelen dank der Sterne, die manche Orte für besondere Schönheit bekommen haben. Zur Relation: das wenig entfernte, von Sehenswürdigkeiten strotzende Crema hat zwei, Soncino hatte einen. Obwohl es nicht mehr weit bis zu meinem Ziel für die Nacht war, wollte ich mir nach der Fahrt durch die Alpen ein bisschen die Beine vertreten und fuhr nach Soncino hinein. Ich bin ganz glücklich, dass ich meiner Neugier nachgegeben habe, denn es ist ein wunderhübsches malerisches Örtchen mit der üblichen wunderbar erhaltenen Burg und einem Kriegerdenkmal für den Ersten Weltkrieg. Von der ebenfalls komplett erhaltenen Stadtmauer aus dem 15. Jahrhundert hat man einen wunderbar weiten Blick über die sommerlichen Felder nach Süden, der einen so am Anfang des Urlaubs mit Vorfreude und Kribbeln erfüllt: was kommt da noch alles? Was werde ich in den nächsten Tagen alles sehen? Im Ort gibt es säulengestützte Arkadengänge, eine sehr alte Backstein-Pfarrkirche und ein fast so altes Kloster mit schattigem Kreuzgang daneben. Das Portal der Hauptkirche wurde von den beiden schon erwähnten braven Löwen bewacht, die denen in Bergamo ähneln. Die Kirche stammt zwar aus dem 12. Jahrhundert und sieht von aussen auch so aus, doch innen überrascht sie mit einer Jugendstil-Ausstattung: einem kobaltblauen Sternenhimmel und eindeutig jugendstilhaften Medaillons von Heiligen mit Lilien. Ein seltsamer Stilbruch, aber irgendwie auch schön, weil es die Liebe der Bewohner zu ihrer uralten Kirche widerspiegelt. Wenn ich dann noch lese, dass es in dem kleinen Nest ein zur Zeit leider geschlossenes Art-Deco-Kino gäbe, könnte ich noch mehr zum Soncino – Fan werden.

Lodi ist ein weiteres Juwel in der flachen Landschaft, vielleicht weniger bekannt als das eindrucksvolle Bergamo oder Cremona, aber in seiner alten Würde ähnlich berührend wie Pavia. Und wieder mit einem malerischen Domplatz, den man gar nicht mehr verlassen will. Stadtmauerresten. Gotischen Stadthäusern, vor denen man jederzeit einen Historienfilm drehen könnte. Man kann anscheinend alle vierzig Kilometer anhalten in der Lombardei und in Schönheit baden. Und kaum bin ich zurück, sagt mir ein Bekannter, dass Treviglio, das ich nur für einen Umsteigepunkt auf dem Weg nach Mailand gehalten habe, so eine hübsche Altstadt habe. Es gibt noch viel zu entdecken, und ich vermisse die lustigen Glockenspiele von hohen Kirchtürmen schon so sehr, dass ich überlege, wann ich wieder nach Norditalien fahren kann.

Solotrip

Wer mich kennt, weiss, dass ich in Kammermusik und dem Musizieren mit anderen verwandten Seelen aufgehen kann. Ich mag es auch, einen ganzen Chor zu begleiten und durch die Musik Teil eines grösseren Ganzen zu werden, in dem ich selber unwichtig werde. Aber am besten ist es immer noch, solo zu spielen. Völlig auf sich allein gestellt und für alles selber verantwortlich zu sein liegt mir einfach. Das fängt an bei der Auswahl der Stücke und setzt sich im Tempo, im Verweilen, in jeder Fermate fort. Wird man Pianist, weil man so ist, oder wird man so, weil man normalerweise immer allein spielt?

Diese Berufskrankheit spiegelt sich bei mir auch auf Urlaubsreisen wider. Zusammen kann es nett sein, aber die Krönung ist es doch, allein unterwegs zu sein. Zumal nach den unglaublich intensiven letzten Konzertwochen, in denen ich mit so vielen Menschen reden musste. In meinem Solourlaub in Italien begann ich jeden Tag in Stille mit Cappuccino und Hörnchen auf der Piazza und beendete ihn dort ebenso schweigend mit einem Aperol, der in der letzten Abendsonne vor der unglaublichen Kulisse des Doms und des Torturms leuchtete. Beide Male sass ich lange an meinem Tischchen, morgens mit dem Tagebuch, abends mit meiner Lektüre. Die Piazza del Duomo in Crema ist so grosszügig angelegt und mit so vielen Dutzend Cafétischen ausgestattet, dass ich auch nach neunzig Minuten nicht aufgefordert wurde, den Platz zu räumen. Oder eventuell noch was zu bestellen. Ich genoss es unglaublich, unter Menschen, aber allein zu sein, niemand grüssen zu müssen, keinem Bekannten zuzunicken oder kurzen Smalltalk zu halten, was mir unweigerlich passiert, wenn ich in meiner kleinen Stadt unter den Arkaden im Café sitze. Kaum vertauscht man die eine hübsche kleine Stadt nördlich der Alpen mit einer anderen hübschen Kleinstadt südlich der Berge, ist alles anders. Nicht nur das Lebensgefühl, sondern ein bisschen auch der ganze Mensch. Ich bin gern allein und es entspricht meinem introvertiertem Wesen am besten, mich unerkannt und unbekannt durchs Leben zu bewegen. Wie auf einem Präsentierteller in der ersten Reihe eines Kaffeehauses zu sitzen, direkt gegenüber vom Stadttor, wo mich jeder sofort sehen kann, ist zuhause undenkbar. In Crema habe ich es genossen und mich gefreut, wenn ich einen Tisch finden konnte, der mich ungehindert den ganzen Blick aufnehmen liess: den barocken Uhrturm mit der kleinen Kuppel und den zwei sanften Heiligen, die die Uhr flanieren und die Pizza bewachen. Den rhythmischen Schwung der perfekt ausgewogenen Renaissancearkaden, die sich zu einem anderen Turm mit dem venezianischen Markuslöwen hinziehen, der die Piazza auf der Nordseite begrenzt und an die jahrhundertelange venezianische Herrschaft in der Lombardei erinnert. Und nicht zuletzt der grandiose Dom aus unverblendetem rotem Backstein, von Barbarossa niedergebrannt und danach wieder aufgerichtet, weshalb er “erst” um 1280 datiert wird, obwohl er in seinen Grundmauern älter ist. Oder in meinem Rücken die Reihe von niedrigeren pastellfarbenen Stadthäusern, die die ganzen Cafés beherbergen und im Verhältnis zu den grandiosen Repräsentationsbauten wie der Kinderchor oder das Nachwuchsballett auf dieser malerischen Bühne der Architektur wirken. Was mich für meine Verhältnisse so ungewöhnlich gesellig und zur entspannten Leuteguckerin werden liess, war ganz einfach die italienische Hitze.

Ich hatte eine kleine Ferienwohnung ganz im Herzen der Stadt gemietet, wirklich nur ein paar Schritte vom Domplatz. Und wie das so ist mit schön fotografierten und enthusiastisch beschriebenen Anzeigen, erfährt man den Rest erst vor Ort: sie war hübsch, und mit hübschen und zum Teil alten Möbeln eingerichtet, und sie ist absolut in einem historischen Haus (das daneben zierte eine Gedenktafel, die erklärte, dass es 1635 erbaut wurde. Beide Häuser sehen sich so ähnlich, sind beide nur ein Zimmer breit und zwei Stockwerke hoch, dass ich die Ferienwohnung aufs gleiche Alter datieren würde). Was die Anzeige nicht sagte: dass die Wohnung nach Süden liegt und direkt unter dem flachen Dach. Die drei raumhohen Fenstertüren standen weit offen, um die ganze Kraft der Mittagssonne hereinzulassen, als ich die Wohnung bezog. Zwischen der Hitze draussen und der drinnen war kein Unterschied zu spüren. Und das alte steinerne Treppenhaus hatte noch mehr Hitze gespeichert nach den langen Wochen der regenlosen Hitzewelle in der Lombardei. So nett und perfekt gelegen die Wohnung war, sie war ein Backofen. Nachts liess ich alle drei Fenster sperrangelweit offen, um die italienische Nacht mit allen Sinnen aufnehmen zu können und das bisschen Abkühlung zu genießen, das geboten war. Aber tagsüber musste ich raus, um zu überleben. Und auf einmal verstand ich das Konzept der Piazza del Duomo: alle sassen hier, um der Hitze zu entfliehen. Alle hatten wahrscheinlich heisse Wohnungen in höheren Stockwerken. Und die Cafés liegen perfekt an der Nordseite des Platzes und haben wegen der Höhe der sie umgebenden Gebäude sehr lange am Tag Schatten, und dann auch schon früh wieder. Ausserdem regte sich hier eine leichte Brise durch den Torturm, von der ich in der Wohnung nichts mitbekommen hatte. So wurde ich zur entspannten Piazza-Sitzerin. Wer hätte das gedacht?

Doch abgesehen von dieser neuen Erkenntnis über mich verlief der Urlaub, wie ich ihn mir gewünscht hatte: ich wollte allein sein, um mich wieder zu spüren und wieder meinen Kern zu finden. Wenn der Alltag auf mich einstürmt, fühle ich mich oft zerfasert und löchrig und vergesse fast, wer ich bin. Ganz schlimm ist es, wenn ich nur noch lieblos und automatisch funktioniere und das Herz nicht mehr bei der Sache ist. Dann fürchte ich oft, mich zu verlieren. Irgendwann muss man die Bremse treten und dafür sorgen, dass die eigene Batterie wieder aufgeladen wird. Und ich weiss, dass Alleinsein, in – mich – Gehen, das beste Heilmittel dagegen ist. Meistens helfen meine täglichen Spaziergänge am Inn, aber wenn sich zu viel aufgebaut hat, ist es der schönste Luxus, sich ein paar Tage ganz allein zu gönnen. Doch ist es nicht seltsam, dass der Wunsch nach kompletten Rückzug, Stille und Ruhe, der ja eigentlich ein menschliches und tierisches Grundbedürfnis ist, schnell als Egoismus ausgelegt wird? (Der Begriff “Grundbedürfnis” ist übrigens vom besten kleinen Bruder von allen, der meinen Wunsch, ein paar Tage allein zu sein, gleich nachvollziehen konnte. Wo ich noch damit haderte, ob ich zu selbstsüchtig bin, erteilte er mir eine ganz klare Absolution.) (Hätte ich eine Schwester, die einigermassen wie ich gestrickt ist, hätte sie gefragt, für wie viele Tage ich vorkochen würde für den Gatten, ob ich genug Katzenfutter gekauft hätte und die Wäschekörbe leer sein. Dem Himmel sei gedankt für Brüder!)

Ein anderer Einwand, der kam, wenn ich von meinen Plänen erzählte, war, dass es so mutig sei, alleine weg zu fahren. Nicht aus den offensichtlichen Gründen wie Autopannen oder anderen praktischen Problemen, die einem als handylosen Mensch widerfahren könnten, sondern weil man auf sich allein geworfen wäre und seinen Gedanken nicht auskäme. Zwei Freundinnen würden sich deshalb nicht trauen, solo zu verreisen. Das hat mich erstaunt, denn das ist ja genau meine Motivation gewesen: in eine Art Klausur mit mir selber zu gehen, um mich wieder zu finden. Wirklich auf mich zurückgeworfen sein, mit so wenig Ablenkung von aussen wie möglich. Und zwar einfach so, ohne Anlass. Da war keine Wegkreuzung im Leben, vor der ich eine wichtige Entscheidung treffen muss, kein Problem, das durch langes Nachdenken gelöst werden muss, kein runder Geburtstag, nach dem man sich neu justieren will. Ich wollte allein sein, um eine ganz harmlose, aber willkommene Zwischenbilanz zu ziehen. Vielleicht könnte man es sogar als eine Art hygienische Massnahme bezeichnen? Ein Entschlacken und Reinigen, ein Häuten? Das geht nur allein. Wobei es sicher enorm viel ausmacht, aus welcher Ausgangslage man eine Reise allein antritt. Ich denke, wenn man nach einer Trennung oder einem Verlust alleine wegfährt, weil man sich nach einem Tapetenwechsel oder einem Heraufbeschwören früherer Zeiten sehnt, kann es schwierig oder sogar traurig werden. Vielleicht spürt man die eigene Einsamkeit in einer fremden Umgebung umso mehr. Meine Motivation war, meinem übervollen Leben, in dem sonst alles okay ist, für ein paar Tage zu entfliehen, um durch Kontemplation und Schweigen wieder zu mir zu finden. Und dafür darf’s ruhig auch schön um einen herum sein.

Mir hat es so unheimlich gutgetan, uralte romanische Kirchen anzuschauen und die Marmorlöwen, die das Portal bewachen, an der glattgeschliffenen Stelle am Rücken zu liebkosen, an denen sie schon seit Jahrhunderten getätschelt werden. Oder mit meinen Fingern Marmorintarsien nachzufahren und mich dabei zu fragen, ob jemand genau diese ovale Perlmutteinlage an der Kanzel auch schon mal streicheln musste. In Kreuzgängen an eine Säule gelehnt zu sitzen dem Wandern der Schatten zuzuschauen, ohne auf die Uhr zu blicken. Ich muss mit ganz viel Zeit meine Umgebung so sinnlich erfahren und lade dabei schneller auf als jedes Elektroauto an der Turbo-Ladestelle. Ich fühle mich geerdet wie bei nichts sonst, wenn ich die Verzierungen einer Kanzel berühre, die seit Jahrhunderten an dieser Stelle steht. Plötzlich tun sich innere Türen auf und ich verstehe meinen Platz in der Welt durch die Begegnung mit der Vergangenheit wieder neu. Getragen von einem Gefühl der Dankbarkeit bin ich leicht und mühelos heimgefahren. Und weil ich so frisch geerdet bin, habe ich Lust darauf, mit Schwung meinen Alltag hier wieder in Angriff zu nehmen.

Somewhere in Northern Italy

Seit ich „Call me by your name“ zum ersten Mal gesehen habe, träume ich mich in Luca Guadagninos sinnliches, elegantes Norditalien hinein. Der Film zeichnet ein perfektes und entspanntes Bild von Italien, wie ich es aus Urlauben kenne: Frühstück im Freien im milden Morgensonnenschein, Renaissancearkaden als Hintergrund eines Cafébesuchs, Draussensein mit wenigen Kleidern am Leib, Wegdösen beim Lesen am Nachmittag im Garten. Aprikosen und Pfirsiche im Übermass. Guadagnino fängt den Sommer mit einer allumfassenden Sinnlichkeit ein, dass man selbst an eisigen Winterabenden glaubt, draussen Grillen zirpen zu hören. Doch das ist noch nicht alles. Wie Hannah Pilarczyk 2018 in ihrer Spiegel – Kritik schrieb: 

„Es gibt so vieles an „Call me by your name“ zu lieben, dass selbst so etwas Besonderes wie die Fähigkeit des Films, das unzuverlässige Zeitgefühl eines Sommers einzufangen, nur eine Qualität von unzähligen ist. Ich weiss nicht, wann mich eine Liebesgeschichte das letzte Mal so mitgerissen hat, vielleicht habe ich so etwas auch noch nie mit einem Film erlebt. In der Ich-Form über „Call me by your name“ zu schreiben, erscheint mir jedenfalls zwingend, denn der Film hat sich in seiner Sinnlichkeit so sehr in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich das Gefühl habe, den Sommer von Elio und Oliver selbst erlebt zu haben. Auch ich erinnere mich an alles.“

Ich wurde auf ähnliche Weise von dem Film verzaubert, und auch so unmittelbar und eindrucksvoll, dass ich, wie die Kritikerin, das Gefühl habe, selbst mitten im Geschehen gewesen zu sein. Was ich in echt nicht so kenne, aber gerne für den Rest meiner Tage hätte, ist das Leben in der jahrhundertealten Villa inklusive gigantischem Garten, in der der Protagonist aufwächst. Das wunderbare büchergefüllte Studierzimmer seines Vaters mit dem durchgesessenen rosa Samtsofa. Der alte Bösendorfer im kronleuchtergeschmückten Salon, auf dem er übt. Natürlich hätte ich auch nichts einzuwenden gegen den gutaussehenden amerikanischen Doktoranden, der den Sommer als Hausgast in der Villa verbringt und selten mehr als eine Badehose anhat. Er ist die Kirsche auf dem Sahnehäubchen inmitten von so viel Ästhetik. Doch die Hauptfigur des Films war für mich das majestätische alte Haus. Seltsam, dass der Film für so viele Oscars nominiert wurde, die Villa aber nicht berücksichtigt wurde! Für mich ist sie essentiell für die Atmosphäre. Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich den Film nur wegen der Villa angeschaut habe.

Sie ist mit einer geradezu römischen klassischen Klarheit aufgebaut, wie ich sie in modernen Häusern wie unserem völlig vermisse. Der quadratische Grundriss wird auf beiden Stockwerken von einem breiten Flur von Nord nach Süd durchkreuzt. Ich kann mir vorstellen, dass man immer weiss, welche Himmelsrichtung wo ist. Auch wenn das Anwesen herrschaftlich in seinen Ausmassen ist und Deckenfresken eines Raffael – Schülers das Wohnzimmer zieren, wirkt es nicht wie ein Museum, sondern äusserst gemütlich und belebt. Auf den breiten Fensterbrettern lehnen Langspielplatten oder Bücher, das Mobiliar ist alt und charmant in die Jahre gekommen. Man sieht ihm an, dass es über Jahrhunderte benutzt, geliebt und gepflegt wurde, bevor es an die nächste Generation weitergereicht wurde. Von der grossen Küche, deren Terrassentüren in den Garten immer offenstehen, darf ich gar nicht erst anfangen. Sie ist schlicht ein Traum. Geräumig, mit weissen Küchenmöbeln mit Muschelgriffen, glänzenden Kupfertöpfen an der Wand und rot-weiss-karierten Gardinchen vor den Unterschränken. Dürfte ich mir eine Filmrolle aussuchen, würde ich wahrscheinlich nicht mal Elio sein wollen, der am Bösendorfer Ravel übt, sondern die Haushälterin Mafalda, damit ich all meine Zeit in dieser hübschen Küche verbringen kann.

Die Villa in der Romanvorlage von André Aciman befindet sich in Bordighera und wird nicht näher beschrieben. Nur, dass sie ebenfalls alt ist und schon lange im Besitz der Familie. Der Regisseur des Films hat sie aus praktischen Gründen in seine damalige Heimat Norditalien versetzt, weil er beim Dreh endlich mal zuhause schlafen wollte. Ich weiss nicht, ob dieser angebliche Wunsch zuerst kam oder die Entdeckung der leerstehenden Villa Albergoni in einem kleinen Nest zwischen Mailand und Cremona. Was den Film vielleicht auch so authentisch und berückend macht, ist die Tatsache, dass ein echtes, jahrhundertealtes Haus als Kulisse benutzt wurde und keine Studioaufbauten, die nach Drehschluss sofort demoliert werden und Platz für das nächste künstliche Set machen. Die Villa liegt immer noch so wunderbar eingewachsen und verwunschen in ihrem Park, wie sie im Film verewigt wurde, und irgendwie macht das für mich die Magie des Streifens greifbarer und realistischer. Ich bin dankbar, dass die Geschichte in diesem umwerfenden Ambiente verfilmt wurde. Selbst wenn man nur einen Blick durch das hohe schmiedeeiserne Tor auf die Villa im Dornröschenschlaf wirft, steigen Träume auf. Der verwunschene alte Ort hat das Potential, vergangene Zeiten lebendig werden zu lassen und sie gleichzeitig mit unserem ganz modernen Leben und ganz persönlichen Freuden und Sorgen zu erfüllen. Ich verstehe, warum Guadagnino nicht widerstehen konnte.

Einige Jahre besuchte ich die Villa an heimlichen Filmabenden, die mit Genuss und Musse zelebriert wurden. Am besten in Abwesenheit des Gatten, denn – wie will man rechtfertigen, dass man schon wieder den gleichen Film anschaut? Bei dem er sich beim ersten und einzigen Angucken sogar irgendwann ausgeblendet hatte? Aber ich musste in dieses alte Gemäuer zurückkommen. Wollte die hohen Sprossenfenster sehen, den glänzenden Terrazzo – Fussboden unter den nackten Füssen der Schauspieler, das dichte Dunkelgrün des Parks während eines plötzlichen Regengusses. Wenn mich das 21. Jahrhundert meines eigenen Alltags zu sehr mit moderner Hässlichkeit, grässlichen Bausünden oder deprimierend anzusehenden Turnschuhen konfrontierte, war die Villa mein innerer Zufluchtsort, an dem alles schön, stilvoll und beruhigend ist. Manchmal braucht man solche Traumorte, um durch’s Leben zu kommen.

Als ich letztes Jahr nach meiner Covid-Impfung so heftig an Hepatitis erkrankte, dass ich schon dachte, ich müsste abtreten, habe ich mich gefragt, was ich im Leben noch gern gesehen hätte. Und beschloss, es zu tun, falls ich noch mal gesund werde. Versprechen sich selbst gegenüber muss man einhalten, auch wenn sie etwas peinlich sind. Aber ich merkte: ich will diese Villa in echt sehen, selbst wenn sie in Privatbesitz ist und man sie nicht besichtigen kann. Ich liebe diesen Ort so sehr, war so oft in meiner Phantasie dort. Und sie ist nur 500 Kilometer von uns entfernt. Der gute Gatte reagierte wie immer unerschüttert. Er runzelt nicht mal mehr die Stirn, wenn ich sage, wir müssen nach Norditalien fahren, um ein Haus aus einem Film von aussen anzuschauen, sondern fragt, welches Auto wir nehmen sollen.

Kann man sich vorstellen, wie gross mein Entzücken war, als ich beim Träumen über Landkarten entdeckte, dass es direkt neben der Villa einen agriturismo gibt, einen Hof, der Zimmer vermietet? Strenggenommen liegt er sogar im Park der Villa und teilt eine niedrige Mauer mit dem jenseitigen Garten. Der ehemalige Pferdestall, in dem die Gästezimmer liegen, ist sogar kurz im Film zu sehen. Und wir würden die gleichen Bäume sehen, die gleichen Vögel und Nachtgeräusche hören wie in der Villa. Keine Frage, dass ich dort Zimmer reservierte.

Die sechs Tage in der Lombardei wurden noch viel schöner, als wir beide es erwartet hatten. Es fing schon mit dem wunderbaren Frühstück an, das wie im Film auf der Ostterrasse serviert wurde, keine zweihundert Meter von der Filmterrasse entfernt. Man muss ein echter Fetischist sein, um solche Details schätzen zu können, aber – ist es nicht toll, zu sehen, dass die Sonne am Morgen wirklich so in diesen kleinen Teil Italiens fällt? Und wie skurril ist es, wenn die herzlichen Gastgeber genau die gleiche Torte zum Frühstück vorbereitet haben, die es auch im Film gibt? Eine Art Linzer Torte mit Aprikosenmarmelade. (Ich hab meine Begeisterung gut verborgen, wie ich finde, und niemals ein Wort über den Film verloren. Die Familie strengt sich so an, ist so grosszügig und fleissig und will sicher um ihrer Leistung willen geschätzt werden und nicht, weil in der Bude nebenan ein paar Wochen Dreharbeiten stattgefunden haben. Die Torte scheint also wirklich eine Spezialität der Gegend zu sein. Und trotzdem – es war mehr als perfekt, auf diese Weise mit allen Sinnen in die Atmosphäre der Sommerromanze einzutauchen.)

Moscazzano ist der unspektakulärste Ort, an dem man Urlaub machen kann. Sieht man von der Villa ab, die mit ihrem ausufernden Park geschätzt ein Zehntel des Dorfes ausmacht. Es gibt eine Kirche, einen Friedhof am westlichen Ortsrand, keine Bar, was in Italien bemerkenswert ist (die Bar aus dem Film ist geschlossen – vielleicht noch eine Coronafolge? Denn wie soll ein Ort ohne einen solchen Treffpunkt überleben?), einen winzigen Alimentari, der auch immer geschlossen war, und einen ebenso winzigen Tabacchi. Kein Restaurant, keine Pizzeria. Abends begeben sich die 700 Einwohner früh nach innen, wie wir bei unserem letzten Gassigehen mit dem Hund unserer Vermieter feststellen konnten. Der Ort liegt schweigend und ruhig da, die Strassen sind zwar beleuchtet, aber sonst schlummert alles. Grund der späten Spaziergänge war natürlich, zu gucken, ob in der Villa nicht vielleicht doch irgendwo Licht an ist. Zur Tarnung sind wir die zwei Querstrassen, aus denen der Ort besteht, bis zum Ende gelaufen. Selbst das kleine Nest, aus dem ich stamme, ist abends lauter, weil eine grössere Bundesstrasse in der Nähe ist. Hier fuhren nicht mal Autos, und die Landstrassen um Moscazzano herum sind so klein und unbedeutend, dass auch tagsüber wenig Verkehr ist. 

Und trotzdem waren wir so glücklich dort. Von der Lage her war es ideal, um die malerischen und kunsthistorisch bedeutenden Orte der Lombardei zu erkunden. Bergamo war mit sechzig Kilometern noch am weitesten weg. Lodi, Crema oder Cremona liegen einen Katzensprung entfernt. Bei der kurzen Anfahrt hatten wir immer viel Zeit, noch ein romanisches Domportal mit Löwen zu bewundern, noch eine romanische, hochaufragende Domfassade zu sehen und in Ruhe in einem der Cafés draussen zu sitzen. (Wenn ich die Augen schliesse und an die Lombardei denke, sehe ich diese strengen, breiten Backsteinfassaden vor mir und die separat stehenden Campanile daneben). Und vor und nach unseren Tagesausflügen gingen wir mit dem Hund der Vermieter in den Feldern rund um Moscazzano spazieren, richtig ausgedehnte Spaziergänge, weil das kleine wuschelige Tier so glücklich war und ich mich nicht sattsehen konnte an der flachen, endlosen Landschaft, die mir nach dem Eingesperrtsein der Coronajahre ein unglaubliches Gefühl von Freiheit vermittelte. Hier ist nichts, was den Blick einschränkt. Nur saftig grüne Wiesen, gelegentliche Pappeln, die unvergesslich im Wind flüstern, und ein endloser Himmel in einer zarteren, feineren Farbe als bei uns. Im Norden tauchten an manchen Tagen die Bergamasker Alpen im Dunst auf, aber sonst – Freiheit, so weit man blickte. Und wunderschöne zart – verschleierte Sonnenuntergänge.

Ein wichtiges Element fehlte in diesem Italienurlaub im Frühjahr: die drückende, lähmende Hitze. Und ich war so dankbar dafür. Natürlich gehört es irgendwie dazu, in der römischen Campagna fast zu verschmachten, und das Lebensgefühl ist anders und irgendwie entfesselter, wenn man den ganzen Tag in Sandalen und mit staubigen Füssen rumläuft. Aber auch irgendwie erledigt – entfesselt. Irgendwann fiel uns auf: wir tragen die gleiche Kleidung wie zuhause und sind froh um jede Wollschicht. In Brescia pfiff ein derartig kalter Wind von den Bergen, dass wir fast meinten, es würde jede Minute schneien. Auch wie zuhause. Manchmal sehen wir in Wasserburg die Berge ganz nah, manchmal sind sie im Dunst verschwunden – wie Bergamo und die Alpenkette am Horizont. In Moscazzano waren wir ungefähr eine Stunde von den Alpen entfernt, zuhause auch. Hier wird das Adelholzener Wasser, das aus den Alpen kommt, abgefüllt, in Italien das aus San Pellegrino. Hier wie dort gibt es grosse Seen, kleine Seen und Wasserfälle. Die Parallelen wurden immer mehr, bis wir uns eines Morgens fragten: sind wir überhaupt weggefahren, oder sind wir auf eine gewisse Art noch zuhause? Ist das, wonach ich mich so gesehnt habe, nicht ohnehin schon mein Alltag? Bewegen wir uns nicht eigentlich in einer nur dezent italianisierten Form unseres eigenen Alltags, einem Paralleluniversum mit spürbar mehr Romanik als zuhause? Warum macht es trotzdem so viel Spass?

Mehr als einmal hatte ich an diesen italienischen Sehnsuchtsorten das Gefühl, nach Hause zu kommen. Was romantisch klingen könnte, ist wahrscheinlich nur ein Beweis, dass ich den Film etwas zu häufig angesehen habe. Aber es gab greifbare Momente, wie wenn wir uns auf einem Spaziergang weiter entfernt hatten und Moscazzano mit seinem Kirchturm mit der Haube inmitten von grünen Wiesen liegen sahen. Beim ersten Mal dachte ich noch dunkel: das kenne ich doch von irgendwo her – bis ich mir eingestehen musste, dass das ein exaktes Bild meines winzigen Heimatdorfs ist, wenn man vom Tal her kommt. Der barocke Kirchturm mit seiner Zwiebelhaube ist das grösste Gebäude unseres Ortes. Exakt wie hier in Italien. Zuhause, als Heranwachsende, regte ich mich darüber auf, dass in unserem Dorf nichts geboten ist als Kirche und Friedhof – jetzt mache ich in so einem Ort Urlaub und finde es noch schön. Vielleicht habe ich mich im Film auch wiedererkannt? Elio wartet nur darauf, dass der Sommer endet, um in der Stadt wieder sein eigentliches Leben aufzunehmen. So lange er in Moscazzano ausharren muss, liest er und spielt Klavier. Das waren auch die beiden Eckpfeiler, die mir das Leben auf dem Dorf erträglich gemacht haben. Ohne die Beschäftigung mit Büchern und dem Klavier wäre ich wahrscheinlich verwelkt. Und egal ob es eine freskengeschmückte, jahrhundertealte Villa ist oder ein Reihenhaus aus den Siebziger Jahren: aus beiden kann man in noch bessere Welten fliehen durch den Kontakt mit Kunst.

Aber ich denke, es geht noch weiter. Damals habe ich die Fähigkeit kultiviert, mich an andere Orte zu träumen, in denen das Leben stilvoller und anregender ist. Auch wenn mein damaliges vollversorgtes Schülerleben alles andere als schlecht war. Ich mochte es einfach, mir andere Erfahrungswelten vorzustellen. Als Gedankenspiel, ein bisschen auch als Flucht, aber mehr als Ausprobieren einer Möglichkeit, wie es auch sein könnte. Auch wenn in der „echten“, offiziellen Realität alles in Ordnung war. Ich war körperlich zuhause, in der Phantasie wo ganz anders. Ich habe mir die öden Busfahrten auf dem Schulweg versüsst, indem ich mich in andere, ausländische Landschaften hineingeträumt habe, egal, ob ich sie wirklich schon mal gesehen hatte oder nur aus Büchern kannte. Und auch wenn man zufrieden damit ist, wo man ist – es gibt immer noch ein anderes, paralleles Universum, in dem man auch sein könnte. Genau in diesem Moment. Genau so, wie man gerade ist. Hätte man sich irgendwann im Leben für den anderen Pfad entschieden, wäre man jetzt in einer anderen Stadt, einem anderen Beruf, einem anderen Haus, auch wenn man gleich aussehen würde und die gleichen Angewohnheiten haben würde. Dass es diese Option gibt, macht das Leben schöner, finde ich. Es ist nicht so, dass ich voll Bedauern die verpassten Pfade durchspiele und mir ausmale, was gewesen wäre, wenn. Obwohl sicher auch jeder von uns dieses Gefühl kennt. Es ist eher das friedliche Ko-Existieren von unterschiedlichen Möglichkeiten, die zur gleichen Zeit hätten ablaufen können. Im besten Fall hat man sich damals für die entschieden, die einem am ehesten entspricht und später auch erfüllt. Und selbst wenn nicht, wenn einen äussere Umstände oder Zwänge daran gehindert haben, wird man sich so weit mit seinem Leben arrangiert haben, dass es gut ist. Wir sind ja alle anpassungsfähig und bestrebt, das Beste aus einer Situation zu machen. Der Vater im Film erwähnt bei einem der Frühstücke, bei denen ich so gern anwesend gewesen wäre, dass jeder im Leben eine Phase des traviamento durchmacht, den Moment, in dem man auch einen anderen Weg hätte einschlagen können. „Manche führen aus Angst, vom rechten Weg abzukommen, jahraus, jahrein das falsche Leben.“ Worauf der vermeintlich unbekümmerte amerikanische Gast entgegnet: „Manchmal stellt sich heraus, dass il traviamento der richtige Weg ist, Prof. Oder einer, der zumindest so gut ist wie jeder andere.“ (S. 118) Was so lakonisch und simpel klingt, ist vielleicht das Rezept für ein glückliches Leben – egal, wie man sich entschieden hat, die Alternative muss auch nicht viel besser sein. 

Aber selbst wenn man, wie ich, ein glückliches und schönes Leben hat, hat es einen speziellen Reiz, sich zu fragen: was wäre aber, wenn…? Wenn ich, so wie ich bin, die Mutter aus dem Film wäre, die die Villa geerbt hat? Ein Haus zu erben bedeutet ja, einen Elternteil verloren zu haben. Der Preis wäre mir zu hoch. Oder die Haushälterin, die ich um ihre Küche beneide – irgendwann werden ihre arthritischen Finger erwähnt. Selbst in der schönsten Küche scheint nicht immer die Sonne. Vielleicht träumt sie sich in eine kompakte kleine Reihenhausküche wie die unsere und einen Haushalt ohne Sommergäste, die wochenlang umsorgt werden müssen, während ich so gerne sie wäre.

Vielleicht gibt es Zeitgenossen, die solche Überlegungen müssig oder überflüssig finden. Möglicherweise gibt es realistischere Menschen als mich, die einfach im Hier und Jetzt leben und kein Interesse an Paralleluniversen haben. Aber es macht mein Leben reicher, fügt ihm spannende Facetten hinzu, an denen ich gerne weiterdenke. „Was wäre, wenn“ könnte wie ein Spiel aus der Kindheit klingen. Vielleicht ist es in Wahrheit eine Überlebensstrategie für manche? (André Aciman, der Autor der Filmvorlage, hat ein spannendes Buch mit Essays zu diesem Thema geschrieben, dessen Lektüre und Einfluss hier durchscheinen: „Homo irrealis“. Er ist der Experte für die „was wäre, wenn…“ Zustände.)

Wir kamen zum Aprilvollmond in Moscazzano an. Nicht nur deshalb war meine erste Nacht neben der Villa ziemlich schlaflos. Das Mäuerchen, das den agriturismo vom dunklen Park trennt, ist nicht hoch. Gar nicht hoch für jemand wie mich, und damit meine ich nicht nur meine Körpergrösse, sondern meine innere Motivation. Das Haus war sechs Jahre auf dem Markt gewesen, bis es letzten Herbst jemand kaufte. Für 1,7 Millionen übrigens, was angesichts der Immobilienpreise im Chiemgau lächerlich ist. Aber dieses Ostern war es angeblich noch unbewohnt und wirkte auch so: dunkel, alle Fensterläden geschlossen, keine Autos vor dem Haus. Schon bei unserem ersten Erkundungsgang hatte ich gesehen, dass auf dem Briefkasten und Klingelschild noch „Albergoni“ steht, der Name der Familie, die die Villa in den Sechziger Jahren erworben hatte und nach denen sie im Moment benannt ist. Ich muss gestehen, dass der Impuls, im Schlafanzug etwas zu schlafwandeln im verlassenen Nachbargrundstück, enorm war. In der Nacht hätte ich es auch noch auf den Frühlingsvollmond schieben können. Ich bin froh, dass ich mich doch beherrscht habe und nichts Illegales unternommen habe. Als Belohnung bot uns das Schicksal wenige Tage später eine Chance auf dem Silbertablett, mit der ich gar nicht gerechnet hatte: als wir von unserem Ausflug nach Lodi am Spätnachmittag zurückkamen, stand das Haupttor der Villa offen. Natürlich steckte ich meinen Kopf rein und fand eine Gruppe von Asiaten, die den Garten besichtigten. Ein älterer Herr im Polohemd winkte mir zu und sagte auf Italienisch, dass wir gern reinkommen können, aber nur bis zur Statue. (Das entspricht ungefähr einem Drittel des 20 000-Quadratmeter – Grundstücks…) Und so kam es, dass wir das Haus, das nicht besichtigt werden kann, doch aus allernächster Nähe sehen konnten. Wir waren praktisch im Film, und es war so surreal und irreal und wunderschön, dass ich nur ganz langsam und vorsichtig den kostbaren Rasen betreten habe und mich wie in Trance umgesehen habe. Teilweise hatten wir von aussen schon bemerkt, dass die Glyzinie, die an Ostern überbordend und betörend duftend über den Nebeneingang zum Park schäumte, auch in einige der hohen Bäume geklettert war. Aus der neuen Perspektive vom Garten aus konnten wir noch mehr der lila Dolden sehen, die sich hemmungslos in höchste Höhen hochgerankt hatten und wie leuchtende Paradiesvögel in den dunkelgrünen Bäumen hingen. Ich habe noch nie einen derartiges Glyzinienparadies gesehen. Dabei stand das Haus nur sechs Jahre leer! Auch wenn im sommerlichen Film nichts mehr von den lila Kletterpflanzen zu sehen ist, überfiel mich das seltsame Gefühl, das alles längst zu kennen. Mir ging es wie der „Spiegel“ – Kritikerin: ich erinnerte mich an etwas, an dem ich unmöglich teilgenommen haben kann. Und doch war es eine Art nach Hause – Kommen. Tagträume sind vielleicht doch genau so echt wie die Realität, wenn einem dann die Wirklichkeit, in allen Dimensionen inklusive dem milden Nachmittagslicht und dem Gesang der Vögel, vorkommt wie eine Reminiszenz an etwas, das man schon mal erlebt hat. Das war tatsächlich ein richtiger Glücksmoment. Für mich, weil ich am Ziel meiner Träume war beziehungsweise jetzt noch verwegener weiterträumen kann, und für den Gatten, weil ich glücklich war (als er mir das abends sagte, sind mir fast die Tränen gekommen. Ich kann es ihm gar nicht hoch genug anrechnen, dass er diese Schnapsidee von Reise unterstützt hat. Und im Park der Villa Photos gemacht hat, als ich in Entzückensstarre war.) Es mag albern klingen, aber es hat einen Unterschied für mich gemacht, tatsächlich dort zu sein. Vor dem Fenster des Arbeitszimmers zu stehen, in dem der denkwürdige Monolog des Vaters aufgenommen wurde. Unter den Bäumen zu laufen, in deren Schatten im Film der Mittagstisch steht. Ich komme mir einerseits wie ein hysterischer Teenager vor, andererseits bin ich immer noch erfüllt und beglückt, dass ich mich kurz an diesem besonderen Ort aufhalten durfte.

Und der Zauber hält an. Dass ich dort war, hat nichts an meiner Fähigkeit zu träumen verwässert, im Gegenteil. Wenn ich zu früh aufwache im Morgengrauen, weil die Vögel in unserem Garten enthusiastisch den Tag begrüssen, stelle ich mir die Villa im ersten zögernden Tageslicht vor und schlafe glücklich weiter. Ebenso in gewissen schläfrigen Nachmittagsmomenten – jetzt würde das Haus genau so gross, majestätisch und ruhig in der westlichen Sonne liegen wie damals, als wir in den Park durften. Die wild wuchernden Pfingstrosen wären sicher längst verblüht, auch wenn keiner ihre Schönheit wahrgenommen hätte, aber die Statue würde genau so unermüdlich den Hauseingang bewachen, wie sie es seit Jahrhunderten tut. Der Garten wäre still und leer. Und ich kann genau so leise und heimlich in meiner Phantasie durch den Park spazieren, ohne jemand dort zu stören.

Auferstehung

Vor einigen Jahren habe ich begonnen, unten am Zaun einen kleinen Frühlingsgarten anzulegen. Im Sommer, wenn die hohen alten Eichen und der schiefe Holunder Blätter haben, ist dieser Ort nur noch schattig und moosig und optisch ein undurchdringliches dunkles Grün. Im ausgehenden Winter jedoch ist alles licht und durchsichtig. Hinter dem Zaun sieht man die Reflexe des Himmels auf dem kleinen See. Der Säulenwald der dicken alten Baumstämme wirkt wie eine Kathedrale ohne Dach. Unser Garten wurde dem Wald abgerungen, und der Wald versucht berechtigterweise, sich sein Hoheitsgebiet wieder zurückzuerobern. Deshalb habe ich ohne viel schlechtes Gewissen vor vielen Jahren einen Spaten voll Buschwindröschen aus dem Wald rübergeholt. Sie gedeihen fünf Meter hinter dem Zaun genau so gut wie diesseits des Zaunes und haben sich zu einem grossen Teppich voller leuchtender Sternchen ausgebreitet. Ich rechtfertige die Aktion damit, dass ich sie nicht ausgerottet, sondern ihnen neuen Lebensraum gegeben habe.

Das war der Grundstein zum heutigen Frühlingsgärtchen. Irgendwann dachte ich, ein paar Osterglocken wären nett zu den Buschwindröschen. Dann kamen natürlich Schneeglöckchen und Märzenbecher dazu, und wegen der Farbe ein paar Muscari. Niemand ausser mir darf bei Todesstrafe dieses Stückchen schütteren Rasen mähen. Doch gegen die Wühlmäuse kann ich mein Gärtchen nicht schützen: sie und ich lieben Osterglocken gleichermassen. Jeden Herbst pflanze ich nach, immer ungefähr fünfzig Stück. Man könnte meinen, der Garten explodiert langsam in einem gelben Osterglockenrausch, aber die Wühlmäuse sorgen dafür, dass es elegant wenige nickende Köpfchen sind, die in der Abendsonne wunderbar strahlen, wenn sie von hinten beleuchtet werden. Jeden Frühling pflanze ich in den Lücken nach, mit den teuren, in der Gärtnerei gezogenen fertigen Pflanzen. Keiner von uns gibt auf – es ist eine erzwungene Art von Geben und Nehmen, die mich aber gleichmütig lässt. Solange die Bestien ein paar übrig lassen, damit wir Anfang April einige ausgewählte Blüten auf den Esstisch stellen könne, ist alles gut.

Der Grund, warum ich nicht nachlasse, ist nicht nur wegen des hübschen Anblicks und der auffallenden Farbflecke im kahlen Vor-Frühlingsgarten, sondern wegen des Symbolgehalts. Dass etwas, was über Monate in der kalten Erde geschlummert hat, wieder zum Leben erwacht, ist nach wie vor ein Wunder für mich. Dazu kommt zu ihrer Blühzeit das Osterwunder, und, ganz persönlich, eine andere Art von Auferstehungshoffnung. Ich vergrabe die Zwiebeln in der Dunkelheit der Erde immer um den Todestag meines Vaters herum. Zu seinem Geburtstag im April strahlen und leuchten sie und erinnern mich mit ihrem Lächeln an seine Güte und Grosszügigkeit. Deshalb kann und werde ich nie aufgeben, neue Zwiebeln nachzusetzen – jede einzelne Pflanze, die es durch den Winter und die Mäuseplage geschafft hat, erfüllt mich mit Dankbarkeit und Hoffnung.

Selten habe ich diese kleine Aufmunterung aus dem Garten so nötig gehabt wie dieses Jahr. Anfangs hätte keiner gedacht, dass sich der barbarische Angriffskrieg Russlands so lange hinziehen würde. Und schon wieder sind Wochen vergangen, die Osterglocken längst verblüht und die Nachrichten nach wie vor entmutigend. Ich kann es nicht fassen, dass wir hier wohlversorgt und in Sicherheit sitzen und gar nichts tun können. Meine Sprachlosigkeit angesichts der Grausamkeiten, die in der Ukraine passieren, äussert sich auch in einer Art Schreibhemmung. Was kann man grossartig sagen, ohne banal zu klingen? Der Krieg macht mir sehr zu schaffen und könnte mich runterziehen, wenn ich mich ganz darauf einlassen würde. Irgendetwas hindert mich daran. Eine Art Selbstschutz? Oder ist es nicht eher eine Kapitulation vor so viel Bösem? Trotzdem muss das Leben weiter gehen, und auch wenn es einem frivol vorkommt, diese Tage zu geniessen, musste ich nach der dunklen Coronazeit auftanken. Vielleicht kann man das Böse durch viele kleine gute Taten ausgleichen, aufwiegen, bekämpfen? Aber das funktioniert nur, wenn die eigenen Nerven nicht blank liegen. Es ist ein Balanceakt aus Egoismus und Klarsichtigkeit wie das ganze Leben – was passt gerade, was wäre zu viel, egal in welche Richtung?

Man sieht, es fällt mir schwer, unsere Vergnügungsreise in diesen Kriegstagen zu rechtfertigen, aber das ist es, was wir getan haben: wir sind tatsächlich zum ersten Mal seit 2019 wieder in den Urlaub gefahren. Waren zum ersten mal seit 2019 ausserhalb Bayerns. Ich hatte Befürchtungen, dass es schwer wäre, die Diskrepanz auszuhalten, dass anderswo auf der Welt Krieg ist. Doch dann war es ganz leicht, sich für sechs Tage aus dem Geschehen herauszunehmen. Der Selbstschutzmechanismus war doch stärker als das ethische Gewissen.

Wir sind in eine Region gefahren, die selbst in einer Art langsamer Auferstehung begriffen ist: die Lombardei. Wir haben Bergamo besucht, das während der Anfangsphase von Covid so viele traurige Schlagzeilen machte, und wohnten im idyllischen winzigen Moscazzano, das nur achtzehn Kilometer von Codogno entfernt ist, dem Ort, in dem der erste europäische Coronapatient registriert wurde. Der berühmte Paziente 1 lebt übrigens noch, arbeitet wieder, geht seinen Hobbies nach und freut sich an seiner im März 2020 geborenen Tochter. Immerhin. Doch die Lombardei war stark gebeutelt. Ob wir mit so viel Herzlichkeit und Aufmerksamkeit empfangen wurden, weil der Tourismus so lange brach lag, oder ob die Norditaliener einfach immer so nett sind, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall haben wir bewusst auf das wildere, ursprünglichere Mittelitalien verzichtet, das wir sonst so gern besuchen, und sind mit der Absicht in den Norden gefahren, die Wirtschaft richtig anzukurbeln. Das heisst: jeden Tag genussvoller Aperitif auf irgendeiner malerischen Piazza. Und noch genussvolleres, ausgedehntes Abendessen. Und ich war sogar beim Friseur, nach zehn Monaten mal wieder!

Das eindrucksvollste Auferstehungserlebnis hatte ich ausgerechnet am Ostersonntag Morgen. Wir waren früh auf einer einsamen Landstrasse nach Cremona gefahren, durch frisch grüne, endlose Wiesen mit einem noch endloseren hellblauen Himmel darüber. Die schräg stehende Sonne verbreitete ein besonderes, zartes Licht, das heller und glasiger schien als zuhause. Der Gatte war selig im wunderschön modern aufgemachten Museo del Violino. Ich finde Musikinstrumente in Museen immer traurig. Sie sind nicht dafür gemacht, ausgestellt und nur angeschaut zu werden. Ich musste mit ihm schon die Stradivari im Ashmolean anschauen, und hier in Cremona gab es in der sogenannten Schatzkammer zehn wertvolle Instrumente, die in der Stadt entstanden waren. Die Präsentation war zwar sehr stilvoll in einem halbdunklen Raum, der mit weinrotem Samt ausgeschlagen war. Über uns schwebten die sphärischen Klänge von Bergs Violinkonzert in Dauerschleife. Trotzdem fand ich es irgendwie makaber und leblos, vor allem, als mir aufging, dass die armen eingesperrten Geigen alle ihre Gesichter Richtung Osten wendeten – wie die Toten früher beerdigt wurden, in der Hoffnung auf Auferstehung. Es war zwar warm und gemütlich, aber trotzdem eine Art Friedhof.

Doch die Kuratoren haben genau so viel Mitleid mit den armen Geschöpfen wie ich. Deshalb gibt es regelmässig Konzerte auf den Instrumenten, die das Museum besitzt. Am Ostersonntag durfte Stradivaris “Cremonese” für eine Stunde aus ihrem Glassarg und wurde unter den kundigen Händen von Edoardo Zosi für eine Stunde wieder lebendig. Ich hatte nicht erwartet, dass es so ein berührendes und für mich tatsächlich weltbewegendes Erlebnis wurde, doch der moderne Konzertsaal mit der sagenhaft guten Akustik, der Spieler, das einzigartige Instrument und nicht zuletzt: Bach gingen eine Symbiose ein, die mich völlig überwältigte. Was ich erst nur als kleine Solo-Matinée auf einer besonderen Geige verbucht hatte, wurde mein erstes vollgültiges Konzerterlebnis seit 2019. Und auch wenn in Norditalien noch Maskenpflicht bestand, war meine Seele ganz unmaskiert und aufnahmefähig und hat sich erinnert: ja, so war das früher, als man mit dem Spieler in einem Raum sein und Musik in allen ihren Facetten erleben konnte, mit physikalischen Schwingungen, die einen körperlich berühren, mit dem Wahrnehmen von kleinsten Nebengeräuschen wie Fingern auf dem Griffbrett oder dem lauten Einatmen des Spielers. Vielleicht wird das irgendwann wieder Alltag? Vielleicht wird nicht nur Norditalien, sondern die Kulturszene überall langsam wieder auferstehen?

Vom Inn an den Inn: Passau

Auch im zweiten Pandemiesommer haben wir keine grössere Reise geplant. Es fühlt sich immer noch verkehrt an, weiter als zwei, drei Wochen zu planen oder überhaupt zum Vergnügen etwas zu unternehmen, was auch vermieden werden kann. So gern wir sonst ein Mal im Jahr in südlichere Gefilde gefahren sind, so leicht fällt es uns auch, darauf zu verzichten. Man hat sich Freuden dieser Art irgendwie schon so komplett abgewöhnt, dass man kaum mehr merkt, was einem fehlt. Bis…

… man sich eines Samstag morgens doch tatsächlich ins Auto setzt, losfährt und die magische Marke vom Umkreis von fünfzehn Kilometern, die uns noch im Januar aufoktroyiert war, in verwegener Weise verlässt. Mit jedem gefahrenen Kilometer wird das ungläubige Staunen grösser. Es geht! Am Inn entlang, irgendwann über den Inn auf einer grossen Brücke, dann nochmal am Inn, bis fremde, unbekannte Namen auftauchen und die Ortsschilder einen direkt exotischen Touch bekommen: Annabrunn. Manholding. Rattenkirchen. Rotthalmünster. Irgendwann taucht gar das mystische Linz auf, in das wir immer mal fahren wollten – seit es wieder Grenzen gibt und die Grenzen echte Hindernisse sind mit Einreisebeschränkungen, Staus und Kontrollen, wirkt selbst Österreich unerreichbar. Das schlägt mir langsam wirklich auf’s Gemüt. Ich vermisse unsere gelegentlichen Fahrten nach Salzburg und das Salzburger Lebensgefühl mehr, als ich gedacht hätte. Doch heute kommen wir zum Greifen nah an Österreich heran: irgendwann sitzen wir in Passau an der Innpromenade. Die Grenze verläuft im Fluss. Was auf der Karte ein hin – und her – mäandernder schwarzer Streifen ist, ist im trüben schlammigen Wasser unsichtbar, in meinem Kopf aber äusserst präsent. Der Verlust von europäischer Freizügigkeit und vormals gefühlter Einigkeit ist enorm.

Natürlich könnten wir einfach rüberfahren und einen Tag bei den Nachbarn geniessen, aber wir sind beide vernünftig oder bockig und wollen am eigenen Leib erfahren, wie es ist, Extrem – Deutschlandurlaub zu machen und Oberbayern nicht zu verlassen. Es ist auch eine gewisse Neugier dabei, wie es sich anfühlt, sich innerhalb der neuen Grenzen und Beschränkungen zu arrangieren. Manchmal ist es wie dunkle, graue Wolken am Himmel, die zu tief über dem eigenen Kopf hängen. Aber meistens führt es zu neuen Erkenntnissen und Entdeckungen, die wir sonst nicht gemacht hätten, wenn wir den gewohnten Pfaden und grünen Grenzen gefolgt wären. Was ja wieder ein Gewinn ist. Im Gewohnten das Neue zu entdecken, ist immer lebensspendend, sei es auf der Landkarte, in der Musik oder in der Küche. Gelegentlich was komplett Neues zu entdecken, hebt die Lebensgeister aber auf eine ganz andere Art.

Nach einigen Ausflügen unter der Regie meines wasser – und flussbegeisterten Vaters war ich ewig lang nicht mehr in Passau und habe vergessen, wie wunderschön die Altstadt ist. Die bunten, reich verzierten Barockfassaden strahlten an diesem sommerlichen Tag in den verwegensten Pastellfarben, die Giebelchen und verzierten Simse hoben sich filigran gegen den strahlend blauen Himmel ab. Vor den jahrhundertealten Häusern säumten Oleander und Oliven in Kübeln die ohnehin schmalen Gässchen und trugen zum mediterranen Lebensgefühl bei. Eine weitere Besonderheit in Passau: besonders schmale, zierliche Möbelchen für die wirklich schmalen Bürgersteige vor den Cafés. Alle waren ausgesucht hübsch und so unterschiedlich, dass man sich unwillkürlich fragt, ob die Inhaber das Gleiche gegoogelt haben wie Pariser Balkonbesitzer: XS – Terrassentisch? Nostalgischer Mini – Terrassentisch? Metalltischchen 50 cm? Woher auch immer: die Auswahl war inspirierend schön und liess einen überlegen, ob man nicht auch eine bisher für zu schmal befundene Ecke zuhause sinnvoll nutzen kann. Und, das muss man vielleicht nicht erwähnen, alle Tischchen waren besetzt. Dass sie winzig waren, hiess nicht, dass man nicht wunderbar seine Kaffeetasse oder gar das Mittagessen darauf abstellen konnte.

Das Beste aber, sogar besser als die lustigen Möbelchen, war es, echte, lebendige Menschen zu sehen, die unter der Sonne schlendern, lachen, essen, reden. Und ohne Maske! Was früher Alltag war, ist jetzt so ungewohnt und so ausgefallen, dass ich mehr als einmal zwinkerte, ob alles nur ein Traum sei. Und so sehr ich es genoss, auch Teil dieser Menge zu sein, die in Freiheit und entspannt draussen unterwegs war, legten sich immer wieder spassbremsende Bodennebel über meine Seele. Die Sonne mochte scheinen im Moment, aber alles war äusserst fragil. Wir hatten zu oft erlebt, dass von einem auf den anderen Tag alles wieder vorbei sein kann. Erst am Morgen war im Radio verkündet worden, dass in einem Landkreis wieder Kontaktbeschränkungen gelten, weil eine gewisse Inzidenz überschritten wurde. Diese Pandemie hat einen Knacks in mir hinterlassen, und ich habe keine Ahnung, wann mein Optimismus wiederkommt und ich ganz normale Situationen ohne dunkle Hintergedanken geniessen kann. Wobei für mich immer noch gilt, wie ganz am Anfang, dass ich keine Angst vor der Krankheit habe, sondern vor dem, was sich gesellschaftlich und politisch seither getan hat. Ich kannte es bisher einfach nicht, dass sich der Staat derartig aufplustern und in mein Privatleben eingreifen kann. Das beunruhigt mich persönlich und auch beruflich. Mehr als einmal habe ich gedacht, dass ich noch so ein Schuljahr nicht aushalte und mich beurlauben lasse, falls es noch lange so weitergeht. Ich war nie die Lehrerin, die die Wochen bis zu den Ferien zählt, doch diesen Sommer war ich heilfroh, als der Wahnsinn endlich ein Ende hatte. Das ist eine traurige Persönlichkeitsentwicklung, mit der ich bei mir nicht gerechnet habe. Vielleicht muss ich die Bremse reinhauen, bevor ich als Lehrer – Karikatur ende.

Doch zurück zu Passau. Es gab eine Menge an malerisch schönen Winkeln oder besonderen Situationen, die den leeren Tank an schönen Erlebnissen wunderbar aufgefüllt haben, für die nächsten drei Corona – Wellen oder zumindest für diese Wintermonate: die Oleander am Kopf der steilen Treppe von St. Paulus. Ein winziges schmales Häuschen hinter der Innpromenade. Ein Flohmarkt am Innufer, auf dem der Gatte beglückt zwei Bücher kaufte und ich ein weisses Emaille – Kännchen mit Ausgiesser und blauem Rand, mit Blick auf unseren guten alten schlammigen Inn. Ein sehr besonderes, hübsches Café in einem alten geduckten Haus, mit uraltem ausgetretenen dunklen Parkett und bunten Kacheln im breiten Flur, in dem wir uns ungemein wohl gefühlt haben: “Das Hornsteiner” am Steinweg. Später fanden wir heraus, dass in dem Haus ab 1719 ein Uhrmachermeister lebte und arbeitete und ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Geigenbauer aus der Mittenwalder Hornsteiner – Dynastie – beides grosse Interessensgebiete des Gatten. Kein Wunder, dass wir so gern in unserem schnuckeligen Fenstersitz sassen und gar nicht mehr gehen wollten. (Hier entstand mein einziges Kaffeehausbild der letzten achtzehn Monate. Wenn man bedenkt, dass meine Kamera manchmal so voll war von Cappuccinotassen – und Kuchenbildern, dass ich manche einfach gelöscht habe, ist das tatsächlich erwähnenswert.)

Nachdem wir stundenlang über die alten Pflastersteine gelaufen waren, bergauf und bergab, donauwärts oder innwärts und wieder zurück, hatten wir die Qual der Wahl, wo wir uns für die Rückfahrt stärken wollten. In der Grabengasse lockte ein Spätzle – Restaurant, in dem es ausschliesslich meine schwäbische Lieblingspasta gibt – extrem verführerisch, muss ich sagen. Doch das Rennen machte ein Burgerlokal am Ende der gleichen Gasse, einige bunte Häuser weiter hinten und mit Blick auf schon wieder ein bühnenbildreifes kleines Ensemble aus historischen Fassaden und altem Pflaster: “Ruff’s Burger” mit hausgemachter Limonade, etlichen vegetarischen und veganen Burgern und einem amerikanischen Krautsalat, der einfach zum Niederknien war. Auf dem Tisch stand ein Töpfchen Lavendel, der die Wespen etwas ablenkte, eine gewisse Abendruhe senkte sich über die schmale Gasse, und alle Gedanken an weitere Wellen oder Lockdowns wurden vom leckeren Freiluftessen weggefegt.

Auf der Heimfahrt in den rosanen Abendhimmel war ich glücklich: im Gegensatz zu meinem eigenen reagiert das Auto des Gatten, wenn man Gas gibt, und man fliegt nur so dahin. Der Geruch von frisch gemähtem Gras hing über den Feldern. Unser Urlaubstag in der alten Stadt war noch schöner und inspirierender gewesen als erwartet, und ich fühlte die Lust kommen, selber kreativ zu werden: das Gefühl der buckeligen Steine unter den Sandalen versetzte mich in die Vergangenheit, die verzierten Fassaden oder die für die Ewigkeit geschaffenen aufrechten Säulen der Kirchen und Altäre, die wir besichtigt hatten, liessen die Beethoven – Sonaten, die ich gerade übte, lebendig und innerlich hörbar werden. Man braucht Impulse von aussen, um wieder weiter zu schreiben und zu üben. Ich hatte es zu lange vermisst, einfach sinnlos was Schönes zu sehen.

Homeoffice

Voll aufregend: mein eigenes Arbeitszimmer

In der zweiten Online – Unterrichtswoche, als es richtig kalt war und die Winterlandschaft vor meinem Fenster in der Sonne glitzerte, habe ich aus dem Wohnzimmer einer alten schwedischen Villa unterrichtet: weisse und hellgrüne Einrichtung, rechts ein hoher weisser Kachelofen, in dem ein Feuer flackert, ein behagliches Sofa, Zimmerpflanzen am Fensterbrett. Mit diesem Hintergrundbild habe ich meine liebste Lockdown – Phantasie ausgelebt, die ungefähr zu Schulbeginn aufkam, als alles anfing, kompliziert zu werden. Irgendwann dachte ich: ich will nur noch weg hier. Ganz weit weg. Irgendwohin, wo ich meine Ruhe habe und trotzdem online unterrichten kann. Und da fing ich an, von Nord – Norwegen zu träumen. Sehr kurze Tage, viel Schnee zum Räumen, alle zehn Tage den weiten Weg zum Supermarkt fahren – perfekt.

Ich bin noch hier. Physisch. Aber in meinen Tagträumen war ich vorletzte Woche in Skandinavien. Habe vor und nach dem Unterricht je neunzig Minuten im Halbdunkel Schnee geschippt und bin mittags, wenn es einigermassen Tag wurde, auf dem See neben dem Haus Schlittschuh gefahren, bevor ich mit meinen Online – Schülern losgelegt habe. In echt habe ich einen feinen Nusskuchen gebacken, der bis in mein Arbeitszimmer hoch geduftet hat und meine Norwegen – Träume mit zartem Zimtduft untermalt hat. Meine weisse dicke Zopfmusterjacke getragen. Dabei stört es mich kein bisschen, dass ich noch nie in Skandinavien war.

Genau wie meine nächste Phantasiereise – nach einem Woody – Allen – Film war ein Umzug nach New York angesagt. Ein anderes Sehnsuchtsziel von mir, noch unerreichbarer als Norwegen wegen noch mehr Wasser dazwischen. Aber seit Jahr(zehnt)en lese ich Romane, die in New York spielen, mit meinem inzwischen abgegriffenen Falk – Plan neben mir und stelle mir vor, in welches Museum ich zuerst gehen würde. Habe ein vielleicht geschöntes Bild von Brooklyn durch zwei Blogs, die ich regelmässig lese. Schaue Filme, in denen zu Fuss durch Manhattan gelaufen wird. Bereite Lasagne zu mit dem Soundtrack eines Woody – Allen – Films, was für mich Jazz – Ignorantin als echte Fortbildung durchgeht. Ich merke mir Adressen von Buchläden oder dem wunderbaren kleinen Bleistiftladen in der Orchard Street und schaue nach, welche U – Bahn – Station die nächste ist. Da ich als Klavierlehrerin wegen der horrenden Mieten in Manhattan wahrscheinlich in Brooklyn wohnen würde, habe ich die Fährverbindungen über den East River schon mal abgecheckt (Atlantic Avenue zum Pier 11: 9 Minuten, 2.75$) Ich könnte ganz in Ruhe vormittags Bleistifte kaufen in der Orchard Street, ganz ohne U – Bahn, und wäre pünktlich zum Unterrichten zurück. Nach einer fair gehandelten veganen Hafermilch – Latte im nachhaltigen Becher und einem Rosinenbagel im Café, natürlich. Und nachdem ich eventuell Noten in einem echten Geschäft ausgesucht habe und sie nicht online bestellen musste – aber jetzt kommen wir schon zu den sehr privaten, sehr aufregenden Phantasien einer Musikerin in der Provinz. Letzte Woche habe ich mich zum Hintergrundbild – Umzug entschlossen: mein Wohnzimmer in Brooklyn hat die typischen zwei hohen Altbau – Fenster, hellblaue Wände, viele Bücherregale und ein schwarzes Klavier.

So albern diese Gedankenexperimente klingen, haben sie doch eine gewisse positive Wirkung auf die allgemeine Seelenlage. Es macht tatsächlich einen Unterschied, ob man sich mehrere Stunden am Tag vor einem hübschen ungewohnten Hintergrund sieht oder ob es das immer gleiche Zimmer ist. (Wobei mein Zimmer ja auch in Ordnung ist. Und ich bin sicher: es gibt jemand in Brooklyn im Homeoffice, der sich wünscht, irgendwo in einer kleinen Stadt ganz im Grünen zu leben. Mit einem sauberen Fluss, der nicht nach Motoröl riecht. Frischer Luft. Grossen alten Bäumen vor dem Fenster und einem flammenden Winter – Sonnenuntergang dahinter. Kindern, die auf dem Hügel neben dem Haus Schlittenfahren.) Anfangs war ich erstaunt, wie sehr sich die Phantasiereise in den ganzen Alltag hineinzieht, bis hin zu: was würde ich in Schweden anziehen? Was in New York? Was würde ich kochen? Mich fasziniert auch die Vorstellung, wie sich mein Leben, so, wie es jetzt ist, in einer anderen Stadt anfühlen würde. Nicht aus einer Unzufriedenheit heraus, nicht aus Nostalgie, was hätte sein können – wobei das unweigerlich ein bisschen mitschwingt bei solchen Ausflügen in eine gedankliche Zwischenebene – , nicht aus dem konkreten Plan heraus, nächstes Jahr um diese Zeit will ich dort oder dort leben, sondern ganz einfach: wie wäre es, wenn ich jetzt dort wäre? Heute, an diesem einen, einmaligen Tag? In genau diesem trüben Wetter, mit einem zinngrauen Himmel, vorzugsweise Nieselregen oder sogar leichtem Schneefall? Es ist eine Art zur – Seite – Denken. Keine Rückschau, kein Wunschtraum für die Zukunft, keine andere zeitliche Ebene – als Musiker reist man ohnehin genug durch die Zeit – , sondern einfach eine andere Realität, jetzt, in diesem Moment. Eine Art von Realität, die gleichzeitig völlig irreal ist. Ich liebe diese Idee.

Und es tut gut. Mein Lockdown, diese immens lange runtergedrückte Pausentaste, ist bunt und spannend. Monotonie ist bis jetzt noch nicht eingetreten, und ich kann einen Bekannten nicht verstehen, der sich kürzlich beklagt hat, wie fad alles ist. Ich bin in Brooklyn aufgewacht und habe die Möwen kreischen hören – das ist nicht unbedingt fad. Dieses Gedankenexperiment öffnet Fenster nach innen und bringt ganz viel frische Luft ins Alltagsleben. Alles ist plötzlich neu, spannend und anders, wenn man sich vorstellt, man würde das tägliche Einerlei an einem anderen Ort erleben. Und der Ortswechsel muss offensichtlich nicht mal geographisch sein. Ist das nicht praktisch? Ich brauch kein Sabbat – Jahr, ich erlebe das einfach während des Lockdowns von zuhause aus. Fühle mich aber erfrischt und angeregt, als wäre ich auf einem anderen Kontinent gewesen. Wasserburg kann ein Stadtteil von New York werden, wenn man nur fest genug daran glaubt.

Aber dazu muss man mit einem Fuss in einer Traumwelt stehen und sich die Fähigkeit bewahrt haben, über den schnöden Alltag hinauszusehen. Träumen können, Fernweh und Sehnsüchte haben, bedeutet ja nicht, dass man mit dem Hier und Jetzt unzufrieden ist. Aber es gibt immer eine Parallelwelt. Ein Parallel – Leben. Immer die Frage: wie würde ich leben, wenn manche Weichen anders gestellt worden wären oder ich bewusst den anderen Pfad eingeschlagen hätte? Ich bin gern in unserer kleinen gotischen Stadt hier. Aber es hält mich lebendig, mich in andere Orte hineinzuträumen, bis ins kleinste Detail. Nicht nach dem tragischen Motto aus Schubert’s “Wanderer”: “Dort, wo du nicht bist, da ist das Glück.” Sondern: dort, wo ich bin, ist das Glück. Und manchmal schaffe ich es, in Gedanken an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Wer keine Sehnsucht mehr hat, ist schon halb tot, oder? Und Sehnsucht oder die ganz konkrete Variante dieses Gefühls, Fernweh, können ein starker Motor sein, um noch bewusster im echten Leben zu stehen. Ich unterrichte diszipliniert über den Bildschirm, auch wenn ich jetzt schon am Rand einer Sehnenscheidenentzündung bin und das Gefühl habe, ich habe den Schratzen bisher hauptsächlich eine Emoji – Etikette (wie oft ist zu oft?) eingebläut. Trotz hehrer Ziele wie Notendiktat über die Distanz. Und ich arbeite nicht nur, um die Kinder bei der Stange zu halten, sondern auch, um Geld zu verdienen. Damit ich eventuell eines Tages doch noch nach Amerika komme. Denn, der geneigte Leser wird es schon bemerkt haben, die echten Sehnsuchtsziele sind für Nicht – Flieger mit einer komplizierten Anfahrt verbunden. Vielleicht, weil unerfüllte Sehnsucht die langlebigste und bittersüsseste ist. Ich träume auch von Paris. Oder Florenz. Aber nicht so heftig. Denn ich könnte in Rosenheim in einen Zug steigen und wäre dort. Da regt sich nicht so viel im Herzen, als wenn ich erst die Webseiten von Frachtschiffen, die einzelne Passagiere mitnehmen, studieren müsste. Eine gewisse Unerreichbarkeit, ein bisschen Herzziehen, gehört zur echten Sehnsucht dazu. Deshalb wird sie auch nie abgegriffen oder uninteressant.

Das war bei den Minnesängern so, das ist mit mir und New York so. Und wahrscheinlich will ich gar nicht, dass das Objekt meiner Begierde greifbar wird. Neben mir liegt der alte Falk – Plan. Auf dem Cover ist das World Trade Center, der Preis steht noch in D – Mark drauf. Ich hatte wahrlich genug Zeit, den Wunschtraum Wirklichkeit werden zu lassen. Aber von was würde ich dann träumen? Was wäre meine Utopie, mein Ort, an dem es alles besser und unterhaltsamer wäre? Was wäre meine Motivation, zu arbeiten und Geld auf einem extra Reisekonto zu sparen? Denn wenn ich mal dort gewesen wäre, bräuchte ich ein anderes Traumziel für den Eskapismus und als Antrieb, auch die weniger aufregenden Stunden im Unterrichtsalltag zu überstehen. Jeder hat diese Erfahrung gemacht, oder?

Es gab eine Zeit, in der mich fast ein Jahr lang auf dem gleichen Kontinent befand wie das jetzige Ziel meiner Tagträume. Als ich in der Nähe von Atlanta studierte, sind meine japanische Mitbewohnerin und ich zum (winzigen!) Bahnhof von Atlanta gefahren. Nach dem Bürgerkrieg war er gigantisch und eindrucksvoll. Heute steht da ein kleiner roter Backstein – Pavillon. Wir mussten wirklich zwei Mal hinschauen und konnten es nicht fassen: die Millionenstadt mit einem der grössten Flughäfen der Welt hat einen Bahnhof, der sowohl in Japan als auch Europa eher als Fahrradkeller durchgehen würde. Und in dem ungefähr zwei Fernzüge pro Tag verkehren. Nachdem wir uns genug amüsiert hatten, widmeten wir uns der Frage: New York oder New Orleans. Hätten wir uns damals für New York entschieden, würde ich jetzt den Falk – Plan von New Orleans anschmachten, da bin ich mir sicher. Aber – ich besitze nicht mal einen. Dafür viele schöne Erinnerungen an eine andere alte Stadt am Wasser, voll von alter Bausubstanz und stimmungsvollen Friedhöfen. An Silvester hielten wir uns wie Kindergartenkinder an der Hand, weil wir Angst hatten, uns in dem tumultartigen Trubel im French Quarter zu verlieren. An Neujahr frühstückten wir im “Café du Monde” mit den butterigesten Brioches und dem herrlichsten Kaffee meines Lebens. Dann fuhren wir mit der Fähre über den Mississippi, nur um wieder zurück zu fahren (ich fürchte mal, das war meine Idee. Ich mag sinnlose Fährfahrten. Und Fähren oder das auf – der – Fähre – Sein sind fast eine Metapher für diesen seltsamen Schwebezustand, den ich gedanklich grade auskoste: nicht völlig hier, noch nicht ganz dort, aber sehr zufrieden im Zwischenraum). Und bei allem sagten wir uns: wir fahren an Ostern nach New York.

Wir waren beide noch nie in New York. Sie ist wieder zurück in Japan und unterrichtet Englisch, ich sitze hier und kultiviere meine Flugangst. Damals hatten wir Zeit, aber kein Geld. Jetzt ist es umgekehrt – aber auf seine Art auch in Ordnung. Das New Orleans – Kapitel ist mit der Reise abgeschlossen. Ich käme nicht auf die Idee, mir vorzustellen, dort Klavierlehrerin zu sein. Aber ich habe Ideen und Inspiration für meine aktuellen Tagträume von dort mitgenommen. Das Tuckern der Fähren, der Dieselgestank und die flatternden Möwen können am East River auch nicht so anders als am Mississippi sein. Ich habe Stoff für Träume. Und solange es die gibt, ist das Leben reicher. Und bietet beste Unterhaltung, selbst wenn das Homeoffice noch wochenlang weitergehen sollte.