Kristall

Wir hatten die zweistelligen Türchen im Adventskalender noch gar nicht erreicht und trotzdem fühlte ich mich überrollt von vorweihnachtlichen Aktivitäten und den damit zusammenhängenden Erfordernissen. Und täglich schien die Liste länger zu werden: ausser den englischen Weihnachtskuchen, die ich noch in einem Anfall von spätnovemberlichem Schwung gebacken hatte, war in der Küche noch nichts passiert. Meine handtellergrossen Lebkuchenherzen mit Monogramm drängten sich immer unangenehmer ins Bewusstsein, denn ich brauchte die ersten schon bald für die erste Weihnachtsfeier als Tischkarten. Das Backen und vor allem das Verzieren war immer so ein Aufwand, dass ich alle sechzig in einem Rutsch produzieren wollte. Mir war nur schleierhaft, wo ich dieses Jahr die drei, vier Stunden, die dafür nötig wären, nehmen sollte. Eine Erkältung hatte mich zur ungünstigsten Zeit lahmgelegt. Statt abends glücklich und entschleunigt im Schein des Lichterbogens in der Küche zu werkeln, schlief ich eher ungewollt auf dem Sofa ein. Und hatte nicht nur deswegen das Gefühl, allem etwas hinterherzurennen.

Bald waren auch unsere Adventskonzerte, und trotzdem übten ein paar meiner Schüler so entspannt, als wäre Weihnachten irgendwann im März. Ende März. Auch das beschäftigte mich unterschwellig. Sollte ich das Programm kürzen und alles, was nicht gern geübt wurde, rausnehmen? Oder wäre das pädagogisch kontraproduktiv? Garantiert. Also blieb nur Ermahnen, Ermuntern, nochmal geduldig Üben. Trotzdem tanzten gewisse Schülernamen und Titel durch meinen Kopf und ich überlegte, ob schon der traurige Zeitpunkt der Schadensbegrenzung gekommen sei oder ein plötzlicher Übeanfall uns noch retten könnte.

Und dann waren da noch die vielen anderen Listen, private Listen, was alles noch erledigt werden wollte vor den Feiertagen. Einkaufslisten. Backlisten. Adventsfrühstückslisten. Und irgendwann auch noch unser Hochzeitstag. Ich bin ein grosser und bekennender Weihnachtsfan, aber diese Post-Pandemie-Aktivitäten überforderten mich dieses Jahr. Deshalb tat ich auf dem Rückweg von der Arbeit das einzig Wahre, bog im Dunkeln nicht in unsere Siedlung oberhalb der Stadt ein, sondern beschloss, langsam die Serpentinen hinunter in die Altstadt zu fahren und feines vietnamesisches Essen zu holen. Es war Luxus, aber immerhin diese kleine Aufgabe würde ich heute an andere delegieren. Um den Rest musste ich mich selber kümmern, aber das Abendessen würden heute andere für uns zubereiten.

Als ich die Lichter der Staustufe auf dem Inn glitzern sah, wurde ich innerlich ruhiger. Es tat gut, von den üblichen Routinen abzuweichen. Ich war praktisch nie abends in der Altstadt. Wenn ich ganz ehrlich bin, war das Essenabholen nur ein willkommener Vorwand, um mir die Weihnachtsbeleuchtung aus der Nähe anzuschauen. Der Christbaum am Bahnhof, der erste weihnachtliche Blickfang, wenn man sich der Altstadt näherte, fiel dieses Jahr in Relation zum zur Verfügung stehenden öffentlichen Raum äusserst bescheiden, um nicht zu sagen mickrig aus, doch ab dann wurde es besser: die Gassen der Altstadt glitzerten und leuchteten im überbordenden Lichterglanz. In der Ledererzeile waren die Bäume anmutig mit Lichterketten behängt, über die Strasse zogen sich funkelnde Bänder. Die Herrengasse und die Fassade des Rathauses, die wie immer wunderhübsch mit Lichtern nachgezeichnet wurde, waren prachtvoll und erfüllten die wildesten Weihnachts-Deko-Phantasien. Ich war ausgesöhnt mit dem etwas kleinen Christbaum am Bahnhof.

Nachdem ich das Essen bestellt hatte – beschlagene Brille, der Schock, in ein lautes, helles Restaurant zu kommen nach dem stillen Weihnachtszauber draussen – beschloss ich, die Wartezeit für einen weiteren Spaziergang durch die leere Altstadt zu nutzen. Ich musst auch noch den ersten Stapel Weihnachtskarten einwerfen. Alle Geschäfte hatten geschlossen, waren aber liebevoll dekoriert. Auch wenn man sie nicht mehr betreten konnte, bekam man einen umfassenden Überblick über die angebotenen Sehnsuchtsobjekte. Und an vielen gab es noch mehr Extra – Lichterketten um die Schaufenster und Fassaden. Nach dem extremen Wintereinbruch am Wochenende war fast niemand unterwegs. Wasserburg war ein echtes Wintermärchen mit den Massen an Schnee, der wie Zuckerguss auf Lebkuchenhäusern über die Dächer, Vordächer und Laternen hing. Unsere Stadt ist unglaublich malerisch, zu jeder Jahreszeit, aber jetzt im Advent, und mit Schnee, und mit Funkellichtern, war es kaum auszuhalten. Ich merkte, wie ich mit jedem rutschigen Schritt ruhiger wurde, langsamer atmete und wunderbar ausgebremst wurde: auf dem eisigen Pflaster konnte ich nicht schnell gehen. Das Essen war erst in zwanzig Minuten fertig. Ich könnte einfach nur in Ruhe und Schönheit ganz im Hier und Jetzt sein.

Als ich vorher am Rathaus und den kleinen Hütten des Christkindlmarkts vorbeigelaufen war, hatte ich an unsere Hochzeit gedacht. Wir haben hier an einem 22. Dezember geheiratet. Ich war eine Winterbraut im dunkelgrünen Seidenkostüm mit einem Brautstrauss aus blutroter Amaryllis und Seidenkiefer. Mein liebstes Hochzeitsphoto zeigt uns, wie wir geduckt und lachend durch den Reisregen vor dem Standesamt gehen, vorbei an den kleinen Buden des Christkindlmarkts. Wer hat schon einen Weihnachtsmarkt auf dem Hochzeitsphoto? Der Termin erschien uns damals genau richtig, weil wir beide Weihnachten so mögen. Was wir nicht wirklich bedacht hatten, war, dass ein eventuell jährlich zu feiernder Hochzeitstag im Wirbel von anderen Weihnachtsfeiern eine Herausforderung werden würde. In guten Jahren sieht man uns, ich in meiner grünen Seidenjacke, bei einem Wasserburger Italiener sitzen. Wahrscheinlicher ist, dass sich der gute Gatte beim Heimkommen den Weg durch siebzehn Paar Winterstiefelchen und einen Berg Kinderjacken bahnen muss, weil der 22. auf den letzten Donnerstag vor Weihnachten fällt und da unweigerlich mein Adventskonzert ist. Es kam auch schon vor, dass an diesem Tag die Weihnachtsfeier des ambulanten OP – Zentrums, in dem der Gatte arbeitet, stattfand. Wir tafelten im umfunktionierten Aufwachraum. Die Gardinen zwischen den Betten waren zurückgeschoben und der lange Tisch phantasievoll geschmückt. Während wir mit Prosecco anstiessen und über die Koch- und Backkünste der Angestellten staunten, dachte ich, dass die Patienten vielleicht glücklicher aufwachen, wenn sie spüren, dass hier so viel gelacht und gelebt wurde.

Dieses Jahr war unser fünfzehnter Hochzeitstag, wie wir kürzlich mit Erstaunen und Erschrecken festgestellt hatten. Wie schnell das geht. Man sollte eigentlich was Besonderes machen, doch bisher war es bei dieser Feststellung geblieben. Konkrete Pläne fehlten noch. Beziehungsweise, wie immer zu dieser Zeit des Jahres – das heimische Sofa wirkte verführerischer als alle Alternativen. Aber vielleicht würden wir uns was Kleines zur Erinnerung kaufen? Wir waren nicht die Art Paar, die sich gegenseitig etwas schenkt, sondern wir kauften uns – gelegentlich, nicht jedes Jahr – was Nettes. Meistens etwas Weihnachtliches. Mein liebstes Erinnerungsstück ist ein Christbaumanhänger aus dem Nationalmuseum, ein niedliches kleines Schweinchen mit allerliebsten Hufen, dessen rosige Nacktheit durch eine Schicht weiss-goldenen Glitzer verdeckt wird. Mehr musste es nicht sein, denn, wie das so ist, wir haben alles. Und mehr als das.

Bei meinem gemächlichen Spaziergang durchs nächtliche Wasserburg war ich am Weberzipfel angekommen. Hier war mein Lieblings – Antiquitätenladen, der zu Weihnachten immer besonders schön dekoriert ist mit einem grossen Baum voller altem Christbaumschmuck. Ich würde mir kurz die Nase plattdrücken am Schaufenster, bevor ich zum Geldautomaten weiterging. Funkelndes Kristall und glänzendes Silber strahlten in dem kleinen Geschäft um die Wette, und dahinter stand der Christbaum mit Vögelchen, Fliegenpilzen und Nikolausfiguren. Was für ein heimeliger Anblick, und was für besonderer Schmuck. Wir hatten selbst mehr als genug Baumschmuck, geerbt und selbst gekauft, aber – vielleicht ein kleines Stück zum Hochzeitstag?

Am nächsten Adventssamstag betrat ich den kleinen Wunderladen und fragte nach dem Christbaumschmuck. Es stellte sich heraus, dass alles am dekorierten Baum unverkäuflich, weil sehr alt und selten war. Es hätte da eine grosse glitzernde Orangenscheibe gegeben, wie ich sie noch nie gesehen habe, aber, leider, Privatbesitz. Doch die Inhaberin zauberte mehrere Kisten mit altem Gablonzer Schmuck auf die Theke, der zum Verkauf stand. Jetzt war ich nicht das Kind im Schokoladenladen, sondern der Weihnachtsfan im siebten Himmel! Ganz vorsichtig nahm ich einzelne dünne, fragile Ornamente aus den Schachteln. Zielsicher hatte ich als erstes eine bronzefarbene lebensgrosse Walnuss ausgesucht. “Da haben Sie was ganz Seltenes entdeckt”, meinte die Inhaberin. Und in der Tat, ich bilde mir ein, so was noch nie gesehen zu haben. Dazu kam noch ein kleiner goldener Tannenzapfen, eine silberne Eichel und ein goldenes wippendes Vögelchen mit weisser Schwanzfeder, das so ganz anders aussah als die chinesische Massenproduktion: der Schnabel ist sehr individuell, und auch die Äuglein sind ganz fein herausgearbeitet. Ich schluckte kurz, als ich den Preis für die vier Teilchen hörte – dafür würde ich beim Möbelgiganten ungefähr drei prallgefüllte Kisten Christbaumkugeln bekommen. Aber es waren alte Einzelstücke, möglicherweise aus den Dreissiger Jahren. Es war ein Wunder, dass die hauchdünnen Objekte überhaupt so lange überlebt hatten. Und vielleicht ein schönes Symbol dafür, dass man sorgfältig mit seiner Ehe umgehen muss. Spontan kaufte ich noch eine zierliche Glas-Etagère, weil wir mal drüber gesprochen hatten, wie nett so was eigentlich wäre, nicht nur an Weihnachten, und schlidderte mit meinen kostbaren Einkäufen vorsichtig durch den Schneematsch nach Hause.

Im Moment liegen die drei Ornamente und zwei Mandarinen auf verschiedenen Stufen der Etagère. Der Vogel, oben an den runden Griff geklipst, wacht über die Schätze. Der minimalistische Anblick und die ruhigen Farben erfreuen mich. So zarte, feine Dinge können wir grade noch in unserem vollen Haus unterbringen.

Genau so spontan, wie ich die Etagère gekauft habe, habe ich gerade nachgeschaut, ob der 15. Hochzeitstag einen besonderen Namen hat. Es gibt doch papierene Hochzeit, oder Goldene Hochzeit… Kurz war ich erstaunt, als das Ergebnis auf meinem Bildschirm auftauchte, aber dann doch gar nicht: nach fünfzehn Jahren Ehe feiert man die Kristallhochzeit und schenkt sich Dinge aus Glas. Das ist kein Zufall. Das ist Weihnachtsmagie.