Mache dich auf, werde Licht!

Zufällig erreichte mich im Herbst die Anfrage nach einem Hauskonzert, als ich mich in einer ausgesprochenen Mendelssohn – Phase befand. Ich hörte “Paulus” im Dauerlauf, weil ich von diesem Werk nie genug kriegen kann. Mein Stück über Fanny hatte ich grade fertig geschrieben, die Biographie von Francoise Tillard eingehend studiert und die von Peter Härtling begonnen und natürlich für mich die Klavierstücke von Fanny geübt, die ich meinen Schülerinnen geben wollte. Mendelssohn, wohin ich in meinem privaten Umfeld blickte – und dann kam dieser Anruf, und der Herr wünschte sich Mendelssohn. Genauer: die “Variations sérieuses”, ein wirklich selten gespieltes Werk, nach dem ich noch nie gefragt worden bin. Irgendeine wohlgesinnte Muse wollte wohl, dass ich mich noch tiefer in die Materie begebe. Wir machten aus, dass ich noch ein paar “Lieder ohne Worte” der beiden Geschwister spiele, und eine Beethoven – Sonate, um das ganze abzurunden. Mein Leben ist schön!

Aber arbeitsam. Ich musste mich vormittags in quasi klösterliche Klausur begeben, um dieses Pensum zu schaffen und auch körperlich fit zu werden für die etwas virtuosen Variationen. Immer unter Berücksichtigung meines fortgeschrittenen Alters… Leider kann man so was nicht mehr so unbeschwert oder unaufgewärmt runterfetzen wie zu Studienzeiten. Und der Muskelkater nimmt ganz andere Dimensionen und Hartnäckigkeiten an. Doch mit einem vernünftigen Übeprogramm und nötigerweise viel Disziplin habe ich mich über den Winter fit gemacht. Bis ich nach gefühlten hundert Stunden selber dachte: jetzt darf ich mich mal an die längere Leine lassen und Inspiration an anderen Orten suchen. Das Üben und Nachdenken abseits vom Klavier ist ab einem gewissen Stadium effektiver als noch eine halbe Stunde rhythmisierte Arpeggien. Genau wie das beste Schreiben oft nicht am Schreibtisch, sondern auf Spaziergängen stattfindet.

Ich erhoffte mir neue Einblicke und fächerübergreifende Inspiration von der Turner – Ausstellung im Lenbachhaus. Auf der Fahrt nach München hörte ich auch wieder “Paulus” – “Mache dich auf, werde Licht!” bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man auf dem Weg zu diesen aussergewöhnlich leuchtenden und strahlenden Bildern ist. Mein düsteres Gondellied, die noch dunkleren und stürmischeren Variationen könnten ebenfalls eine Entsprechung in den gischtschäumenden unheilvollen Seebildern des Engländers haben. Die Ausstellung ist herzzerreissend schön, doch seltsamerweise habe ich für meinen Mendelssohn kaum Verbindungen gefunden. Nur weil man aus unserer Warte denkt, dass zwei Künstler ungefähre Zeitgenossen waren, heisst das nicht, dass sie wirklich viel miteinander zu tun haben. Und ich habe zum wiederholten Mal feststellen können, dass es verblüffend schwer ist, den Begriff, den Beginn der Romantik zu definieren. Er war viel früher, als ich immer dachte, und der Übergang ist ungefähr so unklar und schwer zu erkennen wie die berüchtigten Zwischenzustände von Elementen in Turners Gemälden: wo hört das Wasser auf? Wo beginnt die Luft? Sollten zwei weitgereiste Künstler, die 1841 Werke geschaffen haben, sich nicht ähnlicher sein?

Ich hatte übersehen, dass der 1775 geborene Turner wirklich eine Generation älter ist als Felix Mendelssohn. Und vom Geiste her nicht weiter entfernt sein könnte von ihm. Turner war revolutionär, wo Mendelssohn versöhnlich und bewahrend ist. Mendelssohn möchte Harmonie und Wohlgefallen, Turner ist es egal, was die Menschen über ihn denken. Die letzten Gemälde sind derartig radikal, dass ich nur noch sprachlos war. Der “Sonnenaufgang vom Rigi” mit seinen kaum angedeuteten, minimalistischen Farbtupfern könnte vorgestern entstanden sein und wäre immer noch modern. Diese fast leere Leinwand hat mich direkt erschüttert, weil sie so viel in mir bewegt und angeregt hat. Das ganze Bild ist in mir entstanden – und dieses Kopfkino ist doch immer das Beste, auch in der Literatur. Die Kunst der Auslassung erlaubt einem, eine viel persönlichere Beziehung zu einem Thema aufzubauen. Man denke nur an Liebesszenen im Film, vor denen die Kamera wegschwenkt – was einen im Moment frustriert und ärgert, bietet im Nachhinein ein viel grösseres Potential, als wenn einem jemand vorschreiben würde, was man sehen soll. Und während ich vor diesen wilden, harschen Bildern stand, auf denen man gar nichts erkennt, wenn man zu nahe dran ist, merkte ich: das hat nichts mit Mendelssohn zu tun. Aber ganz viel mit Beethoven. (Was mal wieder beweist, dass Beethoven den Übergang zur Romantik längst geschafft hat.) Diese kompromisslos wenigen Informationen, dieses undiplomatische Alleinlassen des Betrachters oder Zuhörers – das ist auch Beethovens Masche in den letzten Quartetten oder den Cellosonaten op.102. Sie sind selbst für die Ausführenden kaum verständlich in ihrer Reduziertheit und man braucht den Schritt zurück, den räumlichen Abstand wie bei Turners Gemälden. Und auf einmal blüht vor dem inneren Auge und Ohr etwas auf, von dem man nicht weiss, wie es in einen hineinkommen konnte. Und dann hat man diese Werke für immer in sich, weil es für jeden Menschen nur diese eine Art der Interpretation gibt. Die man auch niemand mitteilen kann. (Jetzt klinge ich so rätselhaft wie die letzten fragmentarischen Bilder…)

Bild: wikiart.org

Am Klavier mit Jane Austen

Die meisten von uns kennen Jane Austen als Schriftstellerin geistreicher und unterhaltsamer Romane, die seit 200 Jahren nichts an Aktualität verloren haben. Was uns wirklich umtreibt, ist doch immer noch, wie und mit wem man im Leben häusliches Glück findet. Es mag wenig intellektuell erscheinen, die Suche nach dem richtigen Partner in den Mittelpunkt seiner Romane zu stellen, doch Jane Austen tut dies mit so viel Witz und Esprit, dass ihre Werke allen Vorwürfen zum Trotz zur Weltliteratur gezählt werden können.

Doch das Schreiben war nicht Jane Austens einzige Passion: ebenso konsequent und gerne spielte sie Klavier. Es gibt eine wunderbare Erinnerung ihrer Nichte Caroline, die berichtet, dass Tante Jane ihren Tag mit Musik begann. Der schlichte Satz enthält für mich so viel Schönes. „Ihren Tag“ klingt nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Verbunden mit dem wunderbaren Gefühl, dass alles jeden Morgen neu beginnt und man wieder alle Chancen hat, diesen Tag zu einem besonderen zu machen. Die Energie der frühen, stillen Morgenstunden ist heller und stärker, als wenn der Kopf schon den verschiedenen vielfältigen Anforderungen, die an uns gestellt werden, ausgesetzt war. Der Fokus ist klarer, das Erleben bewusster. Genau diese kostbare Zeit widmete sie dem Instrument und nicht ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Schreiben.

Die morgendliche Übestunde wird auch ganz prosaische Gründe gehabt haben, wie ihre Nichte bemerkt: “I suppose, that she might not trouble [the rest of her family], she chose her practising time before breakfast—when she could have the room to herself—She practiced every morning—She played very pretty tunes, I thought.”[1] Jane Austen hatte kein eigenes Zimmer für ihre kreativen Betätigungen. Schreiben oder Klavierspielen fanden im Wohnzimmer der Familie statt, in Zeitnischen oder tatsächlichen unbeobachteten Ecken des Raumes. Angeblich hatte sie ihren kleinen Schreibtisch – Durchmesser 47 Zentimeter[2] – derartig in einer Nische postiert, dass sie durch eine quietschende Tür rechtzeitig gewarnt wurde, wenn jemand das Zimmer betrat, und ihr Manuskript unter angefangenen Briefen versteckte. Und trotzdem übte sie täglich. Und schrieb sechs Romane, die uns heute noch begeistern.

Als Klavierspielerin registriert man mit Wohlgefallen, wie viele der Austenschen Romanheldinnen die gleiche Leidenschaft teilen: Georgiana Darcy, die Schwester des berühmten Mr. Darcy aus „Pride and Prejudice“, spielt wunderschön und aus Liebe zur Musik. Mary Benett, die nervige kleine Schwester von Lizzy, spielt nicht gerade schön, aber ausdauernd und nutzt, sehr zum Leidwesen ihres Vaters, jede Gelegenheit, sich auf Abendgesellschaften zu produzieren. Marianne Dashwood, die romantische und überschwängliche jüngere Schwester in „Sense and Sensibility“, braucht das Klavier, um ihre verwirrten Gefühle zu ordnen und fällt dabei auch ihrem Verehrer Colonel Brandon auf. Jane Fairfax in „Emma“ ist möglicherweise die beste Pianistin, die Austen beschreibt. Wie Marianne Dashwood und Georgiana Darcy bekommt auch sie ein nagelneues Broadwood-Klavier von einem Verehrer geschenkt (Jane Austen selbst besass ein Tafelklavier von Stodart[3]) – doch diesmal ist er anonym, was natürlich den Dorfklatsch befeuert. Die Abendunterhaltung ist auf Tage gerettet! Und, man höre und staune, er hat sogar Noten zum Klavier dazugelegt! Gedruckte Noten, die damals sehr wertvoll waren. Jane Austen wählt hierfür die Etüden von Johann Baptist Cramer aus – „something quite new to me“.

Cramer ist leider der einzige Komponist, den sie namentlich in ihren Romanen erwähnt. Doch wir wissen ganz genau, was sie selbst gerne gespielt hat, allein am Morgen und auch abends, um ihre Familie zu unterhalten. Aus ihrem Besitz sind drei Notenalben erhalten, in die sie mit eigener Handschrift Stücke abschrieb, die sie gern mochte (siehe erste Fussnote – die Alben sind online zugänglich und auch eine optische Augenweide). Das war damals eine übliche Praxis, da es luxuriös teuer war, gedruckte Noten zu kaufen. Für uns ist dieses Dokument eine wertvolle Zeitkapsel, die nicht nur zeigt, welche Musik in englischen Wohnzimmern um 1800 erklang, sondern auch, welche Stücke und Komponisten Jane Austen favorisierte. In Briefen erwähnt sie immer wieder irische und schottische Volkslieder, die ihr besonders am Herzen lagen (sie kannte sie ebenfalls in den Arrangements von Haydn und Beethoven), ebenso Tänze, mit denen sie die Abendunterhaltung der jüngeren Generation begleitete. In einem Brief erwähnt sie auch, dass sie täglich üben muss, um für das Tanzvergnügen flotte und schwungvolle Stücke präsentieren zu können: „I will practice country dances, that we may have some amusement for our nephews and nieces, when we have the pleasure of their company.“ [4]

Unser besonderes Interesse gilt natürlich den reinen Klavierwerken, die sie festgehalten hat. Ignaz Pleyel scheint sie besonders gemocht zu haben, denn von ihm hat sie vierzehn Sonatinen notiert und nachweislich auch gerne gespielt. Haydn und Mozart, die praktisch Zeitgenossen von Jane Austen waren, haben ebenfalls einen besonderen Platz in ihrem Notenbuch. Nicht mehr ganz aktuell, aber offensichtlich ebenfalls geschätzt waren Werke von Händel, Bach und verschiedenen Söhnen von Bach.

Neben diesen bekannten Namen finden sich auch eine Reihe von Komponisten, die heutzutage fast vergessen sind wie Shield, Dibdin, Piccini oder Sterkel.

Seit Jahren träume ich davon, ein Schülerkonzert unter dem Motto „Am Klavier mit Jane Austen“ durchzuführen. Als ich das Projekt einer Kollegin gegenüber erwähnte, die an unserer Schule Musik und Englisch unterrichtet, wurde es im Handumdrehen Wirklichkeit. Ich schrieb in wenigen Tagen ein kleines Theaterstück mit vielen Austen – Zitaten. Strenggenommen ist es kein Stück mit einer Handlung, sondern ein Versuch, möglichst viele Stücke der Zeit vor 1800 in einem Konzertabend unterzubringen – wie die gefürchtete Gemüsesuppe, die plötzlich gern gegessen wird, wenn sie püriert, mit Sahnehäubchen und Croutons auf dem Tisch erscheint. Ich habe meinen Schülern unbemerkt so viel Wilhelm Friedemann Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Pleyel und Purcell untergejubelt wie nur möglich, und sie waren sogar noch stolz darauf, diese normalerweise wenig begehrte Literatur spielen zu dürfen. Das war der grösste Triumph dieses Projekts für mich: dass meine Truppe, die sonst nicht genug bekommen kann von Chopin oder Einaudi, plötzlich zu Experten wurde, welche Stücke vor 1810 schon existiert haben. Und selbst mehr darauf achteten als ich, ob es diese Literatur zu Janes Lebzeiten wirklich schon gegeben hat. 

Unser leichtestes Stück war eine Sonatina von Charles Henry Wilton, das anspruchsvollste Beethovens Rondo op. 51/2, das er trotz der Opusnähe zur Waldsteinsonate bereits 1797 komponiert hatte. Mit seiner empfindsamen und sanften Melodie passte es wunderbar in unsere Welt von Jane Austen. Die Kleineren spielten eine Gigue von Samuel Arnold, ein Allegro von Alexander Reinagle, eine Canzonetta von Beethovens Lehrer Christian Gottlob Neefe oder Beethoven’s Ecossaise, alles Stücke, die sich problemlos in Klavierschulen oder Sammlungen für Anfänger finden lassen. Die Älteren hatten das bekannte Solfeggio von Carl Phillip Emanuel Bach geübt, die Sonatine a-moll von Benda, die Pleyel-Sonatine in D-Dur oder die schon erwähnten Cramer-Etüden und lieferten so einen Überblick darüber, welche Literatur Jugendliche um 1800 gespielt haben könnten. „Special guest“ war ein Abiturient, der mit einer Schülerin von mir Carullis Gran Duo op. 70 für Gitarre und Klavier zum Besten gab. Der zarte, intime Klang der Gitarre passte wunderbar in unser elegantes Wohnzimmer auf der Bühne.

Musikalisch abgerundet wurde unser Konzertabend von drei englischen und schottischen Volksliedern, gesungen von unserem Schulchor. Jane Austen liebte diese Folklorestücke und hatte viele davon in ihr Notenalbum abgeschrieben.

Ich war überrascht, dass ausnahmslos jeder meiner Schüler eine Schauspielrolle übernehmen wollte, zusätzlich zum Klavierspielen. Wir Musiker fühlen uns ja generell wohl auf der Bühne, doch mir war vorher nicht klar, dass ich 17 kleine „Rampensäue“ unter meiner Fittiche habe. Doch so ist es, und im Lauf der Proben haben wir viele Rollen noch ausgebaut oder ihnen mehr Text gegeben, weil die Kinderchen gar zu überzeugend waren. Der meiste Teil der Handlung wurde von älteren Schülerinnen getragen, aber die Kleinen hatten auch ihre Highlights. Insgesamt ging das Spektrum von der 5. bis zur 12. Klasse und ich konnte besetzungsmässig aus dem Vollen schöpfen, bis hin zur Gruppe von lärmenden Kindern, die regelmässig durch Janes Wohnzimmer stürmten und sie beim Schreiben störten (Jane Austen wuchs mit sieben Geschwistern auf. Zusätzlich unterhielt ihr Vater, ein Geistlicher, ein kleines Internat für Knaben, die ebenfalls im Pfarrhaus wohnten. Später kamen Janes Nichten und Neffen zu Besuch und hielten sie vom Schreiben ab. Ich fand, dass diese ständig nachwachsenden Kinderscharen einen extra Auftritt verdienten. Sie legten, keine Überraschung, mit minimalen Regieanweisungen eine beeindruckende Leistung hin.)

Die Kostüme und Möbel stellten wir selbst oder liehen sie von wohlmeinenden Eltern und Freundinnen. Das Motto war „Weiss“, und es ist erstaunlich, wie einheitlich und elegant alles aussah, obwohl natürlich nichts wirklich stilecht war. Weisse Sommerkleider, besondere Schühchen, wenige alte Möbel bildeten das Rückgrat unseres 0 – Euro – Budget – Projekts.

Meine Kollegin war Feuer und Flamme, hat Erfahrung im Einstudieren von Musicals und weiss, wie man sich auf der Bühne bewegt. Ausserdem leitet sie die Technikgruppe unserer Schule, die meine schauspielunerfahrenen Schüler mit Headsets verstärkte. Es war aufregend genug, dass die Klavierschüler überhaupt Sprechrollen übernahmen. Wir konnten keine ausgebildeten Sprechstimmen erwarten, und ich war dankbar für die technische Zauberei, die es ihnen ermöglichte, natürlich zu sprechen.

Es war keine leichte Aufgabe, aus den vielen Romanstellen, in denen Klavier gespielt wird, eine Auswahl für unser Stück zu treffen. Ich beschränkte mich auf drei. Es begann mit dem Moment, in dem sich Colonel Brandon in Marianne Dashwood verliebt:

„In the evening, as Marianne was discovered to be musical, she was invited to play. The instrument was unlocked, everybody was prepared to be charmed, and Marianne, who sang very well, at their request went through the chief of the songs which Lady Middleton had brought into the family on her marriage, and which perhaps had lain ever since in the same position on the pianoforte; for her ladyship had celebrated the event by giving up music, although by her mother’s account she had played extremely well, and by her own was very fond of it.“

Die Szene nach der anonymen Lieferung des Broadwood-Klaviers, in der Frank Churchill Jane Fairfax hilft, den Klavierfuss mit Papier zu unterlegen, damit das Instrument nicht mehr wackelt, konnte natürlich nicht ausgelassen werden. Am Schluss kam meine Lieblingsszene, der Auftritt der pompösen Lady Catherine de Bourgh, die alles über’s Klavierspielen und Üben weiss, obwohl sie selber nicht spielt:

„There are few people in England, I suppose, who have more true enjoyment of music than myself, or a better natural taste. If I had ever learnt, I should have been a great proficient.“

Natürlich konnte ich es mir nicht verkneifen, folgende Bemerkung an den Schluss zu stellen. Schliesslich befanden wir uns in einer Schule:

„One cannot expect to excel, if one does not practice a great deal. It cannot be done too much. I often tell young ladies, that no excellence in music is to be acquired, without constant practice.“

Allerdings abgemildert durch ein allerletztes Schlusswort meiner Jane Austen, die die Kinder daran erinnert, die Freude beim Musikmachen nicht zu vergessen. Und die hatten sie! Sichtbar und hörbar! Jeder scheint es genossen zu haben, durch die Kostüme eine andere Persönlichkeit anzunehmen und quasi alle Verantwortung auf eine Rolle abzuwälzen. Und jeder hat besser und entspannter gespielt als in den berüchtigten Klassenabenden, in denen einer nach dem anderen mit feuchten Händen ans Klavier geht und weiss, dass die Eltern ihn mit den Klasskameraden vergleichen. Wir waren alle in einer anderen Welt, in der auf einmal Vieles möglich war und Kräfte freigesetzt wurden, von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie haben.


[1] http://www.smithsonianmag.com/smart-news/jane-austens-music-collection-now-online

[2] http://www.janeaustens.house/object/jane-austens-writing-table

[3] https://melaniespanswick.com/2013/01/16/the-pianoforte-in-jane-austens-world/

[4] janeaustensworld.com/2010/07/12/jane-austen-and-music/

Ruhe wie noch nie

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Was hören die Kirchen, Schlösser, Museen, wenn sie nach Jahrhunderten, Jahrtausenden zum ersten Mal länger als über Nacht in Ruhe gelassen werden? Wie sehr atmen sie auf, wenn nicht Tag für Tag Ströme von Menschen über ihre glattgeschliffenen Mosaikböden oder knarzenden, glänzenden Parkettdielen schlurfen? Keine hüpfenden Kinder in prächtigen Treppenhäusern? Keine Teenager, die in Seitenkapellen von gotischen Kathedralen verstohlen Instagram und Tumblr checken? Keine Pauschaltouristen, die gehetzt dem hochgehaltenen Regenschirm ihrer Führerin folgen, ohne einen Blick nach rechts oder links zu verschwenden? Einfach nur – himmlische Ruhe?

Die Gebäude werden aufatmen. Seufzend ausatmen, tief und genussvoll einatmen und sich dann in alle Winkel und Ecken dehnen, in denen sie sich schon lange nicht mehr gespürt haben. Sie werden erstaunt zur Ruhe kommen und spüren: da ist er ja, unser unverfälschter, ganz eigener Geruch nach Holz und Bienenwachs, wenn nicht dauernd die Türe aufgeht. So fühlt es sich an, wenn das hölzerne Treppenhaus nicht im Minutentakt beansprucht wird, sondern sich mit dem Wechsel der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit langsam, ganz langsam ausdehnen und zusammenziehen kann. Leise knacken kann, wann es ihm beliebt, und nicht, weil ein gutgenährter Besucher zu heftig auf eine langsam nachgebende Verbindung getreten ist. Die Potpourries, die in Schalen gefüllt über ganz Knole verteilt sind, können ihren süssen Duft nach Rosen und Nelken intensiver verbreiten, wenn er durch keine Zugluft verdünnt wird. Jeder Raum, jede Galerie, findet sich wieder. Mit einem Klick, wie ein Puzzlestück, das schon lange gefehlt hat. Und plötzlich ist alles glatt und ruhig.

Sonne und Mond dürfen als einzige noch in die Räume, die sonst von Stimmen surren. Es ist still, völlig still. Die Sonnenstrahlen bringen feinste Staubwölkchen zum Schwirren und Tanzen, aber keiner sieht es. Die Rosette von Chartres wirft einen buntleuchtenden Schatten auf den Boden, wie eine ganze Schatzkiste von ausgeschütteten Juwelen in allen Farben – aber keiner sieht es. Eine halbe Minute lang zeichnet ein Sonnenstrahl tiefblaue, rote und lilane Reflexe auf eine bestimmte Stelle am Boden in der Kathedrale von Reims, ohne dass jemand Zeuge wird. Niemand versucht, seine Finger in den farbigen Strahl zu halten und das Leuchten einzufangen. Niemand probiert, sich so in’s hereinfallende Licht zu stellen, dass ihr Gesicht in tausend Farben getaucht ist. Die Sonne streichelt einfach in Ruhe jedes Stück des Kirchenfensters wie seit Jahrhunderten und freut sich an den Reflexen auf dem grauen Steinboden. Wenn am Morgen die Fenster der Sainte Chapelle in einer Symphonie aus Rot und Lila aufflammen, seufzt niemand. Ebenso wenig, wenn abends die Westrosette von Notre Dame funkelt, strahlt und scheinbar sich zu drehen beginnt in einer Orgie aus Licht. In St. Sulpice markiert der Sonnenfinger für einige Sekunden – auch hier tanzt ein Ballett aus Staubwölkchen durch ihn hindurch – auf der Skala im Boden den Tag im Kalender. Sekunden nur, flirrend und schon in Bewegung, wenn er grade erst den Gradmesser erreicht hat, aber gewissenhaft und genau, wie seit Jahrhunderten. Keiner ist da, um den Tag abzulesen, niemand freut sich, weil das Weiterschreiten auf dem Metall das Längerwerden der Tage bestätigt. Die Sonne kümmert sich trotzdem darum.

Die leeren Kathedralen lassen ungerührt, aber vielleicht dankbar diese kurzen Besuche von Wärme und Licht über sich ergehen. Sie stehen still und unerschüttert. Manchmal lauschen sie, erinnern sich an Musik, die durch ihre Gewölbe geschwebt ist, unsichtbar, unfassbar, so anders als die Sonnenstrahlen. Aber mit einer längeren Wirkung. Manche Melodien scheinen in die Steine eingedrungen zu sein, und jetzt, wo alles ruhig ist, kann man das Echo vernehmen. Auch wenn der Bariton, der sie einst gesungen hat, schon seit Jahrhunderten nicht mehr singt und die Finger des Gambisten zu Staub geworden sind (seine Gambe ist noch da und wird inzwischen von einem anderen geliebt. Der denkt, es ist für die Ewigkeit, aber auch seine Finger wird die Gambe überleben.) Vergessene Orgelkaskaden ergiessen sich plötzlich durch den leeren Raum, einstimmige Gesänge von Mönchen, der zarte Klang eines Chores – all das ist in der Erinnerung der Kirchen, in den Steinen und Pfeilern eingeschrieben, aber wir können es nicht mehr hören, weil wir selber zu laut sind.

Und wenn die Menschen, die vielen, abgelenkten Menschen, endlich nicht mehr kommen, erobern sich die Geister der ursprünglichen Bewohner ihre Häuser zurück. Franz von Stuck schreitet langsam und zufrieden durch seine geheimnisvoll – dunklen Wohnräume, streicht über die Rückenlehne eines Sofas, schaut versonnen in den Garten und stellt fest, dass die langen, schweren Vorhänge inzwischen etwas anders riechen. Frederic Leighton lässt sich mit einem Seufzer auf den niedrigen Polstern seiner verrückten blauen orientalischen Phantasie nieder, betrachtet glücklich die Fliesen, die er im Nahen Osten eigenhändig gesammelt hat, und lauscht dem leisen Plätschern des Springbrunnens. Früher hat er das gern getan. Seit das Haus ein Museum ist, hört man nur noch die Schritte der Touristen und ihr ständiges Stimmengemurmel. Leighton lehnt sich zurück – so dürfte es bleiben.

Auch, wenn der Mond gegen Morgen noch kurz in sein Atelier scheint und silbrige Strahlen durch die grossen Fenster auf den Parkettboden fallen. Die Ruhe im Garten, der grau und nächtlich vor den Fenstern schläft… Die verstummten Stimmen im Atelier… Seine Modelle, die, früher so lebendig, jetzt aus Bildern zu ihm sprechen… Leighton schwebt unhörbar hinüber in sein Schlafzimmer, setzt sich auf sein Bett, ohne einen Abdruck zu hinterlassen, und beglückwünscht sich noch im Nachhinein, dass er damals so eine hübsche Tapete ausgesucht hat.

Währenddessen zittert das Mondlicht auf der Themse, auf dem Ärmelkanal, auf der Seine und lächelt durch die bunten Fenster der gotischen Kathedralen. Wie mag der bunte Schatten der Mondjuwelen wohl auf dem Boden aussehen? Hat ihn jemals jemand gesehen? Was für eine himmlische Ruhe…

 

Sammler II

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Nachdem ich jetzt zum vierten Mal einen Artikelanfang gelöscht habe, muss ich mir eingestehen: Eichhörnchen verursachen eine Schreibblockade bei mir. Und so komme ich nicht weiter. Ich wollte krampfhaft an der “Sammler” – Fortsetzung, dem fatalen “II” festhalten, weil ich eventuell Erwartungen bei meinen drei Lesern geweckt habe. Aber seltsamerweise stellte sich heraus, dass das Zugucken beim Sammeln und Verbuddeln der Beute im Rückblick eine andere, nicht sehr berichtenswerte Qualität kriegt… Selbst wenn uns die Tierchen im Wilmington Park nach drei Tagen schon kannten und furchtlos auf unsere Hände krabbelten, mit warmen, ledrigen kleinen Pfötchen – da, es geht schon los. Es würde nur niedlich und süss werden. Und selbst wenn wir an wunderschönen und idyllischen Orten willkommene Ruhepausen und Entspannung fanden und ich langsam den Eichhörnchen-Führer für London schreiben könnte (wir fütterten im Hyde Park, Regent’s Park, Hampstead Heath, dem Park neben dem Highgate Cemetery, Lincoln’s Inn Field und ungezählten kleineren Parks) – es will kein Blogartikel kommen. Vielleicht auch, weil man im Urlaub nicht Rituale und Vorhersehbares schätzt, sondern unerwartete, besondere Momente im Rückblick eine ganz andere Magie entwickeln. Ich denke gern an die kleinen Felltierchen, die mit vollem Körpereinsatz ihre Vorräte verbuddelten. Ich träume jetzt nicht davon oder sehne mich nach diesem Erlebnis zurück. Aber irgendwie muss ich doch eines der ungezählten Eichhörnchen-Photos in den Blog schmuggeln!

Es ist nicht verwunderlich, aber von der wirklichen besonderen, traumhaft schönen halben Stunde am letzten Abend, die im Rückblick Ausnahme-Dimensionen annimmt,  gibt es kein Photo. Desto eindringlicher hat sich die Abendstimmung in mein Herz eingebrannt. In dem Moment weiss man es ja meistens nicht, aber – ich war glücklich. Vielleicht verkläre ich es auch im Rückblick, was ja schnell passiert. Aber wenn ich durch Zauberei einen der Momente des Urlaubs noch mal erleben können dürfte, würde ich die blaue Stunde in Bloomsbury am letzten Abend wählen. Ich war allein mit einer Freundin essen gewesen, die zufällig auch in London war. Natürlich in Bloomsbury, weil wir beide viel lesen, und überhaupt… Gegen halb neun machte ich mich zu Fuss auf den Rückweg zur Ferienwohnung im melancholischen Bewusstsein: das sind meine letzten Stunden auf dieser so schwer erreichbaren Insel. Wer weiss, wann ich wieder komme. Der immer dunkelblauer werdende Himmel, die seidige Luft, die ruhigen Strassen machten’s nicht leichter. Ein paar Leute waren noch auf dem Heimweg von der Arbeit, aber ich hatte ganze Blocks für mich und genoss jeden einzelnen Schritt auf dem trockenen Asphalt. Ich sehe noch meine Schuhe vor mir, weil ich mir vorsagte: ich bin noch in London. Noch bin ich in Bloomsbury. Morgen nicht mehr. Die dunkelblaue Dämmerung hüllte mich immer mehr ein, als mein Blick auf Ottoline’s blaue Erinnerungsplakette am Bedford Square fiel. Und ich konnte nicht anders, als Gute Nacht zu sagen. Und wenn ich mich schon von ihr verabschiedete, durfte ich jetzt keinen mehr auslassen: lieber Morgan, der mir so viel Freude bringt mit seinen Romanen – träum schön, schlaf gut. Charles – gute Nacht. Ein Extra-Abstecher zu Virginia, der sich mehr nach Auf-Wolken-Gehen anfühlt, obwohl ich an dem Tag schon so viel gelaufen bin: was wäre ich ohne deine Bücher. Besonders süsse Träume. Winifred und Vera – super Idee, dass ihr zusammen gezogen seid, sonst müsste ich mich zwei Mal verabschieden und wäre langsam wirklich traurig. Schlaft gut. Ich erreichte unser Backstein – Art – Deco – Haus in der ruhigen Margery Street auf Schwaden von Abschieds-Melancholie und fragte mich, wie das sein kann, dass so viele der Schriftsteller, die ich mag, derartig geballt in einem Viertel gewohnt haben. Gibt es in München was Vergleichbares? Ich glaube nicht. Nicht in der Dichte. Und vor allem nicht: diese Schriftsteller, die mir so viel bedeuten. Und ich bilde mir ein, dass ihre guten exzentrischen ideenreichen Geister immer noch über den gepflegten altmodischen Häuserblocks schweben und irgendwie anwesend sind. Und mein Gutenacht-Lied gleich mal in viel schönere Versform gebracht haben. So wie es einen in Rom an manchen Stellen überfällt, weil vor den Christen und den Römern noch frühere Generationen an dieser Stelle einen Kultplatz hatten und der immer noch besondere Schwingungen hat. Oder sich unvermittelt auf einer sonnenverbrannten Wiese im Nirgendwo plötzlich eine Seele aus der Antike meldet und man sicher ist: das kann nur an diesem Ort passieren.

Bloomsbury war magisch an diesem Abend, so viel steht fest. Die Dämmerung scheint hier viel langsamer und sanfter zu sein als bei uns, aber während ich heimgelaufen war und über Geister nachdachte, war es fast ganz dunkel geworden. Und dann stand vor unserem Haus, mitten im Wohngebiet, mitten in der Millionenstadt, ein wunderschöner Fuchs und schaute mich fragend, aber freundlich an. Ich hatte noch nie einen Fuchs in London gesehen, aber – irgendwie war das an dem Abend völlig normal für mich. Grade waren noch so viele Geister um mich getanzt, da war ein kleiner Waldgeist nicht weiter seltsam (und wer sich spätestens hier fragt: nein, kein Alkohol. Den ganzen Abend nicht.). Ich blieb stehen und sagte erst mal nichts. Kein Mensch war auf der Strasse, und wir schauten uns entspannt an. Bis ich es nicht vermeiden konnte, den Fuchs anzusprechen – das war ihm dann leider doch zu viel. Oder vielleicht hätte ich Englisch sprechen sollen? Auf jeden Fall drehte er sich um und lief elegant und entspannt langsam in Richtung einer Grünfläche, die ich (trotz Eichhörnchen) noch nicht kannte. Ich folgte ihm mit ein bisschen Abstand, verlor ihn aber auf dem kleinen Fussweg zwischen den Hecken. Da stand ich, allein im Dunkeln unter einer Laterne in einem Minipark, in dem ich noch nie gewesen war. Und dachte: wäre ich in einem Murakami-Roman, wäre das erst der Anfang und nicht das Ende… Der Fuchs war für mich ein Symbol dafür, dass es eine Verbindung gibt. Dass es mehr gibt, als wir tagsüber sehen können. Und dass wir durch unsere Phantasie jederzeit in andere Welten gelangen können.

 

Sammler I

Kenwood House

Unser London-Urlaub hat mich dem Minimalismus noch mal näher gebracht. Nicht, weil ich selber in einem Konsumrausch zu viel Zeugs gekauft hätte und jetzt nicht weiss, wo ich’s unterbringen soll. Auslöser waren drei Museen, in denen die Hauptstadt auf eindrucksvolle Weise zeigt, welche Blüten eine übersteigerte Sammelleidenschaft treiben kann.

Am eindrucksvollsten, eigentlich die echte Instant-Kur für jeden hemmungslosen Sammler, war das Haus von John Soane, einem Londoner Architekt des 19. Jahrhunderts, der seine Bude gegenüber vom Lincoln’s Inn Field buchstäblich bis unters Dach vollstopfte. Mit prinzipiell einzigartigen, wertvollen Kunstgegenständen – hauptsächlich antiken Vasen und Statuen und Fragmenten von allem Möglichen. Die Objekte türmen und stapeln sich an Wänden, Decken, Galerien, jedem verfügbaren Zentimeter Raum bis so hoch oben, dass man sie überhaupt nicht mehr mit Genuss anschauen kann. Nach dem anfänglichen Schock und der Bestürzung über dieses wirklich krankhafte Anhäufen fingen wir beide an, pietätlos zu werden. Und sind dadurch auch etwa aufgefallen. Aber – echt: eine Wand voll einzelner abgebrochener Füsse? Hände? Schienbeine? Einfach, weil’s irgendwo rumgelegen hat und man nicht nein sagen konnte? Der Gatte meinte: “Da, du hast doch gesagt, dein Knie tut weh. Das hier könnte passen. Und an welchem Fuss waren die Blasen? Sollen wir den dranschrauben?” Die Prothesenwand war amüsant, aber irgendwie auch – sehr seltsam. Genau wie Soane’s Neigung, die allerkleinsten Winkel und Nischen für seine Objekte zu nutzen. Hier kann man lernen, wie man nicht nur erfolgreich das Nachbarhaus kauft, die Wände durchbricht und auch das zweite Haus voll mit Zeugs stopft – man bekommt auch Inspirationen, unter welchen Fenstersitzen / in welchen Türnischen man noch schmale, aber hohe Bücherregale anbringen kann. Mein nagelneues Regal ist ja zu meinem grossen Kummer schon wieder voll (was eine völlig unnatürliche Bücherkaufhemmung hervorgerufen hat. In England, ich fass es nicht!), aber der Gatte meinte wohlgemut, ich solle mir jetzt keine Sorgen mehr machen, unser Haus besitzt noch sehr viel Potential für Bücherregale. Mir wurde ehrlich gesagt schummerig bei der Aussicht… So will ich nicht enden. Vor Schreck purzelte ich fast von der Galerie zwei Stockwerke tief in den bereitstehenden ägyptischen Alabastersarg und keuchte nur: “Ich muss hier raus, ich pack’s nicht!”

Etwas weniger klaustrophobisch, aber trotzdem exzentrisch ist das Wohnhaus des Malers Frederic Leighton. Gegen Leighton’s wunderschöne eigene Gemälde, seine kleine, aber feine Büchersammlung oder das grosse Musikzimmer mit Blick über den Garten, in dem schon Clara Schumann gespielt hat, gibt es wenig zu sagen. Problematisch ist eher sein Expansionsdrang. Das diskrete quadratische Haus fügte sich unauffällig in die Nachbarschaft im vornehm-spärlich besiedelten Kensington, bis Leighton durch erfolgreiches Malen zu immer mehr Geld kam und seine Phantasie gleichermassen zu wuchern begann. Das Haus bekam über die Jahrzehnte mehrere Anbauten und wuchs immer mehr in die Breite und in den Garten hinein. Heutzutage ist die Ursprungsform nicht mehr zu erkennen. Der skurrilste Anbau erfolgte um 1880. Auslöser war, dass Leighton nicht mehr wusste, wohin mit seiner Sammlung – eigenhändig vor Ort gesammelt! – von türkisen Kacheln aus Syrien. Kacheln von um 1600, übrigens. Ich stelle mir vor, wie er sich zum zwanzigsten Mal morgens barfuss die Zehen an noch einem Stoss Kacheln angehauen hat, fluchte und dachte: was mach ich mit dem Zeug? Was ist da naheliegender als der Anbau einer kleinen moscheeartigen Halle ans Haus? In der die Kacheln ordentlich an den Wänden kleben, geschätzte sechs Meter hoch? Und warum nicht gleich noch ne arabische Kuppel? Leighton war ein grosser Fan des Nahen Ostens, den er selber häufig bereist hatte. Damals war es vielleicht plausibel, exotisches, orientalisches Flair nach London zu bringen. Aber im politischen Klima von heute ist so eine Minimoschee im Privathaus doch eher ein Klotz am Bein, der sich womöglich auch negativ auf die Grundstückspreise der Umgebung auswirkt. Und alles nur, weil man bei der 999. Kachel auf dem Bazar von Aleppo nicht nein sagen konnte…

Edward Cecil Guinness, aus altem Bieradel, war ein Altruist und Philantrop, der zu einer Zeit niederländische Meister sammelte, als kein Hahn nach ihnen krähte. Im Laufe der Jahre kaufte er 200 Gemälde ersten Ranges. Das Selbstportrait von Rembrandt, das er 1888 anschaffte, hatte damals schon einen gewissen Wert – den kleinen Vermeer hingegen bekam er für einen Tausender quasi dazu. Ich weiss gar nicht, ob sich heutzutage der Wert eines Vermeer überhaupt noch in Geld ausdrücken lässt? Auf jeden Fall standen wir vor der Gitarrenspielerin im gelben Jäckchen und waren überwältigt. Selten kommt man so nah und unkompliziert an einen Vermeer ran – ausser uns waren kaum Besucher im Kenwood House, obwohl die hohe Qualität der Gemälde denen im Louvre in nichts nachsteht. Aber: so eine kleine Gitarrenspielerin ist nicht selfie-würdig. Und überhaupt: kostenloser Eintritt, keine Schlangen… Kann nichts taugen. Wir genossen die Ruhe. Ich war von verschiedenen Emotionen gebeutelt: eine unerwartete, warme Wiedersehensfreude mit dem Bild, das bei uns im Goldrahmen über dem Flügel hängt, und meiner normalerweise unterdrückten skrupellosen Ader. In meinem Kopf ratterte es: Erdgeschoss, windige einglasige Fenster, ein dunkler Park drumrum, muss noch mal checken, ob die Tore geschlossen werden, aber das ist auch kein Problem, mein Bild in einen Rucksack und nachts einfach schnell austauschen – vielleicht bemerkt’s ja nie jemand? Die Gedanken des Gatten waren auf ähnlichen Abwegen, aber er zeigte mal wieder, dass er der edlere von uns ist: “Meinst du, dass sie es uns verkaufen, wenn wir einen Hunderter drauflegen?”

Naja, das Bild hängt noch in Kenwood House. Hoffe ich zumindest. Wir hatten dann noch viel Spass in der Museumspädagogik in der Orangerie, wo Kostüme der verschiedenen ausgestellten Gemälde auf einem Kleiderständer hingen und zum Rumalbern einluden. Ich muss gestehen: ich wollte schon immer mal das berühmte gelbe Vermeer-Jäckchen mit dem Hermelinkragen anziehen. Tat ich auch. Der hellblaue weite Rock war drangenäht. Hm. Die Kinder haben mich gar nicht beachtet. Oder – einfach verstanden?

Auch bei der Guinness-Sammelleidenschaft stellte sich irgendwann die Platzfrage, die aber für einen Grossindustriellen kein Problem ist: er kaufte das alte Herrenhaus in seinem riesigen Park in Hampstead. Leider starb er sehr bald darauf, hatte aber noch verfügt, dass das Haus und die Sammlung der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung stehen soll. Das gilt bis heute. Würde ich Bier trinken – “prost”! Aber wir genossen einen wunderbaren Tee und Scones im idyllischen Gartencafé. Das war ein ebenso ruhiger und entschleunigter Abschluss eines entspannten Museumsbesuchs, ein Nachmittag wie auf dem Land. Ich glaube, das Problem der anderen Sammler war einfach, dass sie etwas wenig Raum für ihre Objekte hatten und man leicht Platzangst bekommen konnte. Ist alles auf einem etwas grosszügigeren Massstab ausgestellt, erträgt man auch die verrückteste Sammelfreude.

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Oxford

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Wie kann man Oxford in Worte fassen? Es ist so ein eigentümlicher Widerspruch.  Es streckt sich nach dem Himmel, mit fast jedem seiner Gebäude und den hunderten von gotischen Türmen, Türmchen, Dachspitzen, noch extra draufgesetzten Verzierungen. Alles greift nach oben, in die Wolken, möchte optisch noch höher sein als die eigentliche Struktur. Gleichzeitig liegt es ruhig und stabil in den gelblichen spätsommerlichen Wiesen, schon seit Jahrhunderten, und wird noch lange so entspannt in der lieblichen Landschaft träumen. Wenn wir uns zu Fuss näherten – nach einer langen Themse – Wanderung, oder nach einem kürzeren Spaziergang im Wildpark des Magdalen College – bot sich uns ein Anblick wie vor 200 Jahren. Oder 400 Jahren. Der jeweilige monumentale gelbe Sandsteinkirchturm, hohe Bäume, langsam gelb werdende, nicht gemähte Sommerwiesen, eine Herde weisser Rinder oder ein Rudel Rehe. Keine Autos, keine Busse. Vogelzwitschern statt Sirenen oder Hupen. Zeitloses Schlummern im spätsommerlichen Abendlicht. Trotz des gotischen Streckens und Reckens: selbstvergessenes in-sich-Ruhen, in grösst möglicher Schönheit und Gelassenheit. Versprechen von Schutz und Beständigkeit durch die vielen Zinnen und Mauern und Tore und die gigantischen alten Türschlösser.

Aber ist diese Ruhe und Unbeweglichkeit nicht eine optische Täuschung? Oxford wird umarmt von zwei Flüssen, die seit Urzeiten in Bewegung sind. Tag und Nacht in Bewegung. Bewegung, wenn der Mond scheint, Bewegung, wenn die Sonne darauf glitzert. Die Flüsse aus Wasser bleiben normalerweise vor der Stadt und in ihrem vorgezeichneten Lauf, ausser sie entscheiden sich für ein malerisches Hochwasser, das die Wiesen von Christ Church überflutet und Gelegenheit für ebenso malerische Spiegelungen bietet. Die Flüsse aus Menschen, hunderte, tausende, die auf der Suche nach Schönheit für einen Tag in die Stadt kommen, strömen wie eine andere Art von Hochwasser durch jede noch so kleine Gasse. Schwappen in die gotischen Prunktreppenhäuser mit ihren Fächergewölben, rauf auf die höchsten Türme, und gleich wieder hinunter und zur nächsten Sehenswürdigkeit. Und im Lauf der Jahrhunderte war Oxford Durchgangsstation für Tausende, Zehntausende von Menschen, die hier gelebt, gelernt, gelehrt haben und dann weitergezogen sind. Ständige Einzüge und Auszüge, ständig neue junge Gesichter. Wechsel als einziges kontinuierliches Element.

Und trotzdem: diese enorme Konstanz, Bewahrung und Pflege des Vorhandenen. Die Bibliothek, die seit Jahrhunderten jedes in England publizierte Buch aufhebt, angefangen mit ganz frühen, unendlich kostbaren Exemplaren, die sogar angekettet sind. Statischer geht’s kaum. Die zahlreichen Kapellen der Klöster, in denen während des Semesters teilweise seit 1350 tägliche Gottesdienste stattfinden und vor dem Abendessen die gesungene Vesper. Rituale auch im Zusammenleben der Studenten: die immensen gotischen Speisesäle, deren hohe Decken sich kirchenähnlich in der Dämmerung verlieren. Selbst bei nur bedecktem Himmel haben wir verstanden, warum die Tische gespickt sind mit kleinen Lämpchen, wie man sie eher aus Speisewägen kennt – bei Regen oder im Winter wäre es in diesen hohen Hallen sicher richtig dämmrig ohne kleine Extralämpchen. Das Gebet vor dem Essen, überhaupt das gemeinsame Essen zu festen Zeiten – Rituale, Bewahrung, Stabilität.

Dieses extreme Gefühl von Konstanz und Verlässlichkeit hatte ich selten. Nicht mal in Rom, der angeblich ewigen Stadt – man könnte meinen, dass hier die Kontinuität noch grösser und wichtiger ist, aber Rom hat unendlich viele verschiedene Gesichter und hat sich mit den Zeiten sehr geändert und ausgedehnt. Ich würde sagen, das Kontinuierlichste sind noch die orangen Bauzäune, die bei jedem Besuch ein bisschen gewandert sind. Oxford hingegen: es gibt Ecken, die vor 500 Jahren ganz genau so ausgesehen haben müssen. Nicht das kleinste Detail stört oder erinnert an die Zeit, in der wir eigentlich – ausserhalb von Oxford – leben (Apropos Zeit: die Glocken von Christ Church erklingen zur Lokalzeit, fünf Minuten nach Greenwich. Hier gilt der Sonnenstand und nicht irgendwelche neumodischen Vereinbarungen.).

Umso mehr kommt man sich als ganz vorübergehende Erscheinung vor, mit der Oxford leicht auch noch fertig wird. Wir sind längst wieder weitergegangen, irgendwann noch viel weiter gegangen und zu Staub verfallen. Die Bücher werden trotzdem in ihren ehrwürdigen alten Regalen schlummern, die Glocken nachhallen in den engen Gassen, und die Sonne wird in genau einem ganz gewissen magischen Moment das höchste Fenster der Seufzerbrücke in Flammen stehen lassen. Egal, was in der Welt passiert: Oxford wird sich, in Schönheit erstarrt, gleich bleiben. Wie eine wunderschöne Libelle, die unbeweglich in Bernstein eingeschlossen ist.

Und wenn ich bald wieder wie eine Blöde durchs Leben rennen werde und nicht weiss, wo mir der Kopf steht, werde ich kurz innehalten und daran denken, dass Oxford unbeeindruckt davon in seinen Wiesen schlummern wird. Dass die Schatten abends immer noch langsam über die sattgrünen Rasenflächen des Magdalen Colleges wandern. Wie wohltuend und idyllisch es war, an einem warmen Sommerabend nichts weiter zu tun als – den Schatten nachzuschauen und die Sonne noch ein letztes Mal durch einen hohen alten Baum blinzeln zu sehen.

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