Einigeln

Jetzt dehnen sich die Tage wunderbar am Anfang und Ende in die Nacht hinein, und ich bin dankbar dafür. Dankbar für die Dunkelheit vor den Fenstern, die alles magisch und geheimnisvoller macht, aber natürlich auch dankbar dafür, dass ich diesen jahreszeitlichen Wechsel aus einem geheizten, beleuchtbaren Haus heraus beobachten und geniessen kann. Wobei ich besonders morgens nie das Maximum an Beleuchtbarkeit anwerfe, sondern langsam, allmählich sanftes Licht andrehe. In der Küche nur das kleine Lämpchen im Fenster, während ich den Wasserkocher anschalte. Damit ich die kleinen Geisterchen vor dem Fenster nicht zu sehr erschrecke: manchmal ein Reh, immer der schwarze Kater der Nachbarn mit seinen Vampirzähnchen. Während der Tee zieht, zünde ich eine Kerze am Schreibtisch an. Für mich passiert das beste Schreiben im Winter vor der Morgendämmerung. Sie ist ein natürliches Signal, dass ich langsam zum Ende kommen muss, und ein erstaunlich guter Ansporn. Wobei ich nichts gegen die allmähliche Verlängerung dieses Weckrufs habe, wenn die Tage jetzt – endlich! – noch kürzer werden.

Unser Übergang vom ungewöhnlich warmen, leuchtenden goldenen Oktober in die willkommene längere Dunkelheit war dieses Jahr besonders markant und unvergesslich, weil wir noch mal Richtung Süden fahren mussten. Unmerklich ist es passiert, dass ich mein Herz an Udine verloren haben. Und es auch bei diesem Besuch nicht wiederbekommen habe, im Gegenteil. Der Halloween-Abend auf der Piazza Matteotti wird noch lange in meinem Gedächtnis bleiben. Die sich langsam herabsenkende blaue Dämmerung, vor der die beleuchteten Häuser noch malerischer wirkten. San Giacomo, das übereifrig und mit sichtbar aus dem Turm tanzenden Glocken 17 Uhr schlug. Kleine Gruppen von schwarz gekleideten Kinderchen mit spitzen Hüten, die friedlich um uns und über die Piazza herumscharwenzelten. Unglaublich viel Leben und Licht in der Dunkelheit, und so mildes Wetter, dass wir problemlos mit unserem Aperitivo draussen sitzen konnten. Aber in dem Wissen, dass dies nun wirklich der Abgesang des Sommers ist. Was mich nur mit Vorfreude auf die gemütlichere Jahreszeit erfüllt.

Genau wie der Besuch im windumtosten Schloss von Duino. Der Herbststurm rüttelte arg an den alten Fensterläden. Rilkes “uraltes Wehn vom Meer” war einem orkanartigen Sturm gewichen, der den Nahverkehr im Friaul lahmlegte und zu Schulschliessungen führte. Ausgerechnet hier oben, hoch auf der Klippe und ganz an ihrer Spitze, mit wilden Brechern unten am Meer und pfeifendem Wind oben, fühlte ich mich geborgen und sicher. Einmal, weil das Schloss in seiner langen Geschichte sicher etliche Herbststürme überstanden hat. Und dann, weil die Ausstellungsräume so nett mit Dutzenden von Tischlampen beleuchtet waren. Es gibt etliche Zimmer mit Originalmöbeln, und glücklicherweise wurde auf grelles Licht verzichtet. Stattdessen sind die ebenfalls originalen kleinen Tischlampen in Gebrauch. Fast jede Ecke wirkt wie ein Stilleben. Überall möchte man sich auf die Samtsofas setzen, die Beine unter sich ziehen und warten, ob sich jemand an den alten Flügel setzt. Oder ein Buch aus der grandiosen Bibliothek holen und den Rest des Tages neben einer Leselampe verbringen. Es war genial, im Süden so ein winterlich gemütliches Schloss zu finden. Die Sorgfalt der Einrichtung hat mich inspiriert, bei uns zu Hause auch solche einladenden, kleinen Winkel zu kreieren und die Deckenlampen weitgehend aus zu lassen. Statt über die Dunkelheit zu lamentieren, ist es einfacher, sie mit offenen Armen willkommen zu heissen und ihr alle guten Seiten abzugewinnen.

Und November ist erst der Auftakt! Jetzt dürfen wir uns auf die ganzen gemütlichen langen Abende freuen! Ich hatte mir dieses Jahr schon für November im Kalender notiert, mit meinen Weihnachtskarten nach Amerika und Japan zu beginnen, weil ich regelmässig die Zeit dafür unterschätze. Und ich spüre auch schon die Lust darauf, die Schachtel mit den schönen Karten hervorzukramen, ergänzt, wie jedes Jahr, durch neue Unicef-Karten, und langsam, Stück für Stück, abends an unserem Esstisch eine zu schreiben, wenn das Tagwerk vollbracht ist. Mit leiser Musik im Hintergrund – spätestens jetzt darf man endlich mit Weihnachts – CDs anfangen, oder? – und einem Becher Tee neben mir. So kann ich jedem die Aufmerksamkeit zukommen lassen, die er oder sie verdient und habe doch im Lauf der Tage einen schönen Stapel Weihnachtsbriefe fertig.

Buss- und Bettag ist für mich das Startsignal zum Früchtekuchenbacken. Die Kinderchen haben ja schulfrei, wir Lehrer haben den sogenannten “pädagogischen Nachmittag”. Je nachdem, wie ausufernd der ausfällt, schaffe ich es vielleicht direkt an diesem Tag, mit den gehaltvollen englischen Gebilden anzufangen. Meistens wird es doch das Wochenende danach, aber auch das reicht noch von der Zeit her, um alles schön einige Wochen lang mit Hochprozentigem zu tränken. Besonders gut sind die Novemberabende, wenn ich nach einer Weihnachtskarte noch Trockenfrüchte kleinschnippele und mit Rum übergiesse. Bei der gleichen Kerze und der gleichen Weihnachts-CD. Das ist die Art von langsamen, ruhigen Abenden, an denen ich meine Batterien aufladen kann und glücklich ins Bett sinke.

Die nächste wichtige Angelegenheit hängt vom Termin der Praxis-Weihnachtsfeier ab. Ist sie früh im Advent, muss ich schon bald anfangen mit meinen Lebkuchenherzen mit Initialen, denn sie sind seit Jahren die Tischkarten fürs Personal. Meine Schüler – Adventsfeier, für die ich Dutzende von Herzen brauche, ist immer erst in der Woche vor Weihnachten. Aber der Aufwand und die Kleckserei ist beträchtlich, deshalb wird in einem Schwung gebacken. Dann sind aber auch Küche und Esstisch völlig belegt mit Herzen, die schön beschriftet werden wollen. Auch an diesen Tagen gehe ich glücklich ins Bett, umweht von Zimt- und Nelkenduft, der durchs ganze Haus schleicht.

Falls ich dank glücklicher Termine etwas später mit den Herzen anfangen kann, kommt als nächstes das Adventskranzbinden. Und, wenn man schon dabei ist, wird auch gleich der Türkranz produziert. Harzige, zerstochene Finger und duftendes Wintergrün erinnern mich den Rest des Tages an unsere Bastelaktion und machen mich zufriedener, als wenn ich dieses wichtige Symbol von Wiederkehr und Ewigkeit im Laden gekauft hätte. Denn, so gerne ich die Dunkelheit auch habe, der Kranz und seine Kerzen erinnern uns daran, dass das Licht wiederkehren wird. Ich würde gern auf diesen Schlusssatz verzichten und frage mich, wann endlich ein Jahr kommen wird, in dem es möglich sein wird, aber: nach der Pandemie, nach dem Beginn des Ukrainekriegs und jetzt im auflodernden Nahost-Konflikt braucht man Zeichen der Hoffnung, und seien es nur ein paar Kerzen auf Tannengrün. Dieses Jahr soll der Kranz ein bewusstes Friedenslicht sein. Irgendwann, hoffentlich bald, nur wieder ein altes und geliebtes Symbol, dass alles wieder aufwärts geht und heller werden wird. Dass wir auf die Hoffnung in unseren Herzen zählen dürfen.

P.S: Schon wieder ein Artikel, den ich gleichzeitig unter “Italien” und “Zuhause” ablege. Mein Leben ist gut.

Udine

Den meisten Menschen, denen ich von unserem Urlaub erzählt haben, fällt zum Stichwort Udine nur ein: “Da bin ich mal vorbeigefahren.” Was für ein Verlust! Da wird es doch höchste Zeit, die Autobahn Richtung Süden zu verlassen und nicht die proppenvollen, seichten Strände anzusteuern, an denen Armeen von Sonnenschirmen ordentlich ausgezirkelt schon auf deutsche Urlauber warten. Fünfzig Kilometer vor der Adria fällt Udine tatsächlich der Sehnsucht nach Wasser und Planschen zum Opfer. Wenn man selbst im August möglichst wenigen deutschen Miturlaubern und allen ihren Nachwirkungen begegnen will, ist Udine allerdings erste Wahl. Keine deutschen Speisekarten oder deutsche Zeitungen. Keine deutschen Gesprächsfetzen, die einem ungebeten um die Ohren wehen. Man spricht italienisch! Und ein schönes, gut verständliches Italienisch!

Wir wollten der üblichen Blechlawine nach Süden schon bei der Anfahrt entgehen und beschlossen, wie 1930 beschaulich auf Landstrassen über die Alpen zu fahren. Von Wasserburg aus ist das denkbar einfach: wir fuhren quasi entlang des Breitengrades direkt nach Süden, über Kitzbühel, Mittersill, die autobahnähnliche, völlig leere Felbertauernstrasse und dann den steilen Plöckenpass. Die atemberaubend schöne Alpenkulisse strahlte in den schönsten Sommerfarben, saftig grün, blau, noch mehr Blau am Himmel. Hier war wirklich der Weg schon das Ziel. Wir überquerten auf alten Römerpfaden (aber elefantenlos) die Alpen an einer wirklich schmalen Stelle und brauchten von Zuhause bis Udine etwas mehr als fünf Stunden.

Udine, 100 000 Einwohner und Universitäts – Stadt, ist sehr lebendig und spannend. Trotz der Grösse kann man alles wunderbar zu Fuss gehen. Jede Nacht beim Rückweg ins Hotel kamen wir über eine grosse Grünanlage, in der neben einem beleuchteten Foodtruck Dutzende von fröhlich plaudernden Menschen mit ihren Cocktails sassen, ein Mal sogar mit Live – Musik. Alles sah so friedlich und sommerlich aus, die funkelnden Lichterketten vor dem dunkelblauen Himmel, die entspannten Menschen. Das ist nur ein kleines und wahrscheinlich nur temporäres Detail von Udine, aber es hat sich mir eingebrannt. Wie die Schlusseinstellung von einem gelungenen Film. Wenn wir die steilen Stufen zu Santa Maria delle Grazie erklommen hatten, drehte ich mich jeden Abend um und sah den kleinen beleuchteten Verkaufsstand im Park und dahinter die Silhouette des Burgbergs und der Stadt, und jedes Mal dachte ich: was für ein schöner Tag das war.

Wir hatten eine Reihe von schönen Tagen, weil Udine einfach endlos malerisch ist. Die lange venezianische Vorherrschaft sieht man deutlich am Uhrenturm mit den beiden Mohren hoch oben neben der Glocke oder dem Wunderwerk der luftigen Loggia mit den zuckerbäckerartigen feinen gotischen Arkaden, die wie der Dogenpalast in klein aussieht – ausser, dass sie nach drei Seiten offen ist und ein herrliches schattiges Plätzchen zum Verweilen bietet. Der alte karierte Marmorboden glänzt und schimmert wie eine Wasserfläche, weil er seit Jahrhunderten von müden, schattensuchenden Füssen glattgeschliffen wurde. Der Blick von der erhöhten Loggia über die Piazza della Libertà und hinauf zum Castello ist vom Feinsten – prachtvoll und harmonisch, aber schon fast zu prunkvoll. Deshalb sassen wir jeden Abend an der anderen malerischen Piazza, der Piazza Matteotti, die ebenfalls ganz zentral, aber irgendwie irdischer ist: eine normal hohe Kirche bildet den Abschluss, rundherum sind ebenfalls nicht zu hohe, schmale Häuser in Pastellfarben. Manche von gotischen Bögen umrahmte Balkönchen erinnern wieder an die Nähe zu Venedig.

Was spricht noch für Udine? Es gibt im Zentrum fünf grosse und sehr gut sortierte Buchhandlungen. Ich fange gerade zaghaft an, auf italienisch zu lesen, und die Auswahl war natürlich traumhaft für mich. Auffallend war die Abwesenheit der üblichen grossen Kleiderketten – hier findet man tatsächlich noch alteingesessene, inhabergeführte Läden. Wir spähten nur von aussen durch die schönen alten Holzfassaden, durch Schaufenster ebenfalls wie 1930: in einem Geschäft gab es richtig schöne Regenschirme und Hüte. Im anderen stapelten sich Herrenschuhe säuberlich aufgestapelt in alten raumhohen Regalen. Dort gab es Handtaschen zum Schwachwerden, ebenfalls altmodisch und wie früher präsentiert, aber chic und in allen Farben des Regenbogens. Daran, dass mir diese feinen Geschäfte so auffielen, merkte ich, dass dieses Konzept hier am Aussterben ist. Selbst in Wasserburg. Sind die Italiener noch traditionsbewusster und stolzer auf ihre individuellen Läden, verzichten sie eher auf den Onlinehandel? In Udine wuselte es derartig von glücklichen Menschen mit Einkaufstaschen, dass man hoffen kann für diese Art von menschenwürdigen Einzelhandel.

Weswegen wir ganz sicher wieder kommen werden, ist das hübsche kleine Hotel “Residenza Al Teatro”. Nicht nur, weil die Inhaber sehr herzlich und aufmerksam sind und es das wahrscheinlich schönste Frühstücksbüffet gab, das ich je gesehen habe – sondern wegen der dunkelblauen Zimmer. Alle Wände und selbst die Decke sind in einem dunklen Petrolblau gestrichen. Ich fand es wunderbar entspannend, doch der Inhaber sagte, dass sie es nach ein paar Jahren in dieser Farbe bald ändern werden, da sich zu viele Damen beschwert haben, dass man sich in diesem Dämmerlicht nicht richtig schminken kann. Er zeigte uns auch voller Enthusiasmus einen Raum, in dem sie die nächste Farbe schon ausprobiert haben, ein ebenfalls wunderschönes salbeifarbenes Seegrün. Darauf kann man sich sicher auch freuen, aber ich hoffe, dass ich irgendwann noch mal die elegant-blauen Zimmer erleben kann.