Nach Süden?

Was ist das nur mit dieser unstillbaren Italiensehnsucht? Und warum hört sie nie auf? Wir sind gerade mal eine Woche wieder zuhause, haben gerade so die Pasta- und Dosentomatenvorräte verstaut und die Urlaubswäsche gewaschen, da überlege ich schon wieder, wann ich noch mal über die Alpen fahren soll. Ich hätte noch zwei Wochen frei, völlig frei. Und mein Herz möchte jenseits der Berge sein. Ist es nicht verrückt? Grade hatten wir wunderschöne Sommertage, in denen wir mit allen Sinnen das grünere Gras, den blaueren Himmel, die aromatischeren Tomaten genossen haben, und ich kriege den Hals nicht voll. Weil ich eben noch freie Zeit hätte und der Weg so verführerisch kurz erscheint. Dazu kommt eine gewisse innere Unruhe – grade noch habe ich die wunderbar reifen Aprikosen, die ich aus Udine mitgebracht habe, zu Marmelade eingekocht, um für die lichtärmeren Monate gerüstet zu sein. Aber sollte man nicht auch Erinnerungen, Farben und Düfte einmachen für die ungemütlichere Jahreszeit? Und zusehen, dass man seine Speicher dafür so gut wie möglich füllt, solange es möglich ist? Jetzt wäre es noch ideal. Nächste Woche auch noch. Bei uns werden die Schatten im Garten schon spürbar länger, und wenn ich morgens um kurz vor sechs aufstehe, ist es noch so dämmrig, dass ich fast Licht brauche. Ich hätte so gern noch mal das intensive Sommergefühl, das man jenseits der Alpen hat. Und wer weiss, wenn ich völlig verrückt bin, verschwinde ich noch mal für vier Tage in den Süden.

Doch eigentlich bin ich zu vernünftig dafür. Nur weil etwas machbar ist, muss es ja nicht durchgezogen werden. Meine CO2-Bilanz dieses Jahr ist vorbildlich – ich war vier Tage in Norditalien, zu zweit mit dem eigenen Auto (in Wien waren wir mit dem Zug). Da wäre doch noch eine kleine Reise drin, sagt das kleine Teufelchen auf meiner Schulter. Dieses schreckliche Reiseteufelchen. Was ich stattdessen bräuchte, wäre ein nettes kleines Zufriedenheits – Engelchen, das mir einflüstert, wie ich mich in Wasserburg wie in Italien fühlen kann. In so einer schönen alten Stadt dürfte es doch nicht zu schwer sein, könnte man meinen? Wir haben genau so bunte und intensive Häuserfarben wie die besten italienischen Städte. Arkaden, die malerische gewölbte Schatten aufs Pflaster werfen und genug Oleandertöpfe in den Gassen der Altstadt. Und hier, bei uns in der Vorstadt: ich freue mich jedes Mal, wenn das starke Aroma des Kaffees, den ich mit der Espressokanne zubereite, durchs Haus steigt. Tomaten und Pfirsiche schmecken im Moment glücklicherweise genau so wunderbar wie jenseits der Alpen, und wir ernähren uns leicht und spätsommerlich lecker wie in Italien. Natürlich wird die Aperitivo – Kultur auch hier gepflegt, bis hin zu den gesalzenen Chips, die wir uns in der Grosspackung mitgebracht haben. Ich lege mich bewusst jeden Tag eine Stunde auf die Gartenliege, um zu lesen. Und doch… Etwas fehlt. Richtig alte, nicht unbedingt perfekt gepflegte Gemäuer. Das gewisse laissez-faire, das einem das Leben im Süden leichter erscheinen lässt. Und, definitiv, die Ausstrahlung der Mitmenschen. Kaum ist man zurück, spürt man die wohlbekannte Zurückhaltung und Engstirnigkeit. Ich verzichte auf die Negativbeispiele von hier, bringe aber ein positives aus einer kleinen Stadt, die wir besichtigen wollten. Wegen Markttag war die Innenstadt gesperrt und wir sahen schon beim Rumkurven auf der Suche nach einem Parkplatz einen Parkwächter, trotz Hitze in offizieller Uniform. Als ich zum Parkscheinautomat ging, nachdem wir einen netten Parkplatz gefunden hatten, kam der Wärter auf mich zu. Ich wollte schon genervt – deutsch reagieren, aber er fragte sehr nett, ob er helfen könne, er habe die ausländische Autonummer gesehen – wir lang wollten wir denn bleiben? Zum Stadtbummel oder auch essen? Er drückte für mich auf dem neumodischen Touchscreen rum (spätestens jetzt hätte ich ohnehin Unterstützung gebraucht), ich hatte genau passende Münzen, er überreichte mir den Parkschein und wünschte uns einen schönen Tag. Ich war platt. Das würde man in unserer Heimatstadt leider nicht erleben, zumindest was die Verkehrsüberwachung betrifft.

Wir werden auch nie die echte, von Herzen kommende Grosszügigkeit unserer Hotelinhaber in Udine vergessen. Zum ersten Mal im Leben fand ich bei meiner Ankunft Blumen im Hotelzimmer vor. Nicht opulente Bouquets wie die Leute im Film, aber doch eine aufwendig gebundene einzelne Rose auf dem Nachttisch für die Dame. Das ist mir noch nie passiert. Roberta und Antonio kümmerten sich mit Leib und Seele um unser Wohlergehen und sorgten auch für einen schönen Übernachtungsplatz für mein Auto. Als ich sie auf das sagenhafte Frühstück ansprach, meinten sie: “Wir sind nur eine Familie, die Frühstück macht.” Zum Abschied überreichten sie uns Pralinen zum Nachhause – Nehmen und eine Magnumflasche Prosecco mit der Bitte, ein Bild von uns damit in unserer Heimat zu machen und ihnen zu schicken. Sie haben schon eine ganze Sammlung von Fotos ihrer Gäste mit dem gigantischen Prosecco (wir mussten sie ansehen, natürlich, und sie schienen sich an jeden zu erinnern). Deshalb luden der Gatte und ich am Tag nach unserer Heimkehr die schwere Flasche noch mal ins Auto und fuhren hoch zur “Schönen Aussicht” in Wasserburg, einer Stelle, von der aus man die ganze Innschleife und die Stadt überblicken kann. Ich war jetzt zum zweiten Mal hier, der Gatte zum ersten Mal im Leben. Wie das halt so ist, wenn man dort wohnt. Wir hatten bis zum Abend gewartet, um schönes Licht von Westen zu haben. Oben fanden wir einen jungen Typ, der uns ablichtete, ohne zu fragen, warum wir eine Megaflasche Prosecco mit uns rumschleppen. Wir sehen beide glücklich aus auf dem Bild, noch in leichter Kleidung und erfüllt von südlicher Sonne und südlicher Freundlichkeit. Wir sehen eigentlich noch wie im Urlaub aus. Der Fluss glitzert hinter uns im weichen Abendlicht wie ein goldenes Band, die Türme und Zinnen unserer hübschen alten Stadt können sich auch sehen lassen. Wüsste man nicht, dass wir schon wieder zuhause sind, könnte man es für ein Urlaubsfoto halten.

Muss man noch mal nach Süden fahren, wenn sich die optischen Grenzen zwischen Heimat und Urlaubsland verwischen?

(“Nach Süden” ist ein Lied von Fanny Hensel auf einen Text ihres Mannes, des Malers Wilhelm Hensel. Beide waren überzeugte Italienfans und litten an der gleichen unstillbaren Sehnsucht wie ich.)